Die Geste

Matula

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Wenn Herr und Frau Maly nebeneinander standen, meinte man einen zweiteiligen Kleiderschrank vor sich zu sehen. Ihre aufrechte Haltung, von einer Brust-raus-Bauch-rein-Pädagogik herangebildet und von wattierten Schulterpölstern überhöht, war den meisten jüngeren Zeitgenossen verdächtig. Wer trotz fortgeschrittenen Alters so unbeugsam daher kam, auf seiner vertikalen Ausrichtung geradezu beharrte, musste ein recht autoritärer Mensch sein. Man vermutete eine militärische Berufslaufbahn bei ihm und bei ihr eine schuldirektorische. Dazu kam, dass die beiden ungewöhnlich groß waren. Die Kinder aus der Nachbarschaft sagten, sie sähen aus wie "Mammutbäume", die Jugendlichen nannten sie "die Sheriffs", weil sie auf ihren Spaziergängen schweigend nebeneinander hergingen und einen Gruß nur mit einem leichten Nicken beantworteten.

Einer, der besonders wenig Grund hatte, das Ehepaar Maly zu mögen, war Oliver, der mit seiner Mutter im Gemeindebau auf der anderen Seite des Parks wohnte. Mit zwölf hatten sie ihn dort beim Rauchen erwischt. Mit vierzehn rauchte er nicht mehr, sondern knutschte mit älteren Mädchen. Als Renate gerade rittlings auf seinem Schoß saß und ihm die Aussicht verstellte, kamen sie von einem der Seitenwege, wie immer auf leisen Sohlen in ihren gepolsterten Waldläufer-Schuhen. Man kannte sich vom Sehen. Er versuchte, sein Gesicht in Renates Haar zu verstecken.

Die letzte Begegnung war die unangenehmste. Er war jetzt sechzehn und mit Sonja zusammen. Eigentlich hätte er sie längst in die Wüste schicken sollen, aber sie war eine Traumfrau, um die ihn jeder beneidete. Ihre Eltern wohnten in einem Haus in der Nähe der Malys, waren selten daheim und hatten keine Einwände, wenn ihre Tochter Freunde bei sich übernachten ließ. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb zeigte sich Sonja meistens zugeknöpft. Sie wollte Oliver um sich haben, aber auf Sex hatte sie keine Lust. Irgendwann fiel ihm auf, dass sich das änderte, wenn er ein kleines Geschenk mitbrachte. Unter "klein" waren nicht Juwelier-, aber immerhin Parfümeriewaren zu verstehen. Sie war verrückt nach Düften und er verrückt genug, ihr immer neue Flacons zu schenken.

Leider stand Olivers Lehrlingsentschädigung in keinem Verhältnis zu seinem sexuellen Appetit. Und so kam es, dass er Drogeriemärkte in der weiteren Umgebung aufsuchte, um Parfums - immer die kleinste Flaschengröße und im Zweifelsfall das Eau de Toilette - ohne Bezahlung mitzunehmen. Dabei dienten ihm die Innentaschen seiner Jacken und Blousons als Versteck. Da er die gestohlenen Artikel nicht für sich selbst verwendete, hielt sich das schlechte Gewissen in Grenzen, die Angst vor Entdeckung war aber groß.

An einem Frühabend im November stand er etwas länger vor einem Regal und versuchte sich zu erinnern, welches Parfum er Sonja noch nicht geschenkt hatte. Die vielen französischen Bezeichnungen verwirrten ihn jedes Mal. Am ehesten noch wusste er, ob er zuletzt im oberen oder im unteren Fach, weiter rechts oder weiter links zugegriffen hatte. Schließlich fand er eine elegante dunkelblaue Packung, auf der in silbernen Buchstaben "au revoir" stand. Er begutachtete sie ausführlich, tat, als läse er die Ingredienzien, während er mit gesenktem Kopf festzustellen versuchte, ob ihn jemand beobachtete. Als das edle Gebinde schon an seiner Brust unter dem Anorak lag, sah er Herrn und Frau Maly auf der Höhe der Zahnpastatuben. Sie standen nebeneinander und blickten ihn unverwandt an.

