Die Geschichte von der kleinen Idee

Eva

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Die kleine Idee in Bernhards Kopf will sich eines Tages verwirklichen. Um das zu erreichen, muss sie wachsen und herausfinden, was in ihr steckt.
Viele Schwierigkeiten behindern ihren Weg, aber die kleine Idee findet eine Verbündete in der Wirklichkeit ...

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Wer diese Geschichte lesen möchte, sollte ein wenig Muße haben, denn sie umfaßt 39 Seiten (1 1/2-zeilig).
Ich würde mich sehr freuen zu erfahren, ob ihr meint, dass die Geschichte es Wert ist, bis zu Ende gelesen zu werden oder ob ihr sie vorzeitig beiseite gelegt habt, ob es Unschlüssigkeiten darin gibt, ob der Schreibstil gut lesbar ist oder ob die Story an sich überhaupt jemanden zum Lesen verleiten kann.
Für alle konstruktive Kritik bedanke ich mich im Voraus.

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Wenn man traurig ist, braucht man Aufmunterung.
Wenn man gelangweilt ist, braucht man Abwechslung.
Wenn man ärgerlich ist, braucht man Aufheiterung.

Wenn man weg will, braucht man etwas, wohin man für eine Weile verschwinden kann.


Komm! Wenn du willst, erzähle ich dir eine Geschichte ...


Die Geschichte von der kleinen Idee

1. Luisenstraße Nr. 19
Die Wintersonne war müde. Sie warf letzte Strahlen auf den Hof des alten Mietshauses mit der Hausnummer 19 und legte sich erschöpft hinter den Schornsteinen der Papierfabrik zur Ruhe.
Im Schutz der Dämmerung schoben sich graue, schneebeladene Wolken heran. Es dauerte nicht lange und der Wind gesellte sich zu ihnen. Er zauste und rüttelte so lange an ihnen, bis ihre prall gefüllten Bäuche aufrissen und unzählige Flocken in wildem Tanz hinaus stoben. Kreuz und quer fegte der Nordwind sie durch die kalte Winterluft.
„Ritsch!“ „Ratsch!“ – die Rollläden an den Fenstern des Hauses sausten einer nach dem anderen nach unten, um Wind und Kälte abzuhalten.
Ein später Spaziergänger hätte meinen können, es sei nirgends jemand zuhause, wenn nicht das Fenster im zweiten Stock gewesen wäre, aus dem noch immer ein warmer Lichtschein drang. Die Gardine war beiseite geschoben und wer genau hinsah, konnte den Kopf eines älteren Mannes erkennen, der in einem Sessel saß, und dem eine Lesebrille langsam von der Nase rutschte.

„Bist du schon wieder eingenickt, Bernhard?“ Seine Frau stupste ihn gut gelaunt an.
„Ich ... , nein ... ich, das sieht nur so aus. Ich glaub, ich hatte gerade eine kleine ..... was? Was sagst du? Der Kaffee ist fertig? Hm, dieser Duft! Ist noch Mohnkuchen da? Wunderbar!“ Er stand auf und streckte sich. Seine Frau wuselte noch eine Runde durch die geräumige Wohnküche, brachte Sahne und Zucker und zündete den Rest der dicken Weihnachtskerze an. Endlich ließen sich beide am Küchentisch nieder, um gemütlich miteinander zu vespern. Vom Beistellherd in der Ecke strömte eine wohlige Wärme. Die letzten vertrockneten Kiefernzweige des Adventskranzes knisterten im Feuer. Im Radio dudelten leise Wunschmelodien.

Monika nahm einen Schluck Kaffee und schaute unauffällig über den Rand der Tasse in das Gesicht ihres Mannes. An den Weihnachtsfeiertagen war die Sorgenfalte auf seiner Stirn kleiner gewesen. Sie hatten ein so schönes Fest verlebt. Die Kinder, die Enkel – alle waren gekommen. Jetzt, so schien es ihr, begann diese Furche wieder zu wachsen, und es waren nicht mehr genug Haare da, mit denen er dieses untrügliche Zeichen von Unzufriedenheit verstecken konnte.
Seit dem letzten Herbst war ihr Mann nicht mehr Bernhard, der Busfahrer, sondern Bernhard, der ehemalige Busfahrer. Bernhard, der Rentner. Zwar hatten sich beide auf ihr beschauliches Rentnerdasein gefreut, doch es gestaltete sich schwieriger, als sie es erwartet hatten.
Monika kannte keine Langeweile. Immer wieder fand sie eine Ecke, die noch geputzt, ein Paar Socken, das noch gewaschen, ein Rezept, das noch ausprobiert werden musste. Wenn eine Stunde übrig war, verbrachte sie diese mit ihrer Nachbarin Liesbeth, ging zur Seniorensportgruppe oder sie holte ihre kleine spezielle Freundin, die Häkelnadel, hervor und ließ sie durch unzählige Garnknäuel tanzen. In der ganzen Straße war sie bekannt für ihre phantasievollen Topflappen.

Aber Bernhard ... Ihm fiel es schwer, sich mit der neuen Lage anzufreunden. Früh länger zu schlafen, das war in Ordnung. Auch das Mittagschläfchen wollte er nicht mehr missen. Trotzdem fehlte etwas. Er wusste nicht was, und das machte ihn unzufrieden.
Er mühte sich redlich, den Mohnkuchen zu genießen, aber schon nach einem halben Stück war er satt. Mit verständnisvollem Blick schaufelte sich seine Frau den Rest auf ihren Teller und verputzte ihn mit gutem Appetit. „Das wird schon, wirst sehen ...“, munterte sie ihn auf und machte sich kurz darauf am Spülbecken zu schaffen.

Bernhard fühlte sich seltsam als er aufstand und wieder zu seinem Lieblingsplatz, dem alten Armlehnsessel ging. Alles um ihn herum war ihm lieb und so vertraut: seine kleine, mollige Frau mit den fröhlichen Augen, die Wohnung, die sie sich gemeinsam ausgesucht und eingerichtet hatten, seine bequeme Cordhose mit den Hosenträgern aus Leder und sein gemütlicher Platz am Fenster, von dem aus er bei jedem Wetter gern nach draußen sah.
Warum also war er nicht zufrieden? Er ließ sich auf dem Sessel nieder, rückte die Fußbank zurecht und seufzte leise. Oh, der Winter würde noch lang werden. Sein Blick wanderte über die Alpenveilchen auf dem Fensterbrett und verlor sich im Flockenwirbel. „Vielleicht sollte ich die Schneeflocken zählen.“ Er versuchte sich selbst aufzuheitern und begann spaßeshalber zu probieren, wie weit er es schaffen würde. Bald verschwammen die weißen Kristalle vor seinen Augen, die Lider wurden schwer, sein Kopf rutschte zur Seite und ... da war es wieder! Genau wie vorhin, als er eingenickt war.
Was war das nur? Irgend etwas geschah in seinem Kopf. Etwas Winziges entstand, etwas, was vorher nicht da gewesen war. Er hatte es ganz deutlich gespürt!
„Pscht!“, rief er in Richtung Abwaschbecken. „Moni! Hör mal einen Moment mit dem Geklapper auf! Ich glaub, mir ist gerade etwas eingefallen ... eine Idee! Die ist mir vorhin schon entwischt, als du mich zum Kaffe gerufen hast.“
„Was sagst du, Bernhard? Ich hab dich nicht verstanden, das Geschirr hat so laut ...“
„Hach! Leise solltest du sein! Jetzt ist sie wieder weg.“
„Wer ist weg?“ Seine Frau schaute sich fragend um.
„Nichts, nichts. Ich hab’ kurz geglaubt, ich hätte eine Idee gehabt ... eine richtig gute.“
„Oho!“, rief Monika in gespielter Ehrfurcht und warf ihm das Geschirrtuch in den Schoß. „Mein Mann hat eine Idee gehabt! – Na, wenn sie gut war, wird sie schon wiederkommen.“ Und als wäre nichts gewesen, leckte sie ihren Zeigefinger an und begann damit die letzten Krümel vom Küchentisch zu naschen.

2. Willkommen
„Sei herzlich willkommen!“, raunte es leise im hintersten Winkel von Bernhards Kopf, dort, wo das Bewusstsein keinen Zugang hat. „Du hast lange geschlummert, kleines Idee-chen. Ich freue mich so, dass du endlich erwacht bist.“
„Wer bist du?“, fragte die winzig keine Idee zaghaft und blickte sich ängstlich um.
„Ich bin eine ausgereifte Idee. Ich kenne mich hier aus, deshalb werde ich mich in der nächsten Zeit um dich kümmern, dir alles zeigen und dich bekannt machen. Ich bin deine Patin.“ Nach ein paar Sekunden fügte sie hinzu: „Seit Monaten schmore ich in Bernhards Kopf, ich bin schon überreif. Weißt du, ich bin die Idee ‚ein- Überraschungs-Essen-für Monika-zubereiten’, aber er hat es bisher nicht fertig gebracht, mich zu verwirklichen. Deshalb bin ich noch da.“
„Wie gut für mich“, wisperte die kleine Idee und schaute ihre Patin bewundernd an. „Ob ich auch jemals so groß werde wie du?“
„Warum nicht?“, antwortete diese. „Schließlich hast du ganz passable Eltern. Dein Vater war ein Geistesblitz! Die gibt es nicht sehr häufig.“
„Oh!“, staunte die kleine Idee und fragte weiter: „Und meine Mutter?“
„Die war ...“, die Patin überlegte, „wie soll ich es dir beschreiben ... das ganze Gegenteil von deinem Vater. Es hat mich immer gewundert, warum er gerade sie gewollt hat.“
„Wie war sie? Sag schon!“, drängelte die kleine Idee.
„Nun, sie war ruhig, unheimlich klug, sehr durchdacht, sie war die ‚Besonnene Überlegung’. Aus dir sollte schon etwas werden, meine Kleine, – bei diesen Eltern.“
„Hoffentlich erwartet ihr nicht zu viel von mir. Ich habe keine Ahnung, was ich tun muss, um groß zu werden.“
„Wir erwarten gar nichts von dir, Kleines. Der Einzige, dem du gefallen solltest, wenn du dich verwirklichen willst, ist Bernhard.“
„Wer ist das schon wieder?“ Unsicher schaute die kleine Idee umher, konnte aber niemanden entdecken.
„Bernhard ist dein Mensch, in seinem Kopf sind wir alle zuhause. Du musst noch viel lernen, Idee-chen, und das braucht seine Zeit. Erst einmal bist du erwacht. Das ist das Wichtigste. Von nun an wirst du wachsen. Wenn du tüchtig lernst und fleißig bist, kannst du dich eines Tages verwirklichen.“
„Was heißt das ‚sich verwirklichen’? Wohin führt dieser lange Gang? Was ist hinter all den Türen? Wie ...?“
„Du bist zwar so winzig wie ein Staubkorn, aber Fragen hast du schon wie eine großartige Idee. Komm, wir machen einen kleinen Spaziergang. Dabei wirst du eine Menge erfahren.“

