die ghasele von der tonika

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
die ghasele von der tonika

[ 4]die ghasele von der tonika


du bist was du bejahst und ohne unterschied
als eins mit dir erkennst die tonika im lied

die achse aller symmetrie das gleichgewicht
all dessen was um mitte dich herum geschieht

die wahrheit jeder gleichung der die rechnung stimmt
das aug im auge deutend was dein auge sieht

du kannst nicht sterben denn du selber bist der tod
der durch die zeit als ewges hier und jetzt-sein zieht

du kannst dich nicht verlassen nicht aus diesem jetzt
heraus dich schieben nie verrät dich nie verriet

dich dies geheimnis offenbar ist dir dein sein
so offenbar und klar wie es zugleich vermied

dich anderen zu offenbaren und auch du
die andren nicht erkennst und auch kein andrer sieht

was du erkennst und weißt und bist und wie du heißt
so klingt nur dir dein name singt als ich dein lied
 
Das ist ja wieder einmal ein tolles Rätselgedicht.

Was ist Ghasele? Goto wiki. Eine lyrische Gedichtform aus Arabien. Uralt.
Der ursprüngliche erotische Inhalt wurde später auf mystische Themen erweitert. Daher vermischten sich beide Lebensbereiche. Tolle Idee.
Ghasele enthält eine strenge Versform, die Goethe nicht gefiel. Ich empfand das Versmaß als angenehm.

Was ist eine Tonika? Goto wiki. Ein Grundton, eine Klangform, ein Akkord. Die Tonika steht „wie ein Magnet im Zentrum aller harmonischen Spannungsfelder“ (nach Wikipedia/ Tonika).
Eine interessante lyrische Kombination. Arabisch Lyrik mit erotisch-mystischen Inhalten wird mit musikalischer, zentrierter Harmonielehre verbunden. Wow. Un point.

Mit den Textinhalten tue ich mich schwer bei Dir. Ich sage einmal, was bei mir ankommt: die Welt ist Klang, und (dein) nomen est omen.
Klasse Dichtung!
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ein sehr schönes und verzwirbeltes Gedicht.
Es gibt mehrere Lesarten durch die fehlende Interpunktion und die durchgehende Kleinschreibung.
Mir erscheint es als poetische Verkörperung einer parakonsistenten Logik und zugleich selbstähnlich in allen Teilen.

Ich bin froh, dass Rhondaly DaCosta etwas zu dem Gedicht geschrieben hat, ich habe es mehrfach gelesen und wollte schreiben, denn es gefällt mir gut auf sehr eigenartige Weise, aber die hohe Komplexität verhinderte zugleich das Schreiben einer einfachen Betrachtung.

Warum "quasikonsistent"?
Ich kenne den Begriff erst seit kurzer Zeit, und er hat mir gefehlt, denn das Phänomen kenne ich lange schon.

Das Gedicht weist zahlreiche Stellen auf, die logisch widersprüchlich sind. Mathematisch würde es zusammenbrechen, man könnte alles daraus ableiten. Aber genau das geschieht nicht. Und es sind keine trivialen Widersprüche. Im Wesentlichen ist das Gedicht logisch konsequent und konsistent. Die spannenden Stellen sind die logischen Brüche.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
das ich setzt sich selbst (fichte)

dankeschön für die kommentare sowohl dir, Rhondaly, wie dir, Bernd!
da ich gerade nur kurz zeit habe, nur kurz das wichtigste: ich suche die logischen widersprüche, Bernd, ich hatte eher die sorge, das tonika-thema könnte in hohlen tautologien lang und länger dahinweilen. denn die tonika ist in der harmonielehre gut vergleichbar dem, was tautologien in der logik sind. ich habe es noch mit der transzendnental-idealistischen ich-philosophie gekreuzt und diese wiederum mit der mystischen grundidee vom ewigen "jetzt", aus dem man nicht herausfallen kann. diese grundstruktur kann durchaus paradox sein, aber eigentlich nur, wenn sie eine negation enthält, wie das "ich lüge" oder Russells barbier, der nur die rasieren darf, die sich nicht selbst rasieren, oder natürlich seine menge aller sich nicht selbst als element enthaltenden mengen ("enthält sie sich nun als element oder nicht?"). die roycesche landkarte (weiß nicht, ob ich das nun richtig geschrieben habe) oder die bloße "menge aller mengen" sind natürlich nicht paradox, solange sie keine selbstbezügliche negation enthalten.
nun könnte die privatheit des ich mit seinen privaten empfindungen, die von keinem anderen eingesehen werden kaönnen, solch eine negation sein. aber ich sehe keine selbstbezüglichkeit der negation darin. zeigst du sie mir bitte, Bernd? dann findest du vielleicht einen spannenden sprung im lied, der es vor dem alles=nichts der hohlen tautologien-übereinstimmung retten könnte.
einen widerspruch (nicht selbstwiderspruch) enthält es gewiß: es ist anti-relativistisch, anti-skeptisch, behauptet eine absolute wahrheit und ein selbsttragendes fundament, als ob es keine musik jenseits der kadenzen und tonalitäten gäbe. jedes zwölftonstück widerspricht der "ewigen tonika", da es keine hat oder sucht oder auch nur auf eine tonika interpretatorisch beziehbar wäre.

