Die Geschichte von den beiden Bäumen

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Writeolm

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Die Geschichte von den beiden Bäumen
(2003, MK)

Irgendwo an einem kleinen Fluss in Südamerika ließ der Wind etwa zur gleichen Zeit zwei Samenkörner zu Boden tanzen. Eines landete am östlichen Ufer, das andere fand gegenüber seinen Platz. Beide schlugen Wurzeln, wuchsen heran, nährten sich vom üppigen und feuchten Ufer ihrer Heimat und wurden zu stattlichen Bäumen.
Nach langer Zeit trafen sich ihre Äste hoch über der Flussmitte. Zögernde Berührungen waren das zuerst; abhängig von den Launen des Windes. Bald aber konnten sie nicht mehr voneinander lassen.
Wieder vergingen viele Jahre. Ihre Äste waren inzwischen so miteinander verschlungen, dass niemand sagen konnte, wo der eine Baum anfängt und der andere aufhört. Gemeinsam boten sie den unzähligen Nestern der Vögel Halt, waren Brücke über den Fluss und schattiger Tunnel bei großer Hitze. Sie stützen sich bei Sturm, sie brachen die Fluten bei Hochwasser und gaben Sicherheit im Dunkel der Nacht.
Dann wurde einer der beiden Bäume krank, und im Grün ihrer gemeinsamen Baumkrone sah man einige braune Blätter. Nur wenige am Anfang, doch es wurden schnell mehr.
Der nächste Sturm wehte sie weg, und kurze Zeit war alles wie vorher. Dann begann es wieder. Diesmal ging es schneller. Bald sah man mehr braune als grüne Blätter und erste Äste brachen ab. Die Kraft ließ nach und auch der Halt der mächtigen Wurzeln. Der gesunde Baum erkannte die Gefahr, verdoppelte seine Anstrengungen und hatte doch nur begrenzte Kräfte.
In einer Nacht, bei Sturm und Regen, weichte der Fluss die Uferböschung auf und riss die schwachen und spröden Wurzeln des kranken Baumes weg. Für einen Augenblick tanzte der seiner Standfestigkeit beraubte Koloss an den Ästen seines Gefährten, fast so, als wollten sie voneinander Abschied nehmen. Dann fiel er zu Boden.
Als es hell wurde, sah man den verbliebenen Baum erschöpft vom Kampf um den Partner. Ganze Äste fehlten, die Borke des Stammes war zerschunden und verletzt. Tränen gleich lief Harz herab, und von der vollen Krone gestern war nur noch die Hälfte da.
Schon fing auch er an, sich zu neigen, der Halt fehlte und niemand konnte ihm welchen geben.
Bald lagen beide nebeneinander im kleinen Fluss in Südamerika.
Der Wind aber ließ ihre Samen tanzen. Sie stiegen höher und höher, bis sie irgendwo…
 
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molly

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Hallo Writeolm,

Für mich ist das keine Kindergeschichte. Ich denke, Du bist hier einfach im falschen Tread.
Mit Gruß
molly
 

Writeolm

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Hallo Molly,

ich sehe das anders. Im Sachkundeunterricht der Grundschulen 3. bis 5. Klassen werden Bäume als zentrale Lebensform behandelt. Meine Geschichte könnte für Eltern und Lehrer ein thematischer Einstieg sein. Ich sehe sie als Angebot in einer Zeit, wo alternative Unterrichtsformen wichtiger sind als je zuvor.
Gespräche über ethische Sachverhalte (gegenseitiger Beistand, Freundschaften, Liebe, Entstehen und Vergehen usw.) sind aus meiner Sicht ebenso möglich wie das Hinführen zum großen Thema Umwelt. Eine kleine Geschichte, die vielfältige Gespräche möglichen machen kann.

Gruß
Writeolm

Die wahre Kunst des Sehens braucht weder Brillenglas noch Licht.
 

rainer Genuss

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Hallo Writeolm,
schön von Dir zu lesen.
Diese Parabel wirkt, so hoffe ich auf Leser jeden Alters.
Ich finde sie schlicht und ergreifend formuliert. Gut gemacht!
Sie berührte mich ebenso passend in einem Zeitfenster: heute nachmittag las ich eine Todesanzeige. Der Mann starb am 20.4 und seine Frau einen Tag später.
Meine Begeisterung hast Du geweckt.
LG Rainer
(Guerilliagärtner)
 



 
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