Die kleine Idee sprang aus der Wiege, in der sie geschlummert hatte, die ausgereifte Idee nahm sie bei der Hand und gemeinsam betraten sie den langen Gang, von dem unzählige Nebengänge abzweigten. „Wie soll ich mich jemals hier zurecht finden?“, fragte die kleine Idee zaghaft und blieb stehen.
„Lass dich nicht verwirren von den vielen Möglichkeiten, die du hast. Es ist unmöglich, sich hier wirklich auszukennen. Aber du kannst darauf vertrauen, dass du immer den richtigen Weg finden wirst. Du wirst es fühlen.“

3. Auf Erkundungstour
Die kleine Idee machte ein paar zaghafte Schritte, dann fasste sie Vertrauen und marschierte los. Bald bemerkte sie, dass an den Wänden Bilder in allen erdenklichen Formen und Farben erschienen. Bilder, so zart wie Schleier, die sogleich verschwanden, sobald sie nicht mehr ganz genau hinsah.
„Was ist das?“, fragte die kleine Idee mit großen Augen.
„Das, mein Idee-chen, sind die Erinnerungen an die verwirklichten Ideen. Jede von ihnen hat hier gewohnt. Manche sehr lange Zeit, manche nur einen Augenblick. Aber sie alle sind es wert, dass man von Zeit zu Zeit an sie denkt.“
„Und was bedeutet nun ‚sich verwirklichen’? Was geschieht, wenn man sich verwirklicht?“
„Ja, weißt du‚ verwirklicht zu werden’ ist das, wofür wir Ideen geboren werden und wofür wir leben. Es ist unser Ziel, unsere Bestimmung.“ Nach ein paar Sekunden fügte sie hinzu: „Es ist unser aller, aller größter Wunsch.“ Sie vergoss heimlich eine Träne darüber, dass sie dieses Ziel immer noch nicht erreicht hatte, dann holte sie energisch Luft und erklärte weiter: „Also, mein Kindchen, wenn es soweit ist, wirst du von hier verschwinden. Schau nicht so ängstlich, das wird ein Grund zur Freude sein! Du kannst Wirklichkeit werden, du wirst sichtbar werden, fassbar, du wirst am Leben teilnehmen und nicht mehr im Kopf versteckt sein.“
„Ach, im Moment fühl ich mich hier ganz wohl“, warf die kleine Idee schüchtern ein.
„Das glaube ich dir. Doch du wirst nicht ewig damit zufrieden sein, du wirst wachsen, dich mächtig anstrengen, größer werden und dann ... eines Tages ... wirst du Wirklichkeit!“
„Tatsächlich? So wie diese Idee hier?“, fragte die kleine Idee und blickte gebannt auf ein herzförmiges, schleierhaftes Bild, auf dem ein strahlendes Brautpaar zu sehen war. „Ja, so ungefähr, je nach dem, was in dir steckt. Dies hier war Bernhards beste Idee im Leben. Er hat seine Monika geheiratet. Und sieh mal dort! Eine hervorragende Idee – er ist Busfahrer geworden. Diese Idee ist schon in ihm erwacht, als er noch ein kleiner Junge war.“
„Und hier! Was soll das sein?“, die kleine Idee rätselte und hielt den Kopf schief, aber aus jedem Blickwinkel war nur das reine Chaos zu sehen. „Oh! Das war eine schlechte Idee. Bernhard hat im letzten Sommer mit seinem Schwiegersohn ein Grillwurst-Wettessen veranstaltet, weil er beweisen wollte, dass er es immer noch mit einem jungen Kerl aufnehmen kann. Seine Innereien waren mächtig sauer auf ihn, und deshalb ging es ihm am nächsten Tag schlecht, so unheimlich schlecht, dass noch heute die Erinnerung daran das reinste Grauen ist.“
„Gibt es noch mehr solche schlechten Ideen?“, fragte mitfühlend die kleine Idee.
„Zum Glück nicht sehr viele. Du brauchst dir auch nicht alle anzuschauen. Es sind keine guten Vorbilder für dich.“

Der Gang machte eine Biegung nach links und die kleine Idee wurde immer neugieriger. „Was ist hinter den vielen Türen?“
„Ach, wenn ich das alles wüsste ... So ein Menschenkopf hat unzählige Bewohner. Nur in manchen Bereichen kenne ich mich aus. Hier zum Beispiel.“ Sie öffnete leise eine Tür und eine riesige, runde Halle tat sich vor ihnen auf. Pastellfarbene Wände strebten hinauf zu einer lichtdurchfluteten Kuppel, Glücksfäden durchwebten den Raum. „Hier leben die Wünsche und die Träume, mein Kind. Hier wurdest du geboren.“
„Oh! Wie wunderschön! Aber ich ...“ Die kleine Idee wunderte sich, dass ihr dieser Raum völlig fremd war. „Das erste, woran ich mich erinnern kann, ist das Kämmerchen, in dem du bei mir warst. Wie kommt das?“
„Schau einmal genau hin“, sagte die Patin.
Die kleine Idee erkannte zwischen all den wogenden Wünschen und tanzenden Träumen lauter kleine Wiegen, die auf Rädern gemächlich und scheinbar ziellos durch den Raum fuhren. Plötzlich blitzte in der Luft ein Fünkchen auf und fiel in eine der Wiegen. Sofort begann diese sich zu drehen, steuerte gezielt einen Tunnel auf der anderen Seite des Raumes an und verschwand im Labyrinth von Bernhards Kopf.
„Hast du das gesehen? Gerade ist eine neue Idee geboren! Wie schön!“ Die Patin freute sich und strich der kleinen Idee über den Kopf. „Sie schlummert nun in ihrem Kämmerchen und irgendwann wird sie erwachen, so wie du vorhin. Vielleicht werdet ihr Freunde. Aber komm, wir wollen weiter gehen.“

Sie liefen eine Weile und warfen hier und da einen Blick durch die Türen, die den Gang säumten. Die kleine Idee staunte immer wieder auf’s Neue. Was in einen Menschenkopf alles hinein passte, war kaum zu glauben. Da gab es den Saal der Erfahrungen, den Park, in dem die Gedanken spazieren gingen, sie sahen die Freudenhalle und das Verließ, in dem die Angst lebte.
„Warum hat sie nichts an?“, fragte schaudernd die kleine Idee. „Es ist die nackte Angst“, flüsterte die Patin und zog ihren Schützling schnell weiter.
Ständig begegneten ihnen andere Ideen. Wie Irrlichter schwirrten sie umher, grüßten, kicherten und schon waren sie wieder in der Tiefe des Kopfes verschwunden. Aber nicht alle waren so freundlich. Teilnahmslos, ohne aufzuschauen kreuzte ein seltsames Geschöpf ihren Weg. Die kleine Idee wunderte sich und fragte ihre Patin. „Was ist das für ein eigenartiges Wesen?“ Die Patin erwiderte: „Vergiss es! Es ist nur eine vorübergehende Laune.“

Plötzlich wurde es still, unheimlich still. Die kleine Idee blieb stehen und lauschte, aber mit der Stille näherte sich nur eisige Kälte. Ein dunkler Schatten bewegte sich auf sie zu. Ängstlich schmiegte sich die kleine Idee an ihre Patin, die beschützend ihren Arm um sie legte. Im schwarzen, wallenden Gewand kam würdevoll die Trauer angeschritten und bog vor ihnen in eine Gruft ab. „Keine Angst, Idee-chen“, flüsterte die Patin. Die Trauer wird dir heute nichts anhaben. Wo will sie nur hin? Ach, natürlich, heute morgen ist eine Idee gestorben. Komm, lass uns nachsehen, wo sie begraben wird.“
Die kleine Idee folgte ihr zaghaft, und als sie die Trauer so mächtig und groß vor sich sah, wurde ihr das Herz ganz schwer und sie begann zu weinen.
„Tröste dich, mein Kind“, sagte liebevoll die Patin und wischte ihr die Tränen ab. „Es war nur eine Schnapsidee, die werden sowieso nicht alt. Sie hätte wohl möglich großen Schaden in der Wirklichkeit angerichtet. Glaub mir, es ist besser so.“
Die kleine Idee brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen. Dann fasste sie die Hand ihrer Patin und lief weiter.
Wie ein warmer Strom durchflutete auf einmal die Hoffnung den Gang und tauchte ihn in rosiges Licht. „Schnell!“, rief die Patin. „Stell dich mitten hinein. Das wird dir gut tun.“ Sie selbst breitete die Arme aus und ließ sich von der Hoffnung durchströmen. „Lauf nicht gleich weiter, kleine Idee. Wo die Hoffnung ist, ist auch die Freude nicht weit. Ich würde sie gern noch treffen.“
Obwohl die Begegnung mit der Freude wunderschön war, wurde die kleine Idee langsam müde. Was hatte sie heute alles schon gesehen und erlebt! Die Patin führte sie zurück zu ihrem Kämmerchen, und die kleine Idee hatte nichts anderes im Sinn, als schnell wieder in ihre Wiege zu klettern. Doch was war das? Sie passte nicht mehr hinein. Fragend schaute sie ihre Patin an, die lächelte und sagte: „Da staunst du, nicht wahr? Schau dich an, du bist schon ein Stückchen gewachsen. Du darfst nun nicht mehr so fest einschlafen, sonst wird nichts aus dir. Aber ausruhen darfst du dich. Schließlich kannst du nicht pausenlos wachsen.“