grusz, hansz
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Hansz,

ich gehe nur mal jetzt auf eine Zeile ein, die herausgelöst natürlich Fetzen von Zusammenhängen nach jeder Seite hängen lässt:

die wahrheit jeder gleichung der die rechnung stimmt

Sie sagt zugleich aus:
1) Jede Gleichung, der die Rechnung stimmt, ist wahr.
2) die Wahrheit/der Wahrheitswert jeder Gleichung, der die Rechnung stimmt, ist wahr. (klassische Betrachtung)
3) die Wahrheit jeder Gleichung, die korrekt gebildet ist, kann bestimmt werten und hat einen Wert oder auch nicht.

1. Wir nehmen an, der Satz sei wahr.
Dann gilt er auch von sich selbst.

1.1. Wenn er wahr ist, ist er wahr, wenn die Rechnung stimmt.
Hier kommt er mit sich selbst scheinbar in Einklang.
Aber die Rechnung kann auch bei unwahren Sätzen stimmen.
Beispiel: Vier=Fünf ist falsch.
Die Rechnung stimmt.
Wir betrachten also die Wahrheit von vier=fünf ist falsch. Dieser Wert ist (in klassischer Logik) wahr.
Nehmen wir an, wir besimmen 1)
Jede Gleichung, in der vier=fünf falsch ist und keine zusätzlichen Werte vorkommen, ist wahr.

Eine Gleichung in der die Rechnung nicht stimmt, kann wahr oder falsch sein, darüber ist nichts gesagt.

Ist sie falsch: dann stimmt die Gleichung, der die Rechnung stimmt, die falsch ist, ist falsch.
Das können wir bis zur Absurdität weiterführen.

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Was aber passiert, wenn die Rechnung stimmt und die Gleichung ist falsch und wahr zugleich?
Dann sagt sie über sich selbst aus, sofern in ihr die Rechnung stimmt, sie sei wahr. Das kann aber nicht sein, denn sie sagt ja gerade aus, dass sie wahr und falsch zugleich sei.

Das ist in klassischer Logik nicht möglich, wohl aber in parakonsistenter Logik.

Auch die Aporien von Xenon sind hier keine echten Probleme mehr. Ein Pfeil kann an einer Stelle und zugleich an einer anderen sein, ohne, dass alles zusammenbricht.

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Nicht nur Negationen führen zu Problemen in klassischer Logik.

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Nun ist es aber ein Gedicht, das weit über Logik hinausgeht.
Es ist quer über die Verse verknüpft.
Es zieht sich durch die poetischen Dimensionen wie ein Möbiussches Band.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
selbstähnliche selbstenthältnisse

das gefällt mir sehr gut, die überlegung zu paralogischen sätzen eingelagert in logischen (wenn ichs richtig verstanden habe); vor allem deshalb, weil es eine fruchtbare entsprechung zur musikalischen harmonik hat, die ja das thema dieser ghasele ist:

die tonika ist der dreiklang auf dem grundton.

dreiklänge sind die gehörte komplexe empfindung der vielfachen einer schwingung, die wir "obertöne" bzw. "teiltöne" nennen, also (außer dem einfachen) das zweifache, dreifache, zweimalzweifache, fünffache und zweimaldreifache der grundschwingung (des einfachen).
das ist die oktave über dem grundton, dann die quinte über dieser oktavierung, dann wieder die (nochmals oktavierte) oktave, dann als fünfter teilton die große terz über dem zweifach oktavierten grundton und dann wieder die (oktavierte) quinte. die ersten sechs teiltöne ergeben einen durdreiklang, dessen grundton dreifach, quintrahmen zweifach und terz in der mitte zwischen grundton und quinte einmal vorkommt. z.b. C'CGceg.

da der grundton der dominante schon als dritter teilton in der teiltonreihe mit drin ist, sind alle dreifachen der ursprünglichen grundschwingung mit in der teiltonreihe enthalten. d.h. die dominante ist in der tonika enthalten.

aber die subdominante ist es leider nicht.

wenn man aber die tonika als dominante einer tieferliegenden quinte auffaßt (wie unser musikverständnis es leistet), dann ist die subdominante ein grundakkord, in dem die tonika eingelagert ist, in der wiederum die dominante eingelagert ist. die dominante ist dann die reihe der jeweils neunten teiltöne über dem subdominantischen grundton, wie die tonika aus allen verdreifachungen der grundschwingung besteht.


fichte:
das ich setzt sich selbst.
das ich setzt sich ein nicht-ich entgegen.
das ich setzt sich innerhalb seiner selbstsetzung ein nichtich entgegen.