Einem ersten Impuls gehorchend entfernte er sich. Dann blieb er stehen und wartete, ob sie zu schreien anfingen und sich auf ihn stürzten. Der hünenhafte Alte würde ihn wahrscheinlich festhalten, während die Gemahlin zur Kasse marschierte und den Diebstahl meldete. Und jeder Diebstahl wurde zur Anzeige gebracht. Das hieß, die Polizei würde antanzen und seine Personalien aufnehmen. Er war strafmündig, also würde es eine Gerichtsverhandlung geben und alle würden erfahren, dass er Parfums für seine Freundin stahl. Er überlegte, ob er die Beute zurück an ihren Platz stellen sollte.

Die beiden Malys standen noch immer in einiger Entfernung und blickten in seine Richtung. Und wenn sie gar nichts gesehen hatten? Weil sie kurzsichtig waren oder den Moment verpasst hatten, als er die Schachtel unter seinen Anorak schob? Wenn er sie jetzt hervorholte, konnten sie es sehen und würden ihre Schlüsse ziehen. Wenn er ihnen andererseits den Rücken dabei zukehrte, konnte ihn die Frau an der Kassa beobachten. Sie hatte gerade nichts zu tun und ließ ihren Blick schweifen.

In seiner Not wandte sich Oliver dem gegenüberliegenden Regal zu und studierte die Fußpflegemittel. Dabei fiel ihm ein, dass alte Leute eher weitsichtig als kurzsichtig waren, was wohl hieß, dass er so gut wie überführt war. - Ob man mit ihnen reden konnte? Schwören, dass es nie wieder vorkommen würde? Die schlechte Finanzlage ins Treffen führen, an die Nachbarschaft erinnern, an ihre gütigen Herzen appellieren? - Aber wie absurd, sich selbst ans Messer zu liefern, falls sie einfach nur da standen und nachdachten, ob sie auch nichts vergessen hatten. Viele Leute starrten vor sich hin, wenn sie geistig beschäftigt waren. Vermutlich hatten sie ihn nicht einmal wahrgenommen.

Mit trotziger Entschlossenheit drehte er sich um und ging in die Richtung, in der sie standen. Schnell wurde klar, dass die beiden nicht in ihrem Gedächtnis forschten, sondern in seinem Gesicht. Er murmelte einen Gruß, aber statt einer Antwort legte Herr Maly die rechte Hand auf die linke Seite seiner Brust, etwa auf der Höhe, auf der bei Oliver immer noch das "au revoir" steckte. Oliver senkte den Kopf und tat, als hätte er die Geste nicht gesehen. An der Kassa stellte er fest, dass ihm die Malys ein Stück weit gefolgt waren, aber keine Anstalten machten, ihm nachzulaufen. Er drückte sich schnell an den wartenden Kunden vorbei, zeigte die Handflächen und rief der Kassiererin "Nichts gefunden!" zu. Erst daheim fühlte er sich erleichtert und gelobte einer höheren Macht, es nie wieder zu tun.

Am nächsten Morgen bedrückte ihn der Vorfall doch. Die dunkelblaue Schachtel stand auf dem Bücherbord und glotzte ihn an wie gestern das Ehepaar Maly. Er legte das Parfum in den Kleiderschrank und ging zur Arbeit. Kaum war er da, wollte er nichts lieber als wieder umkehren. Eine hässliche kleine Phantasie nistete in seinem Kopf: die Malys statteten seiner Mutter einen Besuch ab, um sie über die kriminellen Aktivitäten ihres Sohnes zu unterrichten. Er erinnerte sich, den Namen der beiden zum ersten Mal von seiner Mutter gehört zu haben. Man kannte sich also und sie wussten sicher auch, wie er hieß. Vielleicht wollten sie auf eine Anzeige verzichten, den Vorfall aber aus pädagogischen Gründen nicht auf sich beruhen lassen.