4. Im Hinterhof
Als Monika am nächsten Morgen den Kaffee kochte, hörte sie ihren Mann bereits im Bad hantieren. „Nanu“, sagte sie erstaunt, “bist du schon auf? Ohne, dass ich dich dreimal rufen muss? Du bist wohl heut zur Abwechslung mit dem rechten Bein aus dem Bett gekommen.“
„Keine Ahnung, ich hab seit langem wieder einmal durchgeschlafen. Ich glaube, ich mach heute nach dem Frühstück einen kleinen Rundgang durch den Garten. War lange nicht mehr dort unten.“
Monika verbarg ihre Verwunderung über dieses Vorhaben, denn allein der Weg durch den verschneiten Hof war beschwerlich. Dahinter, im Garten, lagen ganze Berge von Schnee. Aber egal, sie war froh, dass ihr Bernhard den Tag nicht wie sonst damit verbrachte, auf den Abend zu warten.
Nachdem er sich mit einem Pflaumenmusbrötchen gestärkt hatte, suchte er seine alten Filzstiefel heraus und machte sich leise summend auf den Weg nach draußen. An der Hintertür stand ein Schneeschieber, den griff er gedankenverloren und fing an, einen ordentlichen Gang im Hof freizuschaufeln. Ohne es richtig zu bemerken, begann er ein Selbstgespräch: „Was surrt mir nur laufend im Kopf herum? Ich bekomme Lust, etwas zu tun. Das fühlt sich gut an. Ich weiß nur nicht genau, was es ist.“
„Ich bin’s, die kleine Idee“, flüsterte die kleine Idee in seinem Kopf. Bernhard hielt verwundert mit dem Schaufeln inne und bohrte sich mit seinem Finger im Ohr. „Was soll das jetzt? Geht das schon mit Ohrgeräuschen los?“ Er stöhnte. „Ich bin alt, was soll’s. Es lässt sich nicht leugnen.“
„Nein, nein! Hör doch mal genau in dich hinein! Ich bin die kleine Idee, die in dir geboren ist.“
„Was für eine ...?“
„Das weiß ich selbst noch nicht. Ich bin noch klein. Aber ich will wachsen und größer werden und wenn ich erkannt habe, was in mir steckt, dann will ich alles tun, um mich zu verwirklichen. Das ist mein größter Wunsch! Und das sollte auch dein größter Wunsch sein. Schließlich bin ich ‚deine kleine Idee’.“
„Papperlapapp! Was soll das? Spielt mir mein Kopf einen Streich? Ich hab genug Ideen gehabt in meinem Leben. Das ist etwas für junge Leute. Falls du tatsächlich da bist, kleine Idee, dann such dir schnell einen anderen, dem du den Kopf verdrehen kannst. Ich bin Rentner, das ist nichts mehr für mich.“



5. Enttäuschung
Erschrocken über soviel Unfreundlichkeit zog sich die kleine Idee tief ins Unbewußte zurück. „Warum wurde ich eigentlich geboren, wenn ich gar nicht erwünscht bin?“, jammerte sie und fühlte sich so unglücklich wie noch nie. Sie erinnerte sich an die Halle der Wünsche und Träume und daran, wie wunderschön dort alles gewesen war: die zarten Farben, das goldene Licht, die schwebenden Glücksfäden, die alles umhüllten. „Dorthin gehe ich zurück!“, sagte sie zu sich selbst. „Es ist wohl leichter ein Traum zu sein, als eine kleine Idee.“
Sie machte sich auf den Weg. Als sie aber so allein den langen Gang entlang schritt, konnte sie es nicht lassen, nach den Bildern mit den verwirklichten Ideen Ausschau zu halten. Sobald sie genau hin sah, erschienen sie wieder. Neugier erwachte in ihr. Was war ihr Bernhard eigentlich für ein Mensch? Sie blickte gespannt auf die Wand. Hier hatte er als kleiner Junge seiner Mutter einen Margaritenstrauß zum Muttertag gepflückt. Dort baute er aus zwei alten, kaputten Fahrrädern ein funktionierendes Jungenrad mit Rückspiegel und Tachometer. Da drüben war er als junger Kerl zweihundert Kilometer getrampt, um seine Brieffreundin Monika zu besuchen. Er hatte Schlittschuhlaufen gelernt und Briefmarken gesammelt, war später um die halbe Welt geflogen, um einmal auf der chinesischen Mauer zu stehen und er hatte sich den kleinen Garten angeschafft.
Bild für Bild sah sie sich an. Wie viele Ideen hatte er schon gehabt und auch verwirklicht. Die kleine Idee staunte. Kein Wunder, dass er meinte, er hätte genug von allem.
„Schade eigentlich“, sagte sie zu sich. „Wer weiß, was in mir steckt. Aber ich werde es wohl nie erfahren, gleich bin ich da, hier ist es schon ...“
„Was fällt dir ein, Idee-chen?“, hörte sie plötzlich die aufgeregte Stimme ihrer Patin hinter sich. „So alleine hier herumzuwandeln!“ Dann sah sie die Tür zur Halle der Wünsche und Träume. „Du wolltest doch nicht etwa...“
„Er will mich nicht! Ich werde niemals groß, wenn er mich nicht will!“, schluchzte die kleine Idee. „Dann werde ich lieber wieder ein Traum.“
„Was redest du für wirres Zeug! Hast du gar kein Vertrauen zu dir? Wie kannst du aufgeben, wo du nicht einmal richtig begonnen hast zu leben. Sei beharrlich, mein Kind. Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann. Ich habe ihn von einer uralten Ideen bekommen. Die wusste, wovon sie sprach. Lass dich nicht beirren auf deinem Weg. Sei standhaft! Und gib auch dem alten Dickschädel eine Chance. Ihr müsst euch erst einmal besser kennen lernen, dann wird er dich mögen. Sei brav und vertreib dir derweil die Zeit im Park, wo die Gedanken spazieren gehen.“

6. Eine gewöhnliche Idee
„Ich weiß genau, dass du noch da bist, du kleine Idee, du!“, brummelte Bernhard und lockerte seinen Schal, weil ihm vom Schneeschippen warm geworden war. Er war vor seinem Gartentor angelangt und versuchte mit Mühe, das Türchen zu öffnen. „Warum bin ich nicht längst hier draußen gewesen“, dachte er bei sich, „es wird Zeit, dass ich mich wieder mit ein paar Dingen beschäftige.“
Eine Kohlmeise schielte von der Dachrinne des angrenzenden Schuppens zu ihm hinab. „Na? Hast du Hunger? Kein Wunder, bei diesem strengen Winter. Wenn ich mich recht besinne, steht im Schuppen noch ein altes Vogelhaus. Vielleicht kann ich es reparieren. Hier, neben dem Brombeerbüschen, hätte es einen schönen Platz. Das wäre ein vortreffliches Wirtshaus für dich und deine Freunde, nicht wahr?“

Die kleine Idee staunte: „Sieh mal an, ich bin noch nicht einmal richtig ausgewachsen, da hat er schon andere Ideen.“ Sie schlenderte zwischen den hin- und her huschenden Gedanken einen schmalen Parkweg entlang, da hörte sie hinter sich jemanden heransausen. „Platz da! Ich will vorbei! Ich muss mich beeilen! Ich werde gerade verwirklicht! Juchu!“
Die kleine Idee trat ein Stück beiseite und erkannte „die Idee ein Vogelhäuschen aufzustellen“.
„Meine Güte! Das geht aber schnell bei dir. Du bist doch vorhin erst geboren! Wir könnten doch Freunde werden! Nimm mich mit, ich will mich auch ver...“
„Das geht nicht, ich bin eine gewöhnliche Idee“, rief sie im Vorbei-Eilen. „Wir sind immer schnell fertig. Du musst noch reifen und wachsen, du bist eine besondere Idee – die dauern etwas länger.“
Sie schlüpfte aus Bernhards Kopf hinaus - hinein in seine Arme und Beine ... und Bernhard werkelte mit Säge, Hammer und Nägeln so lange an dem Vogelhäuschen, bis es stabil war.
Die kleine Idee war sprachlos. Als sie sich wieder gefasst hatte, eilte sie zum langen Gang und ... tatsächlich! Hier war vorhin noch ein Platz frei gewesen. Jetzt konnte sie das schleierhafte Bild des Vogelhauses erkennen, das bereits viele hungrige Gäste hatte.
„Donnerwetter! Es funktioniert!“, stellte sie beeindruckt fest.

Bernhard freute sich über sich selbst. „Was für eine gute Idee, das Vogelhaus heraus zu holen“, sagte er bei sich und hielt inne. „Na sieh mal an, hab’ ich doch eine Idee in die Tat umgesetzt. Wer weiß, vielleicht sollte ich einfach mehr auf meine innere Stimme hören.“
Er wunderte sich: einerseits hatte er vorgehabt, nichts Neues zu beginnen, weil er ein Rentner war und Rentner waren alt. Andererseits hatte er sich gerade sehr wohl gefühlt. „Ich kann’s nicht leugnen“, flüsterte er , „diese neue, kleine Idee, die in meinem Kopf herumspukt, stimmt mich froh, obwohl ich sie noch nicht einmal richtig kenne. Ich muss ihr genügend Raum in meinem Kopf geben. Vielleicht wächst sie noch ein Stück.“
Gut gelaunt stapfte er ins Haus und überraschte seine Monika gleich darauf mit einer Mini-Kuß-Idee.