(by the way - hast du schon meine sapphische ode gelesen? ich frage, weil du eigentlich jede "neue" (oder zumindest seltenere) feste form besuchst und deutlich ins auge faßt. sie heißt "o-ton sapphisch" und ist noch nicht so alt.

ich schon,
grusz, hansz)
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Hansz,
es gehört zu meiner "parakonsistenten" Arbeitsweise, dass ich manchmal zwischen vielen Sachen entscheiden muss, wobei einige dann aus dem Gedächtnis fallen. Gelesen habe ich sie wohl. Im Prinzip ist der Gesundheitszustand meiner Mutter umgekehrt proportional zur Dauer, die ich im Forum verbringe.
---
Kennst Du das Subharchord?
Es gab nur wenige davon und leider ist das Dresdner aus dem Trickfilmstudio während der Wendezeit auf undefinierte Weise demontiert worden, niemand weiß, wo die Teile gelandet sind.

Das Besondere: Es verwendete "Untertöne" statt Obertöne zur Akkorderzeugung.
Ein sehr faszinierendes Teil. Es gibt Beispiele, wie es klang, und es existieren noch zwei oder drei Exemplare in Museen.


Ich selber habe als Kind begonnen, Mandoline zu lernen. Es war zwar ein Fehlschlag, ich war im dritten Schuljahr über ein Vierteljahr krank und im Krankenhaus. Als ich zurückkam, war die Mandolinengruppe aufgelöst. Ich habe noch kurz versucht, im Selbststudium zu lernen, das aber nicht geschafft.Jedoch kannte ich seit dieser Zeit die musikalischen Begriffe und konnte bis zum Stimmbruch recht gut singen, war sogar mit im Schulchor für kurze Zeit.

In der Gegenwart habe ich vor zehn Jahren ein Theremin gebaut. Es ist ein völlig monotones Instrument, das berührungslos auf Körperbewegungen reagiert.

So lese ich Gedichte nicht (zumindest nicht in erster Linie) rational, sondern gemischt rational und emotional, beachte Klang, lausche dem Klang der Worte und der Wörter, die sich mit den Sinnlinien mischt.

So wirst Du auch leichter sehen, wie es sich mit den Limericks verhält - sie sind sehr musikalisch, das erlaubt im Auftakt Freiheiten, aber die Gesamtrhythmik muss exakt stimmen.
Dabei kann es sogar eine leere stumme betonte Silbe geben. Das ist aber extrem selten, viel öfter kommen solche vor, bei denen die Melodik und die Pointenführung nicht stimmt.

An eigenen Limericks arbeite ich oft jahrelang. Manchmal stimmen sie jedoch sofort.

PS:

Musik in "temporierter Stimmung" ist parakonsistent hinsichtlich der Harmonik. - habe ich eben erkannt.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
danke, wunderbar, Dein "Anhang"!

ja, ich weiß (durch Deine gelegentlichen Hinweise), Deiner Mutter gehts nicht gut, ich empfinde mit.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Musik in "temporierter Stimmung" ist parakonsistent hinsichtlich der Harmonik. - habe ich eben erkannt.
hervorragend!
trotz aller begeisterung über die teiltonreihe, die in jedem natürlichen klang als tonika (und eingelagerte dominante) mitschwingt bin ich ein viel zu entzückter bruckner-fan, als daß ich den wert der temperierten stimmung verkennen könnte. oder kürzer: ich bin geradezu berauscht, völlig hin und weg von der art, wie bruckner z.b. im ersten satz der neunten sinfonie modulationstreppen baut, endlos in die himmel hinein, die sich zu immer weiteren neueren himmeln öffnen, das ist nur durch temperierte stimmung möglich. selbstverständlich!

und nur durch temperierte stimmung ergibt sich die rumpelstelz-identität (durch selbstzerreißung mit sich identisch zu werden): der tritonus des tritonus ist der (oktavierte) ausgangston. darüber die eben neu in die lupe eingespeisten 16 distichen.
(die saftige elegie, der ich mit meiner schlangenpredigt in die wege gekommen bin, hat es aber verdient, per kommentar wieder darübergerückt zu werden, und eben das hab ich gerade getan, und diese anmerkung nun bleibt eine "textassoziation", damit die elegie oben bleiben kann.)
 



 
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