Wieder daheim beruhigte er sich. Die Mutter hatte offenbar keinen Besuch bekommen, aber er hatte auch keine Lust auf einen Besuch bei Sonja. Sie meckerte ein bisschen, war aber nicht ernsthaft gekränkt. Er warf sich aufs Bett und schlief sofort ein. Im Traum lag er in einem finsteren Kellerloch mit schweren Handeisen, die ihm ein alter Mann anlegte, ohne ein Wort zu sagen. Er ließ es seinerseits schweigend geschehen, weil er wusste, dass der alte Mann im Auftrag einer Hexe handelte. Sie mussten gemeinsam die Hexe besiegen, ehe er wieder freikommen konnte.

Im Aufwachen fiel ihm sein Großvater ein, der einzige Mensch, der ihn je geschlagen hatte. An den Anlassfall erinnerte er sich kaum, aber deutlich an die plötzliche Erleichterung nach den Schlägen. Alles an seinem Platz. Nimm es oder lass es. Es gibt höhere Mächte. - Er war dem Großvater nicht böse, erzählte aber trotzdem der Mutter davon. Die beiden hatten einen heftigen Streit deswegen, und der Großvater kam seltener zu Besuch. - Jetzt musste er wieder an Herrn Malys Hand denken, eine große schwere Hand zur Herzgegend geführt, mit einem vielsagenden Blick. Sie hatten wohl alles gesehen.

Am nächsten Morgen kam ihm vor, dass der Kleiderschrank zu duften begann. Er packte das Parfum in seinen Rucksack und warf es unterwegs in eine Mülltonne. Danach fühlte er sich erleichtert. Er hatte Herrn Malys Geste mit einer entgegengesetzten beantwortet und damit auch symbolisch auf Sonja verzichtet. Alles war im Lot. - Bis zu dem Morgen, an dem er das Ehepaar vor den Schaufenstern des Reisebüros stehen sah, in dem er arbeitete. Dort also wollten sie ihn stellen, ihm auftragen, das Diebesgut zu bezahlen oder zurückzuerstatten. Er zitterte vor Wut und Aufregung und beruhigte sich nur schlecht und recht, als sie nach wenigen Minuten ihren Weg fortsetzten.

Schließlich nahm er sich vor, ein Treffen im Park zu arrangieren. Er wusste, dass sie dort spätabends gern ihre Runden drehten. Im Schutz der Dunkelheit wollte er sich zur Rede stellen lassen und ihre Forderungen hören. Wahrscheinlich würden sie ihm einen langen Vortrag halten, ihn vielleicht auch beschimpfen. Sie hatten seinerzeit zwar weder die Zigaretten noch die Knutscherei mit Renate kommentiert, aber diesmal war es wohl etwas anderes. Vielleicht sollte er ihnen erzählen, dass das Parfum als Weihnachtsgeschenk für die Mutter gedacht war.

Sein Plan drohte zu scheitern. Eine Woche lang lief er jeden Abend durch den finsteren Park, aber sie zeigten sich nicht. Er überlegte, ob er ihnen vor ihrem Haus auflauern sollte. Als er schon auf dem Heimweg war und eine Abkürzung über einen der Seitenwege nahm, kamen ihm zwei junge Männer entgegen und verlangten eine Zigarette für jeden. Da er keine dabei hatte, wollten sie Geld und sein Handy. Er war nicht bereit, das eine oder das andere herauszurücken. Da forderten sie ihn auf, seinen Anorak auszuziehen. Er war verrückt genug, sich zur Wehr zu setzen.

Sie waren älter, größer und kräftiger, aber er schlug auf sie ein, biss den Einen in die Hand und verpasste dem Anderen einen Tritt gegen das Schienbein. Das alles geschah ohne viele Worte. Plötzlich war ein Messer im Spiel. Oliver hörte das leise Klicken, als es aufsprang. Später sagten die beiden, dass sie ihm nur drohen wollten, ihn auch mehrmals gewarnt hätten. Er aber habe sich in besinnungsloser Wut auf sie gestürzt. Dabei sei es passiert. Das Messer trat zwischen den Rippen in die linke Seite seines Brustkorbs ein. Sie hätten in Panik die Flucht ergriffen.
 
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