7. Reisepläne
Am nächsten Morgen war alles wie früher. Bernhard war nicht aus dem Bett zu kriegen. Seine Frau rief schon zum wiederholten Mal und als er immer noch nicht aufstand, marschierte sie kurz entschlossen ins Schlafzimmer und zog an seiner Bettdecke.
„Bitte Monilein“, krächzte Bernhard. „Koch mir einen Salbeitee. Ich habe solche Halsschmerzen, alle Glieder tun mir weh. Vielleicht hab ich mich gestern übernommen. In meinem Alter sollte ich vielleicht doch nicht mehr ...“
„Ach was!“, rief Monika. „Sei kein Waschlappen! Du hast dich erkältet, das ist alles. Vielleicht hast du dich nebenan beim Willi angesteckt, der hustet schon eine ganze Woche. Bleib ein, zwei Tage im Bett. Ich koch dir Tee und Hühnerbrühe und du schläfst dich ordentlich aus. Wirst sehen, ruck-zuck, geht es dir wieder gut.“

Die kleine Idee merkte, dass Bernhard vollkommen mit sich und seiner Krankheit beschäftigt war. Sie sorgte sich, dass sie deshalb vielleicht in die Schlucht der Vergessenheit stürzen könnte und wurde mutlos. „Aus mir kann ja nichts werden,“, schimpfte sie, „wenn ständig etwas dazwischen kommt.“
Gleich war ihre Patin zur Stelle und erinnerte sie an die guten Vorsätze: „Was habe ich dir erklärt? Wie sollst du sein? Was darfst du nicht vergessen?“
Die kleine Idee kramte in ihrer Erinnerung und antwortete beschämt: „Ich soll beharrlich sein, hast du gesagt und ausdauernd und nicht aufgeben. Aber - wie macht man das?“
„Vergiss nicht, deinen Kopf zu gebrauchen. Denk nach! Wenn du im Moment hier nichts tun kannst, dann nutze deine Zeit anderswo. Vielleicht willst du einen kleinen Abstecher in die Wirklichkeit machen. Dort kannst du dich umsehen und Kräfte sammeln. Es gibt einige geheime Wege nach draußen. Finde den, der zu dir passt! Und nun, mein Kind, werde ich mich darum kümmern, selbst größer zu werden. Ich halte es kaum noch hier aus.“

Die kleine Idee brauchte eine Weile, um Mut zu fassen. Sie konnte sich einfach nicht entschließen. Sollte sie lieber abwarten? Vielleicht entwickelte sie sich von ganz alleine. Oder sollte sie wieder ein Traum werden? Wie bequem wäre das! Dann kamen ihr wieder die Schleierbilder in den Sinn, und in ihr wuchs der Wunsch, eines Tages auch so ein Bild auszufüllen. Wie würde es aussehen? Wenn sie aufgab, würde sie es nie erfahren. Sie gab sich einen Ruck und beschloss, den Erkundungsgang durch Bernhards Oberstübchen auszudehnen bis in weite, unbekannte Gebiete. Sie durchquerte seltsame Gebilde, besuchte das Lang- und das Kurzzeitgedächtnis, machte hinter dem Augapfel eine kurze Pause und kam endlich zur Stirnhöhle. Hier war es eng und ungemütlich, weil sich der Schnupfen eingenistet hatte. Sie sah sich suchend um und wollte gerade jemanden nach dem Weg nach draußen fragen – da begann plötzlich alles um sie herum zu beben, und ehe sie wusste wie ihr geschah, wurde sie durch eine mächtige Explosion mit tausenden Bazillen nach draußen geschleudert.
„Huch! Das ist aber nicht die angenehmste Art zu reisen“, stellte sie verdattert fest.

„Gesundheit!“, rief Monika aus der Küche.
„’Wohlsein!’ heißt das“, krächzte ihr Mann unter der Bettdecke hervor. Aber Monika ließ sich nicht beeindrucken. „Dir scheint es schon besser zu gehen, wenn du widersprechen kannst. Komm an den Tisch, die Suppe ist fertig.“
„Wie denkst du dir das bloß“, stöhnte Bernhard. „So, wie ich mich fühle, werde ich einen Monat nicht aufstehen können. Bring mir doch die Suppe ans Bett.“ Monika ließ sich erweichen, schmunzelte und brachte auch ihren eigenen Teller mit.

8. In der Wirklichkeit
Die kleine Idee schwirrte wie ein Staubkörnchen im Licht herum und begann, sich in der ganzen Wohnung umzusehen. Hier also lebte ihr Bernhard. Hier würde sie sich vielleicht einmal verwirklichen. Wer weiß ... Gar zu gern hätte sie gewusst, was sie einmal werden würde. Vielleicht würde sie eine Spielecke für die Enkelkinder werden. Aber nein! Da war schon ein Kindertischchen am Fenster, eine Kiste mit Spielzeug stand daneben. Der Schub war voller Stifte und Malbücher. Vielleicht würde sie ein neues Rezept für einen Sonntagskuchen werden. Aber das war sicher eine von Monikas Ideen. Ob sie vielleicht ... ach nein, die Briefmarkensammlung gab es schon und auch ein kleines Modellflugzeug stand startklar in einer Vitrine.
Ein großer Schrank war von unten bis oben mit Büchern gefüllt. Das sah ungeheuer interessant aus! Kein Buchrücken glich dem anderen. Einige waren dick, andere dünn. Viele waren bunt, einer sogar goldfarben. Auf dem Schreibtisch daneben lag ein kleines, aufgeschlagene Büchlein, ein Gedichtband. Die kleine Idee las ein paar Zeilen und war ganz entzückt von den Worten, die so klug und wohlgefällig aneinander gereiht waren. Hier war die Poesie mit hineingeschlüpft. Ein eleganter Kugelschreiber lag in der geschnitzten Holzschale und die blütenweißen Blätter daneben warteten darauf, gefüllt zu werden.

Die kleine Idee schwirrte hoffnungsvoll von einer Ecke zur anderen, durch jedes Zimmer und in jeden Winkel. Wie war das interessant hier! Sie entdeckte Dinge, die sie aus Bernhard Kopf kannte. Dort waren sie als Bilder zuhause, aber hier, in der Wirklichkeit, war alles viel schöner. Der gemütliche Armlehnsessel am Fenster stand tatsächlich da. Er nahm Raum ein, man konnte sich in ihn hinein setzen und er war auch am Abend und morgen noch da. Es roch verführerisch nach Hühnerbrühe. Das musste wohl ein Duft sein, überlegte die kleine Idee. Die Patin hatte ihr erzählt, dass es genauso wunderbar duften würde, wenn sie sich selbst eines Tages verwirklichen würde. Schließlich wollte sie das ‚Überraschungsessen-für-Monika-zubereiten’ werden. Die Uhr schlug zwölf. Das konnte nur ein Klang sein. „Recht angenehm“, dachte die kleine Idee. Ob ich auch klingen werde? Dann hörte sie von draußen fröhliche Stimmen. Sie schwebte zum Fenster und entdeckte Kinder, die einen Schneemann bauten. Sie berührte die Scheibe und spürte, wie eiskalt sie war. Zitternd flog sie zum Ofen und wärmte sich. Dann landete sie auf dem weichen Sofakissen, sprang vergnügt auf und ab, purzelte auf den harten Fußboden und rappelte sich auf. Nein, wie aufregend war das hier! Sie wollte alles kennen lernen, alles wissen, alles verstehen und vor allem – hier sein. Sie nahm in sich auf, was nur in sie hinein passte und kam sich plötzlich gar nicht mehr klein vor.
Dann fiel ihr ein, dass sie ganz und gar die Zeit vergessen hatte. „Du meine Güte!“, flüsterte sie. „Es ist schon spät. Hoffentlich macht sich die Patin keine Sorgen.“
Sie schwirrte zum Bett, in dem Bernhard inzwischen eingeschlafen war, versteckte sich in einer Falte des Kopfkissens und überlegte, wie sie wieder in seinen Kopf schlüpfen könnte.
Die Nasenlöcher schienen ihr plötzlich fiel zu eng. War sie tatsächlich so gewachsen? Langsam begann sie unruhig zu werden. Was, wenn sie nicht mehr hineinkäme? Sie überlegte hin und her und als ihr nichts einfiel, wurde ihr bange. Eine kleine Idee, völlig allein in der großen, weiten Welt ... Sie brauchte Bernhard und Bernhard brauchte sie. Es musste doch eine Möglichkeit geben, wieder in seinen Kopf zu gelangen. Sie suchte nach einem Schlupfloch, doch die Augen waren geschlossen, auf einem Ohr lag er, über das andere hatte er einen Zipfel des Kopfkissens gezogen. Da klappte plötzlich seine Kinnlade nach unten und heraus kam ein ungeheuerlich lautes „Hrrch!“ Die kleine Idee erschrak fast zu Tode, doch der Sog der folgte, als Bernhard nach dem Schnarcher wieder Luft holte, zog die kleine Idee mit einem Ruck nach innen und ‚schwupp!’ – hatte sie es geschafft.

9. Der Reisebericht
„Na, mein Kind, was hast du erlebt?“ Die Patin empfing sie voller Freude. „Ich bin stolz auf dich, Idee-chen. Du bist größer geworden. Erzähle mir, was dir in der Wirklichkeit widerfahren ist.“
Die kleine Idee sprudelte alles hinaus und konnte kaum aufhören, von Bernhard, seiner Frau und der gemütlichen Wohnung zu schwärmen. Die Patin seufzte sehnsuchtsvoll.
„Ach, wie lange werde ich wohl noch warten müssen, ehe ich Wirklichkeit werde. Ich bin es bald leid, immer wieder verschoben zu werden. Da gebe ich dir gute Ratschläge, dass du Geduld haben sollst und ich selbst hab es immer noch nicht weiter geschafft, als bis zum Rand der ‚festen Vorsätze’.“
„Es kann nicht mehr lange dauern, meine liebe Patin“, sagte tröstend die kleine Idee. „Ich habe unter Bernhards Kopfkissen ein Kochbuch entdeckt. Es war schon ein Lesezeichen drin. Ich wette, sobald er wieder auf den Beinen ist, wird er sich bei Monika für die liebevolle Krankenpflege bedanken. Und zwar mit dir! Da bin ich mir ganz sicher.“
„Ja? Meinst du?“ fragte hoffnungsvoll die Patin. „Ich wäre so glücklich!“
„Natürlich! Und ich würde mich für dich freuen! Genauso sehr, wie ich mich gefreut habe, dass du so lange für mich da warst. Ich hätte es ohne dich niemals geschafft, so groß zu werden. Vielleicht wäre ich ohne dich schon längst begraben. Ich glaube, ich werde bald alleine klarkommen. Ich ahne nämlich schon, was aus mir werden könnte.“
„Nein! Wirklich? Oh, wie wunderbar! Bist du tatsächlich schon so weit? Und – willst du es mir vielleicht verraten?“ Die Patin war ganz aufgeregt.
Mit geheimnisvoller Miene beugte sich die kleine Idee nahe zu ihr heran und wisperte: „Nur, weil du meine Patin bist. Ich glaube, ich werde ps... ps... ps... ...“
„Das ist ja ..., bei allen Ideen dieses Kopfes, das ist ja fantastisch! Du wirst eine fantastische Idee sein! Und was für eine ... Ich hab immer gewusst, dass aus dir etwas ganz Besonderes wird, aber so etwas Schönes ... “
„Warte ab!“, bremste die kleine Idee die Patin, die völlig aus dem Häuschen war. „Ich muss es erst noch schaffen. Das wird bestimmt nicht leicht!“
„Du kriegst das hin! Da bin ich mir sicher. Nein, wie aufregend!“ Die Patin konnte sich kaum beruhigen. „Ich werde eine ganz spezielle Idee, eine Überraschungsidee, wie ich es immer sein wollte. Kurz zwar – nur für ein einziges Mittagessen, aber dafür so speziell, dass man sich noch ewig an mich erinnern wird. Monika wird begeistert sein. Ihre Kinder und Enkel und Nachbarn werden es erfahren. Alle Ehefrauen dieser Straße werden sie um mich beneiden. Ich kann es kaum noch erwarten, mein liebes kleines Idee-chen, oder sollte ich besser ‚meine große Idee’ sagen?“
„Für dich bin ich immer und ewig die kleine Idee“, sagte die kleine Idee und fiel ihrer Patin um den Hals. „Das freut mich“, antwortete die Patin, „bei dir wird es allerdings eine Weile dauern, bis du eine ...hrm hrm bist.“
Sie drehte sich nach allen Seiten um und flüsterte: „ Ich will nicht, dass jemand hört, was genau in dir steckt. Es soll unser Geheimnis bleiben, bis es so weit ist.“ Lauter fuhr sie fort: „Dafür wirst du aber etwas von Dauer sein, nichts Flüchtiges, nichts Vergängliches. Unzählige Menschen werden dich kennen- und lieben lernen.“
„Ich halt’ es vor lauter Vorfreude kaum noch aus!“, rief die kleine Idee glücklich.

10. Lieber Besuch
Nach ein paar Tagen war die Erkältung überstanden.„Hallo Großvati! Geht es dir besser?“ Laura stürmte zur Tür herein und sprang mit einem Satz in den Armlehnsessel auf Bernhards Schoß. Sie drückte ihn und sprudelte alles heraus, was ihr in der vergangenen Schulwoche widerfahren war. Sie hatte zwei neue Buchstaben kennen gelernt, konnte neun minus sechs rechnen und sie hatte ihrem Großvater ein Bild gemalt. Bernhard gab sich alle Mühe herauszufinden, was die Zeichnung darstellen sollte. Dann wagte er einen Versuch. „Das ist aber ein hübscher Esel, den du mir ...“ Der Protest kam, noch ehe er zu Ende gesprochen hatte. „Das ist ein Pferd! Das sieht man doch! Wo hast du denn nur deine Augen?“ Sie kniete sich auf Bernhards Schoß, umschlang seinen Kopf mit ihren Armen und zog ihn ganz nah an sich heran. Ihre Nasen berührten sich, sie blickten sich lachend an und erkannten sich selbst in den Augen des anderen. Später, nach dem Kaffeetrinken, wollte Laura das Vogelhaus aus der Nähe begutachten. Sie hatte es längst vom Fensterplatz aus entdeckt. Monika vollendete gerade einen Topflappen mit besonders kompliziertem Muster und forderte sie auf: „Geht nur, ihr beiden! Ich will das gern fertig bringen. Vergesst die Mützen nicht!“
Bernhard und Laura marschierten in den Hof, verteilten eine neue Ladung Vogelfutter und hingen zusätzlich einen Meisenknödel in den Brombeerbusch. Bald kamen Grünfinken und Spatzen, Meisen, Kernbeißer und Rotkelchen. Vergnügt beobachteten sie das lustige Gezanke um die besten Körner. Dann begannen sie einen Schneemann zu bauen, einen Vogelhauswächter.
Ganz unvermittelt hielt Laura inne und blickte ihren Großvater an. „Nun sag schon, Großvati, was ist es!“
Bernhard reagierte nicht gleich. Er hatte keine Ahnung, was seine Enkeltochter meinte. Fragend schaute er sie an.
Die verdrehte die Augen und flüsterte: Du bist doch bestimmt nicht nur mit mir rausgegangen, um Vögel zu füttern.“
Bernhard wurde immer ratloser. „Was meinst du?“, fragte er und zuckte mit den Achseln.
„Na weißt du, so klein bin ich nicht mehr, dass ich das nicht merken würde. Du brütest doch was aus. Vorhin, im Sessel, hab ich es in deinen Augen gesehen. Da war etwas drin, was sonst nicht da war. Ein Fünkchen. Und außerdem lächelst du wieder, so wie früher, als du noch mit dem Bus gefahren bist.“

Bernhard wurde ganz seltsam zu Mute. „Du bist ein kleiner Schatz, Lauralein“, murmelte er, und plötzlich hatte er einen Kloß in der Kehle. Er wusste nicht, woher das kam. Eigentlich kannte er dieses Gefühl nur von traurigen Anlässen. Aber er war nicht traurig. Er spürte zum erstenmal seit langer Zeit wieder neuen Mut in sich wachsen und das erfüllte ihn mit einer großen Freude. „Komm!“, sagte er, rückte die Mütze zurecht und fasste Laura bei der Hand. „Wir zwei spazieren jetzt gemütlich durch unser Wohnviertel.“
„Das machen wir, dabei kann man sich wunderbar unterhalten“, stimmte Laura zu und machte ein kluges Gesicht.
Bis zum Haus Nummer 9 ließ sie ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen, dann hielt sie es nicht mehr aus. „Was hast du vor, Großvati? Mir kannst du es sagen.“
„Das weiß ich noch nicht genau“, antwortete er. „Auf alle Fälle hab ich eine Idee im Kopf, die mich einfach nicht mehr loslässt. Am Anfang war sie winzig, dann ist sie gewachsen. Ich wollte sie verscheuchen, weil ich dachte, ich würde keine neue Idee mehr brauchen. Aber sie lässt mich nicht los. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, in meinem Alter etwas Neues zu probieren, aber ...“
„In deinem Alter? Wie klingt denn das? Du bist doch nicht hundert!“, protestierte Laura. Bernhard schmunzelte. „Da hast du natürlich recht. Mir ist nur schleierhaft, wie aus einer Idee, die so neu für mich ist, wirklich etwas werden soll.“
Laura versuchte die Stimme und den Gesichtsausdruck ihrer Lehrerin nachzuahmen. „Schau mal, Großvati, nimm dir ein Beispiel an mir. Mit dreieinhalb bin ich beim Sommerfest das erste mal auf einem Pony geritten. Da ist es passiert. Da war sie da – die Idee, dass ich mal Reiterin werde. Von da an, hab ich mein halbes Leben die Idee mit mir herumgetragen. Sie ist ständig gewachsen, das kam von ganz alleine. Erst hatte ich Malbücher mit Pferden drin. Dann bekam ich zu Weihnachten Bettwäsche mit Pferdemuster. Dann hat Max mit mir Sticker getauscht und es waren eine Menge Pferde dabei. Großmutti war mit mir im Pferde-Zirkus und im Lesebuch gibt es eine Geschichte vom Ponyhof. Ich hab nicht viel dazu getan. Ich hab mich einfach nur drauf gefreut, dass ich Reiterin werde und weißt du was? Ich verrate dir jetzt mein größtes Geheimnis: wenn mein erstes Zeugnis gut ist, darf ich nächstes Jahr zum Reitunterricht.“

Lauras Wangen glühten und ihre Augen strahlten, als sie ihre kindlichen Weisheiten an den Großvater weitergab. Bernhard ließ sich von der Begeisterung anstecken und flüsterte: „Jetzt sag ich dir, was ich vielleicht tun werde ...“
„Das ist eine fantastische Idee!“, jubelte Laura. „Das musst du einfach machen!“
Ihre Geheimnisse miteinander zu teilen stimmte sie so froh, dass sie anfingen, Schneefontänen in die Luft zu werfen und sich im Kreis zu drehen. Als sie schwindlig wurden, ließen sie sich in einen besonders großen Schneehaufen fallen und lachten über andere Spaziergänger, die verwundert herüber blickten.

Die kleine Idee in Bernhard Kopf schwoll vor lauter Stolz an. Das erstemal hatte Bernhard sich zu ihr bekannt. Er hatte sie ausgesprochen, in Worte gefasst, sie war wieder stärker geworden. Nun konnte er sie nicht mehr einfach so verschwinden lassen.

11. Unheil naht
Was der kleinen Idee noch bevorstand, ahnte sie nicht. Selbstbewusst durchstreifte sie alle Winkel des Kopfes, besuchte hin und wieder die neugeboren Ideen und beobachtete, wie sie erwachten. Sogar am Verließ, wo die Angst lebte, traute sie sich nun allein vorbei. Sie lief zwar immer etwas schneller, damit die Angst sie nicht packen konnte, aber einmal hatte sie ihr sogar aus lauter Übermut eine lange Nase gedreht. „Jetzt kann nichts mehr schief gehen“, murmelte sie vergnügt. „Bald bin ich soweit und verwirkliche mich.“ Aber da hatte sie sich getäuscht.

Bernhards Nachbar war ebenfalls wieder gesund geworden und besuchte ihn eines Abends mit einer Flasche unter dem Arm. „Na, Bernhard, alter Junge, muss doch mal sehen, was du so machst. Hier! Ich hab dir eine Kostprobe vom meinem Sauerkirschlikör mitgebracht.“
Bernhard freute sich über das Interesse und das Geschenk und bald waren die beiden in ein angeregtes Gespräch vertieft.
Als Monika erschöpft und mit gerötetem Gesicht von ihrer Sportgruppe zurückkam, hörte sie schon im Treppenhaus johlendes Gelächter aus ihrer Wohnung schallen. Sie freute sich zunächst darüber, doch als sie die Tür öffnete, war sie nicht mehr sicher, ob der Anblick ein Grund zur Freude war. Die beiden Männer fläzten auf ihren Stühlen, die Flasche war zu dreiviertel geleert. Sie prosteten ihr zu und Willi lallte: „Komm rein, Moni, und mach die Tür zu, es zieht.“ Bernhard versuchte, sich wieder gerade zu setzen, denn er wusste, dass Monika es überhaupt nicht liebte, wenn er mehr als zwei Gläschen Likör trank. Aber es gelang ihm nicht. Er grinste unentwegt und fragte schließlich zuckersüß: „Willst du auch einen Schluck, Monilein?“
Monika setzte eine strenge Miene auf und kommandierte: „Na gut, aber nur, weil es der Selbstgemachte ist. Und dann ist Feierabend, meine Herren!“
„Also dann, mein Freund ... bis morgen, in alter Frische“, brabbelte Willi und fand beim dritten Versuch die Wohnungstür.
„Was soll denn das bedeuten?“, fragte Monika ungehalten. „Du willst dich doch nicht etwa morgen schon wieder mit ihm treffen?“
„Nun sei nicht so herzlos, liebstes Monilein. Reg dich nicht auf. Wir treffen uns nicht mehr hier. Wir haben ab morgen einen Stammtisch drüben in der Kneipe.“
„Was heißt hier ‚wir’? Und wieso willst du plötzlich in die Gaststätte gehen?“
„Wir – na, wir eben. Der Willi und ich und ein paar Kumpels vom Willi. Du glaubst nicht, wie lustig das heute mit ihm war. Und da hatten wir die Idee, dass es schön wäre, wenn wir es jeden Abend so lustig haben. Wir könnten Karten spielen und vielleicht ein Bier trinken.“ Bernhard schaute seine Frau treuherzig an. „Du wolltest doch, dass ich wieder Freude am Leben hab. Also lass mich doch.“
„Ach Bernhard“, stöhnte Monika, „ich lass dich ja, nur nicht jeden Abend. Wenn ihr euch einmal im Monat trefft, ist das in Ordnung. Aber so oft ... das wird dir nicht gut tun. Glaub mir.“

Monika war beunruhigt. „So eine verrückte Idee“, dachte sie, „da kann nichts Gutes draus werden.“ Bevor sie ins Bett ging kochte sie sich einen Baldriantee, um ihre Nerven zu beruhigen.

Die kleine Idee war gerade dabei, sich auf der Lichtung der Erkenntnis mit ein paar anderen Ideen auszutauschen. Da begann sich plötzlich eine der Ideen auszubreiten. Sie wuchs so schnell, dass die anderen zur Seite geschoben wurden und ängstlich das Weite suchten. Die kleine Idee, die ihren Platz nicht so schnell räumen wollte, stellte sich ihr in den Weg, nahm allen Mut zusammen und fragte: „Wer bist du eigentlich, dass du dich hier so breit machst? Siehst du nicht, dass du alle anderen Ideen vertreibst?“
„Ich bin die Stammtisch-Idee und ich wachse solange, bis keine von euch übrig geblieben ist. Ich werde Bernhards Kopf ausfüllen, bis kein Raum mehr für euch da ist. Mach den Abflug, du Winzling!“
Die kleine Idee kam sich tatsächlich wieder klein gegenüber dieser verrückten Idee vor! Aber sie hatte gelernt, nicht so schnell aufzugeben. „Du wirst ihm nicht gut tun. Ich hab gehört, was Monika gesagt hat. Also verzieh du dich lieber!“
Die verrückte Idee brach in schallendes Gelächter aus. „Ich werde mich jetzt ausruhen und Kräfte sammeln und morgen bin ich doppelt so groß wie heut. Dann wirst du sehen, ob du es noch mit mir aufnehmen willst.“

12. Im Tal der Besinnung
Die kleine Idee hatte eben noch recht entschlossen gewirkt, doch nun begann sie der Mut zu verlassen.
Die Frucht, eine bizarre Schreckensgestalt, war ungerufen herbei geeilt und begann, tiefe Löcher rund um die kleine Idee zu graben. Die Zuversicht eilte mit einer Schaufel hinterher, um die Löcher wieder zu füllen, damit niemand hinein stürzte. Doch sie war schwach und konnte nicht mithalten. Mit einem wagemutigen Sprung rettete sich die kleine Idee aus dem Teufelskreis und eilte zurück in den langen Gang. Aufgeregt lief sie hin und her und wünschte sehnsüchtig, dass irgendetwas geschehen möge, was die verrückte Idee in die Flucht trieb. Die Angst streckte ihren knochigen Arm aus dem Verließ und griff mit langen Finger nach ihr. Die Verzagtheit schlich ihr nach und ließ sich nicht abschütteln. Die Hoffnungslosigkeit schwebte über ihr – bereit, sich im nächsten Augenblick über sie zu werfen.

Da sah sie weit hinten im kleinen Tal der Besinnung ihre Patin auf und ab schreiten. Erleichtert eilte sie dorthin und alle Sorgen sprudelten aus ihr heraus. Die Patin nickte verständnisvoll.
„Du hast es wirklich nicht leicht, Idee-chen. Dafür wirst du später um so wertvoller sein, glaub mir. Wir werden uns nun in Ruhe darauf besinnen, was zu tun ist. Ich denke schon eine Weile nach. Die verrückte Idee wollte es natürlich auch mit mir aufnehmen. Wahrscheinlich brauchen wir Hilfe von draußen. Eine verrückte Idee kann so übermächtig werden, dass sie nicht nur alle anderen Ideen vernichtet, sie kann sogar den Verstand lahm legen.“
„Du liebe Güte!“, rief die kleine Idee aus und dachte so angestrengt über eine Lösung nach, dass ihr ganz heiß wurde.
„Das bringt nichts“, sagte die Patin nach einer Weile, wir dürfen nicht so verkrampft an die Sache herangehen. Vielleicht hast du etwas von deiner Mutter geerbt. Eine besonnene Überlegung wäre jetzt genau das Richtige.“
Das kleine Tal der Besinnung wurde von sanften Hügeln gesäumt. „Lass uns in Ruhe dort hinauf wandern“, schlug die Patin vor. „Ich denke, von oben haben einen guten Weitblick. Dann können wir unser Problem überschauen. Vielleicht ist eine Lösung in Sicht.“

Die kleine Idee war froh, dass sie ihre Sorgen mit jemandem teilen konnte, dem sie vertraute. Sie wurde ruhiger, und nachdem sie alles von oben eine Weile überblickt hatte, murmelte sie: „Schade, dass Bernhard seinen Schnupfen nicht mehr hat. Es war so leicht, beim Niesen hinaus zu rutschen, wenn auch nicht gerade angenehm. Aber ... halt! Da ist jemand draußen, der uns helfen könnte! Laura, die Enkelin! Stell dir vor, sie hat mich schon in Bernhards Augen entdeckt, als ich noch klein war. Sie wäre die Richtige, um uns zu helfen. Aber wie erfährt sie, was los ist?“
Guter Rat war teuer.

13. Unerwarteter Beistand
Sie überlegten hin und her und hielten Ausschau nach der Lösung, doch weit und breit war keine zu erkennen. „Bald weiß ich nicht mehr weiter“, seufzte die Patin. „Was trägst du eigentlich die ganze Zeit mit dir herum? Zeig mal dein Beutelchen.“ Die kleine Idee gab ihrer Patin verlegen den Beutel und sagte: „Neulich, als uns die Hoffnung durchströmte, hab ich mir ein Stückchen davon eingefangen. Ich dachte, wir könnten es irgendwann gebrauchen.“
„Du Dummerchen, die Hoffnung darf man nicht einsperren. Sie stirbt sonst. Wir wollen sie schnell frei lassen. Vielleicht lebt sie noch.“ Sie öffneten den Knoten und ein schwaches rosiges Licht entwischte nach draußen. Die kleine Idee war erleichtert. „Wenigstens ist noch ein Hoffungsschimmer da.“
Als sie ihm nachschauten, wie er über das Tal zog, schwebte plötzlich, wie ein Hauch so zart, eine innere Eingebung an ihnen vorüber. Sie säuselte: „Na ihr beiden? Ihr braucht Hilfe, nicht wahr? Alle, die hier oben Ausschau halten, brauchen Hilfe. Auf mich hört ja sonst keiner, aber wer hier hinauf kommt, dem helfe ich gern.“

Die kleine Idee und ihre Patin erzählten ihr von der übermächtigen, verrückten Idee, die sich in Bernhards Kopf ausbreitete und dass sie alle schon befürchteten, begraben zu werden, wenn diese noch weiter wuchs. Sie erklärten, dass sie Laura gern um Hilfe bitten würden, aber nicht wüssten, wie sie ihr alles mitteilen sollten.
Die innere Eingebung lächelte weise. „Wie gut, dass ich euch getroffen habe. Nicht viele stehen, wie ich, mit ihresgleichen auf der ganzen Welt in Verbindung. Ich werde der inneren Eingebung von Laura noch heute einen Besuch abstatten. Ich werde ihr nicht viel erklären müssen. Ich denke, ein kleiner Anstoß wird genügen, und sie wird fühlen, was sie tun muss.“
„Funktioniert das wirklich?“, fragte die kleine Idee skeptisch. „Wie soll das gehen? Ich kann mir nicht vorstellen ...“ Die Patin stupste sie heimlich an. „Zweifle nicht so viel, Idee-chen, sonst vertreibst du sie.“ Kleinlaut antwortete sie: „Na gut, ich vertraue dir. Danke, dass du uns hilfst.“

14. Laura hilft nach
Als Laura an diesem Nachmittag aus der Schule kam und am Schreibwarenladen vorbei schlenderte, fiel ihr ein Hausaufgabenheft auf, dessen Umschlag eine Stute mit ihrem Fohlen zeigte. Sofort blieb sie stehen und blickte sehnsüchtig danach. Ob sie es sich zu Ostern wünschen konnte? Sie wollte es sich nur einmal aus der Nähe ansehen und betrat ohne zu überlegen den Laden. „Ist das nicht verrückt?“, dachte sie bei sich. „Überall begegnen mir plötzlich Pferde. Wie ich mich auf den Reitunterricht freue, das glaubt kein Mensch!“ Als sie den Laden wieder verlassen wollte, bemerkte sie an der Kasse in einem Kasten eine handvoll wunderschöner Bleistifte. Ohne zu überlegen nahm sie einen heraus und fragte nach dem Preis. „Dreißig Cent? Da nehme ich einen. Ich hab noch Taschengeld übrig.“

Als sie weiterging, rissen die Wolken auf. Laura hielt ihr Kindergesicht der Sonne entgegen. „Eigentlich hab ich keine Lust nach Hause zu gehen, es ist sowieso noch keiner da“, dacht sie und nahm sich vor, einen Umweg zu machen, um die Großeltern zu besuchen.
„Ach, du bist es Laura! Schön, dass du kommst!“, rief Monika, aber sie klang nicht so fröhlich wie sonst.
„Was ist los? Geht’s dem Großvati wieder schlechter?“, fragte Laura besorgt.
„Dem geht’s viel zu gut, wenn du mich fragst, aber lass das nicht deine Sorge sein. Dem alten Zausel spukt gerade eine verrückte Idee im Kopf herum. Er hockt beim Willy. Sie machen eine ‚Stammtisch-Planung’. Da sollte man meinen, dass Männer im Alter vernünftig werden ... Ach, Lauralein, auch eine Großmutti hat’s manchmal nicht leicht. Aber komm, ich mach dir einen schönen Kakao. Dann musst du wieder los, sonst sorgen sich deine Eltern.“
Laura verspeiste einen kleinen Berg Butterkekse und trank mit sichtlichem Genuss ihren Kakao, dann piekste ihr der Bleistift durch die Jackentasche in die Seite und sie hatte einen Einfall. „Sieh mal, was ich gekauft habe. Einen Bleistift, sogar mit Radiergummi dran. Ist der nicht schön? Weißt du was, den lass ich hier. Du kannst ihn dem Großvati schenken, wenn er heimkommt. Und sag ihm einen schönen Gruß von mir und von unserm Geheimnis.“
Monika schaute fragend, aber Laura war schon singend die Treppen hinunter gesprungen.

15. Zufälle
Als Bernhard am nächsten Tag die Weihnachtsbeleuchtung auf den Boden schaffte, die schon seit geraumer Zeit im Flur stand, ärgerte er sich darüber, wie voll die Regale waren und dass er keinen Schrank öffnen konnte, ohne dass ihm etwas entgegen rutschte. Er bekam Lust, ein wenig herum zu kramen und hatte bald die Zeit vergessen. Gegen Mittag kam Monika die Treppen hinauf geschnauft und rief missmutig: „Ach hier bist du! Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Das Essen wird kalt. Was tust du da überhaupt?“
„Nur ein bisschen aufräumen, Moni. Und – warum guckst du eigentlich so grimmig?“
„Mich macht deine Idee verrückt, ich kann’s nicht ändern“, gab sie zu und schon war sie wieder verschwunden. Bernhard verzog sich gleich nach dem Eintopf wieder auf den Boden. Als er am Abend herunterkam, hatte er eine verstaubte Kiste unter dem Arm. „Sieh mal, was ich gefunden hab! Trara!“ Er öffnete den Deckel. „Meine alte Schreibmaschine. Damit hab ich dir meinen ersten Liebesbrief getippt, weißt du noch?“
„Ja, damit ich nicht merke, was für eine unbeschreibliche Klaue du hast“, wetterte Monika, aber es schwang ein belustigter Ton in ihrer Stimme.
„Ich werde gleich mal probieren, ob die Farbbänder noch funktionieren, die im Schub liegen. Ich finde, sie passt prima auf meinen Schreibtisch, die alte ‚Erika’. Ein richtiges Schmuckstück. Meinst du nicht auch?“
Monika war alles recht, was ihren Mann von den geplanten Kneipenbesuchen ablenkte. Zwar war der Willy ein lustiger Nachbar, aber seine Kumpanen machten auf sie nicht den besten Eindruck. Auf alle Fälle waren sie für ihren Bernhard nicht der richtige Umgang.

„Hast du vergessen, die Zeitung wegzuräumen?“, fragte Bernhard, als er sich am Sonntag auf seinem Lieblingsplatz am Fenster niederlassen wollte.
„Laura hat darin geblättert, als sie gestern vorbei kam. Sie hat dir eine Seite aufgeschlagen. Keine Ahnung, was sie will.“
„Neuer Schneefall ... Seniorentanz . Ob sie meint, ich müsste dich wieder mal ausführen?“ Bernhard lächelte. „Kochkurs ..., Zeichenkurs ..., Kreatives Töpfern ..., Schreibkurs ...hm ..., Schwedisch für Anfänger ... Was die in der Volkshochschule alles anbieten. Wer soll denn da hingehen...“
Bernhard legte die Zeitung weg und sah aus dem Fenster. „Oh, morgen wird der Sperrmüll geholt. Der Willy hat schon einen ganzen Haufen aufgestapelt. Ich muss noch runterbringen, was ich auf dem Boden aussortiert habe.“

Monika wusste, dass das nur die halbe Wahrheit war, aber sie verkniff sich eine Bemerkung. Und tatsächlich: als Bernhard nach einer halben Stunde wieder auftauchte, hatte er fast genau so viele Pakete mit nach oben gebracht und im Flur deponiert, wie er zuvor hinunter geschafft hatte. Bevor Monika sich dazu äußern konnte, versicherte Bernhard: „Es ist doch jetzt genug Platz oben. Was der Willy alles wegschmeißen wollte! Du glaubst es nicht! So gute Sachen. Die kann ich alle irgendwann gebrauchen, wirklich!“
Monika war neugierig geworden und entdeckte eine alte Schreibtischlampe aus Messing. „Wenn du die polierst, könnte sie ganz passabel auf deinem Schreibtisch aussehen, findest du nicht?“
„Genau!“ stimmte Bernhard zu. „Dann könnte ich mich auch endlich wieder einmal dran setzten. Mir war es bisher immer ein bisschen zu dunkel.“ Voller Elan machte er sich daran, die Lampe zu putzen, prüfte das Kabel und wechselte die Birne.
Es geschahen noch weitere seltsame Zufälle:
„Weißt du noch, was du mir für schöne Geschichten erzählt hast, als ich noch ganz klein war?“, fragte Laura eines Tages mit Unschuldsmiene. „Ach ja, die Geschichten. Das weißt du noch?“ Bernhard staunte und erinnerte sich: „Eigentlich hatte ich immer vorgehabt, sie aufzuschreiben.“

Der Postbote brachte einen dicken Umschlag. Neugierig drehte Bernhard ihn um. „Heinrich-Heine-Schule“ stand auf dem Absender. Das war seine alte Schule gewesen. Man teilte ihm mit, dass sein ehemaliger Klassenlehrer in ein Seniorenheim zog und die Schätze, die im Archiv geschlummert hatten, an seine Schüler zurück geben würde. Es waren ausgezeichnete Klassenarbeiten in Physik dabei und die besten Aufsätze. Bernhard wurde sonderbar zu Mute. Er erkannte gleich auf dem ersten Blatt seine liederliche Jungenschrift und das Thema ‚Warum ich Busfahrer werden will’.
„Das hast du alles geschrieben?“, staunte Monika, als Bernhard immer wieder umblätterte. „Ja, das alles hab ich geschrieben ...“, antwortete Bernhard gedankenverloren.

„Bernhard, ich muss unbedingt mal im Bücherschrank Staub wischen. Kannst du mir nicht dabei helfen?“ Monika gab ihm einen ganzen Stapel Bücher in die Hand. „Sieh die mal durch, ob du sie wirklich noch behalten willst.“ Bernhard blätterte in den vergilbten Seiten und blieb immer wieder darin hängen. Was für gute Gedanken standen darin! Was waren das für Menschen gewesen, die so etwas geschrieben hatten.
Die Türglocke schrillte schon zum dritten Mal. „Willst du nicht aufmachen?“, fragte Monika, die mit einem Staubwedel auf der Trittleiter stand.
Bernhard riss sich los und ging, noch in einem Buch lesend, zur Tür.
„Los geht die Sause!“, rief Willy vergnügt und stutzte, als er Bernhard in seinen bequemen Cordhosen sah. „Willst du dich nicht ein bisschen rausputzen, alter Junge? Schlüpf in deinen guten Zwirn und komm, wir sind spät dran.“ Bernhard musste erst einmal in die Wirklichkeit zurückfinden und starrte Willy an, als stünde ein Geist vor der Tür.

16. Der Untergang der verrückten Idee
Die verrückte Idee erwachte voller Tatendrang.
„Heute werde ich Bernhards gesamten Kopf beherrschen“, sprach sie zu sich selbst und machte sich daran, sich auszudehnen. „Heut werde ich dieses ganze nutzlose Pack vertreiben. Ich werde diese überflüssigen Ideen ausmerzen, sie in die Schlucht der Vergessenheit schicken, ihnen Sinnlosigkeit einflößen. Heute Abend wird es soweit sein – ich werde mich verwirklichen.“
Die verrückte Idee kicherte boshaft vor sich hin. „Hi, hi, hi! Das wird der guten Moni gar nicht gefallen.“ Dann holte sie rasselnd Atem und brüllte durch alle Gänge: „Nur damit ihr Bescheid wisst, es hat keinen Zweck sich zu verstecken und später wieder aufzutauchen. Ich hatte eine Braut – die wahnsinnige Idee. Hübsches Ding, die Kleine! Wir werden euch viele kleine Nachkommen hinterlassen, eine verrückter und wahnwitziger als die a .. n .. d .. e … r … e ...“

Der verrückten Idee begann die Luft auszugehen. Sie fühlte sich plötzlich wie ein angestochener Ballon. Aus ihrem Inneren wich die Kraft, sie versuchte sich aufzublähen, mühte sich vergeblich, wieder Größe zu erlangen, doch da sah sie, wie ein Heer von guten Ideen auf sie zumarschierte, allen voran die kleine Idee und ihre Patin.
„Deine Zeit ist um, du verrückte Idee!“, riefen sie im Chor. „Du bist nicht gut für den Bernhard und seine Frau. Uns brauchen Sie! Wir bringen ihnen Freude und lauter schöne Dinge.“
Die kleine Idee, die nur noch dem Namen nach klein war, baute sich vor dem elenden Häufchen auf. „Du hast deine Chance vertan. Warum wolltest du so riesengroß werden, dass keine von uns neben dir Platz hat. Hast du nicht gehört, wie Monika gesagt hast, einmal im Monat könnte sie dich ertragen? Das war dir nicht genug und nun bekommst du genau das, was du verdienst: Du wirst dich selbst aufgeben!“
Die aufgebrachte Menge wollte die verrückte Idee nieder rennen, sie zerstampfen und zermalmen, aber es war kaum noch etwas von ihr übrig. Sie war in sich zusammengefallen, schrumpfte vor ihren Augen immer weiter und schließlich blieb nur noch ein Winzling übrig, so klein wie ein Floh. Der sprang in wildem Zickzack in Richtung Ohr, mit einem Satz hinein und hinter dem Trommelfell nach draußen. Weg war er.

Jubel brach los! Die Hoffung eilte herbei, die Freude breitete sich aus und die Zuversicht überschwemmte jede Ecke in Bernhards Oberstübchen.
„Hurra! Wir haben sie vertrieben! Wir sind sie endlich los! Kommt, lasst uns feiern!“ So schallte es im ganzen Kopf.

Die kleine Idee umarmte ihre Patin. „Jetzt bist du dran, liebe Patin. Spürst du es auch? Der Abschied fällt mir nicht schwer, denn ich werde dir bald folgen. Gute Reise und komm nicht wieder zurück!“

17. Bernhard kämpft mit sich
Bernhard fand endlich die Sprache wieder und stotterte: „Mensch Willy, wie soll ich sagen, ich ...“
„Nun kneif bloß nicht etwa!“, rief Willy verärgert, „das war doch eine ‚verrückt-nette Idee’, die wir da hatten.“
„Ja eben. Nur – für mich zu verrückt. Das hab ich gerade gemerkt, und ich hab heute Abend eigentlich schon was anderes vor.“
„Na gut, dann eben morgen“, ließ Willy sich herab. Bernhards Hände wurden feucht. Sein Mund wurde trocken.
„Also ... da hab ich auch schon was anderes vor und ...“ Er wusste nicht weiter. Wie sollte er seinem Nachbarn beibringen, was in seinem Kopf geschehen war? Wie sollte er erklären, dass er plötzlich nach etwas Sehnsucht hatte, was er noch nicht kannte? Wie überzeugte man jemanden von etwas, das man selbst nicht verstand?
Er suchte verzweifelt nach Worten. Dann gab er sich einen Ruck: „Du brauchst gar nicht wegen übermorgen zu fragen. Das wird nichts mit dir und mir und dem Stammtisch.“
Nun war es endlich heraus. Bernhard konnte kaum glauben, dass er sich getraut hatte, seinen Nachbarn abzuweisen, wo er doch immer gut Freund mit allen sein wollte.
„Das ist nicht zu fassen“, brummte Willi und stapfte wütend die Treppe hinauf. „Mann, Mann, Mann ... die Nachbarn sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“ Dann verstummten die polternden Schritte und seine Stimme hallte durch das Treppenhaus: „Jetzt klingel ich beim alten Friedel, vielleicht kann man mit dem noch normal reden!“

Monika traute ihren Ohren nicht, als sie ihren Mann im Flur reden hörte. Sie wäre beinahe von der Leiter gerutscht, weil sie sich zur Tür gebeugt hatte, um besser zu verstehen. Als Bernhard wieder zurückkam, putzte sie eifrig an einer Holzschnitzerei des Bücherschrankes. „Na? Geht’s los?“, fragte sie scheinheilig.
„Ich hab’s mir anders überlegt“, antwortete Bernhard betont gleichgültig. Dann atmete er heimlich, aber sehr erleichtert auf.
Monika wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Bernhard schaute sie an. Wie fleißig sie immer war. Hoffentlich kippte die Leiter nicht. „Komm runter Moni“, sagte er ohne zu überlegen. „Dort oben mach ich morgen weiter. Vielleicht putzt du lieber die Scheiben hier unten.“ Monika drehte sich irritiert um und versuchte, in Bernhards Gesicht zu lesen. Der aber machte eine geheimnisvolle Miene und fragte: „Weißt du, was ich jetzt tue? Nein – da kommst du nie drauf! Ich verrate es auch nicht. Mach du in Ruhe weiter und komm in der nächsten Stunde nicht in die Küche.“

Bernhard holte etwas unter seinem Kopfkissen hervor und schlich damit an Monika vorbei in Richtung Herd. „Aber nicht linsen!“, ermahnte er sie. „Ich ruf dich, wenn’s soweit ist.“
Monika seufzte erleichtert und setzte sich einen Moment auf eine Stufe der Leiter. „Manchmal geschehen noch Wunder“, flüsterte sie. Dann ging sie mit neuem Schwung daran, die Scheiben auf Hochglanz zu polieren.

Die kleine Idee stand voller Ungeduld im langen Gang und suchte nach einem ganz bestimmten Bild. Ob es die Patin schon geschafft hatte? Sie wünschte es sich so sehr für sie.
Da verschoben sich plötzlich ein paar alte Erinnerungen und es wurde Platz für ein neues Schleierbild. „Och!“, staunte die kleine Idee mit weit aufgerissenen Augen. Ein gedeckter Tisch erschien. Darauf standen Teller, Schüsseln und eine Bratenplatte. Servietten lagen daneben und Weingläser funkelten im Kerzenlicht. „Donnerwetter!“, rief sie überrascht. „Das hätte ich dem Bernhard gar nicht zugetraut. Warum eigentlich nicht? Meine Patin war schließlich eine sehr liebenswürdige Idee. Wie wird sich Monika freuen!“ Andere Ideen kamen dazu, drängten sich um die neue Erinnerung und bewunderten, wie vorzüglich sich die Patin verwirklicht hatte.
Die kleine Idee verkündete: „Ich spür’s ganz deutlich. Ich werde die Nächste sein. Denkt alle daran: wenn ihr uns einmal folgen wollt, müsst ihr beharrlich sein und euch nicht klein kriegen lassen. Und haltet Bernhards Kopf frei von allen unnützen Ideen.“ „Das machen wir! Das machen wir bestimmt!“, riefen alle begeistert.

18. Der große Tag
„Heute ist es soweit“, sprach die kleine Idee, als sie am nächsten Tag ausgeruht aufstand. Sie besuchte noch einmal alle ihre Freunde, nahm von jedem einen guten Rat an und wuchs dabei so sehr, dass sie es vor lauter Spannung kaum noch ertragen konnte. „Bernhard, ich komme, keiner kann mich aufhalten, ich bin gleich da, ich ...“

Bernhard war alleine zuhause. Monika war zum Friseur gegangen, wollte hinterher noch einkaufen und hatte gesagt, dass es spät werden könnte. Die Zeitung war bereits durchgelesen und Bernhard überlegte, ob er nach dem Vogelhäuschen schauen sollte. Er sah aus dem Fenster. Nein – draußen war es zu ungemütlich, der Wind zauste um alle Ecken.

Er setzte sich gedankenverloren an seinen Schreibtisch und knipste die Schreibtischlampe an und aus, wieder an und aus und noch einmal an. Ohne zu überlegen, nahm er den Bleistift, den ihm Laura geschenkt hatte und malte ein paar Kringel auf den Schreibblock. Plötzlich kribbelte es in seinen Fingern. Der Stift begann vor seinen Augen zu tanzen ... aus unförmigen Krakeln wurden ... Buchstaben ... Worte ... ein ganzer Satz. Plötzlich verschwamm alles vor seinen Augen. „Nein, das kann ich machen“, dachte er. „Ich kann das nicht, und ich bin zu alt.“

Er stand auf und ging wieder zum Fenster. Da hörte er wieder die kleine, vertraute Stimme in seinem Kopf: „Du hast doch eine Brille! Hol Sie! Komm schon und tue es endlich!“ Er wollte sich über die Stirn wischen, um die Stimme zu verscheuchen, da spürte er plötzlich eine unbeschreibliche Lust, die Brille aufzusetzen, den Stift in die Hand zu nehmen und ... Er ging zurück zum Schreibtisch, rückte sich umständlich den Stuhl zurecht und ... tat es! Die Worte begannen zu fließen. Sie strömten in Unmengen auf das weiße Papier und füllten Seite um Seite. Bernhard wusste nicht, wie ihm geschah. Er vergaß Raum und Zeit, Hunger und Durst und dachte: „Genau das ist es, was ich tun will. Ich weiß nicht, warum. Es ist mir auch egal. Ich fühle mich gut dabei. Und ich fühle mich jung, jung im Kopf und überall.“ Bald legte er den Bleistift zur Seite und spannte einen Bogen in die alte „Erika“. Ob seine Finger noch mitmachten? Natürlich! Wie von allein fanden sie ihren Platz auf den Tasten, deren Geklapper ihm wie eine Melodie erschien.

Als Monika drei Stunden später nach Hause kam, fand sie ihren Mann am Schreibtisch, umgeben von einer Flut Papier. Er war so vertieft, dass er sie gar nicht hörte und aufschrak, als sie ihre Hand auf seine Schulter legte.
„Monilein!“, rief er und strahlte über das ganze Gesicht. „Ich hab sie wieder gefunden, die kleine Idee. Weißt du noch? Es war nicht nur eine richtig gute Idee. Es war eine fantastische Idee. Sie ist in mich hineingekrochen, hat in mir gekämpft, hat sich nicht vertreiben lassen, ist immer größer geworden, und nun werde ich sie verwirklichen. Ist das nicht schön?“ Bernhard schnappte seine Monika und wirbelte sie mit Schwung einmal im Kreis herum. Dann hielt er abrupt inne, griff nach seinem Rücken und ließ ihre Füße zu Boden rutschen. „Oh, das Alter!“, stöhnte er, aber seine Augen lachten.

Monika konnte kaum glauben, was sie sah. Bernhard strahlte vor Begeisterung. So wie früher! Sie fühlte sich froh und erleichtert! Wenn nur ein kleiner Teil von diesem Elan anhielt, würden sie sich beide ein paar wunderschöne Jahre machen, ihr Bernhard und sie.

In Bernhards Kopf war ein Tumult entstanden. Rufe wurden laut: „Warum geht es hier nicht weiter? Wer verstopft die Gänge?“
„Immer mit der Ruhe“, mahnte die Geduld, „Kein Grund zur Aufregung. Im langen Gang soll es einen kleinen Ansturm geben. Ich werde für Ordnung sorgen. Lasst mich vorbei.“ Sie zwängte sich durch Ideen, Gedanken und Gefühle, dann sah sie es: alles drängte sich vor einer neuen Erinnerung, deren Bild langsam wuchs und immer schöner wurde.


Du fragst dich, wo die kleine Idee nun ist?
Sieh mal an, du hast sie gerade in deiner Hand.
 

Eva

Mitglied
Hallo Flammarion,
danke für deine Bewertung. Du bist wirklich fleißig im Bewertungen schreiben (da sollte ich mir mal eine Scheibe abschneiden)
Dein "Nette kleine Geschichte" klingt ja schon mal positiv.
Allerdings würde ich es sehr gern schaffen, über das "Nett" hinauszukommen.
Liebenswert und leicht zu lesen soll die Geschichte sein, aber ich habe auch versucht, ein paar "tiefsinnige Gedanken" mit hineinzupacken , in denen sich Leser ganz verschiedenen Alters wiederfinden können. Es geht mir um die vielen Gefühle, die uns bewegen und die uns oft vor Probleme stellen. Mein Anliegen war, herzlich und amüsant zu sein, Menschen beim Lesen zu "berühren" - ich weiß nicht, in wie weit mir das gelungen ist.
Liebe Grüße von
Eva.
 



 
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