Albert saß auf seiner Parkbank und sah einer türkischen Großfamilie beim Picknick zu. Es war seine Bank, weil er hier jeden Tag eine Rast einlegte, selbst wenn sie, wie jetzt im Sommer, manchmal besetzt war und er sich auf den äußersten Rand setzten musste. Aber heute hatte er Glück gehabt, der alte Mann der hier gesessen hatte, ist gleich aufgestanden und gegangen, als Albert sich darauf niederließ. Albert lächelte über seine Gedanken, er war selber ein alter Mann, aber im Gegensatz zu anderen alten Menschen empfand er sein Alter als persönlichen Feind. Für ihn war das Alter wie eine wissende und grausame Kreatur, die mit ihm spielte, ihn manchmal ihre Überlegenheit fühlen ließ, sich dann zurückzog, das er sie fast vergaß, nur um ihn dann wieder niederzudrücken. Allerdings glaubte er auch den ewig heiteren, ewig jungen Greisen nicht. Schließlich war er Arzt, er kannte die Anzeichen der schmerzenden Gelenke, des flachen modrigen Atems der das lachende Gesicht zu verhöhnen schien. Er fragte sich manchmal, ob sie wohl logen oder ob sie wirklich vergessen hatten, wie es war, jung zu sein.
Da erzählten sie, es mache ihnen keinen Spaß, weite Urlaubsreisen zu machen, anstatt zu sagen, dass sie die Kraft nicht mehr hätten. Die andere Fraktion waren die Berufsalten, die wandelnden Krankenblätter. Mit ihnen hatte er zwar ein gewisses Mitgefühl, weil sie sich nicht verleugneten – wäre er nicht Arzt gewesen, hätten ihn die Geschichten ihres Leides vielleicht unterhalten; leider hatte er sie früher schon zu oft anhören müssen.
Albert beobachtete sein Altern, er kämpfte nur matt dagegen an, allerdings konnte er ihm keine Qualität abgewinnen. Es gab nichts was jetzt besser war, als vor dreißig Jahren - er war immer ein schlechter Lügner gewesen, nicht einmal sich selber konnte er belügen.
Obwohl Albert nie von sich aus ein Gespräch anfing, hörte er den anderen Alten manchmal doch aus Höflichkeit zu. Eine hohe Anzahl überlebter Jahre schien den meisten Menschen eine ausreichende Gemeinsamkeit zu sein, um zutraulich zu werden.
Am anderen Ende der Wiese war der Spielplatz, dort sprachen die jungen Mütter einander an, alleine die Tatsache ein kleines Kind zu haben, schien eine Rechtfertigung zu sein, jemand völlig fremden anzusprechen.
Albert wollte nicht angesprochen werden. Er fühlte sich weder von anderen Greisen, noch von jungen Menschen angezogen. Sie waren ihm gleichgültig, so wie ihm fast alles gleichgültig war, außer seiner noch verbliebenen Fähigkeit zu denken. Er war jetzt achtundsiebzig, in seiner Familie waren viele über neunzig geworden; so hatte er wohl noch an die fünfzehn lange Jahre vor sich.
Albert war seit zwanzig Jahren Witwer, er hatte lange um Martha getrauert. Diese Trauer hat ihn wie ein Laken bedeckt und beschützt.
Eigentlich hatte er gedacht, sie würde bis ans Ende seines Lebens vorhalten, doch irgendwann musste er sich eingestehen, dass sie sich abnütze – abnütze wie ein alter Stoff, brüchig und fadenscheinig wurde. Er begann die Welt durch die verschlissenen Stellen zu sehen und bemerkte, dass er einsam war.
Es war wie in seiner Kindheit, mit einem übergeworfenen Betttuch hatte er seine Schwester erschreckt, nur als sie älter wurde, hatte sie es ihm einfach heruntergerissen und ihn ausgelacht.
So stellte sich nach der Trauer um Martha die Melancholie ein - dieses Gefühl von nächtlicher Weite, vom Wissen und Verstehen der Endlichkeit. Wie hatte er damals erst die Gläubigen beneidet. Er selber kletterte eine gläserne Leiter empor, je weiter der Horizont wurde, desto unerreichbarer war er für ihn.
Albert war ein nüchterner Mensch, so hatte er sich vor Jahren verordnet, jeden Tag einen Stunde spazieren zu gehen, genau wie er es früher seinen alten Patienten empfohlen hatte. Heute war es eine feste Gewohnheit für ihn, aber er würde es keinem Patienten mehr verschreiben. So etwas tut ein Mensch der das Alter noch nicht kennt, der noch nicht weiß dass es eine Droge ist, der jeder unweigerlich einmal verfällt, der nicht jung stirbt. Das Alter zehrt den Körper aus, berauscht das Gehirn auf eine unangenehme Art und schließlich beschäftigt man sich, wie ein Junkie, nur noch mit seinem Körper, krallt sich an das Leben, fühlt den Puls, misst den Blutdruck und befingert besorgt die Lymphknoten. Glücklicherweise hat man mit der Droge Alter keine Beschaffungsprobleme, man bekommt sie wie in einer Bierschwemme, immer nachgeschenkt, noch bevor man bestellt hat. Gut, Albert dachte manchmal auch, es wäre die Droge Leben, an die man sich klammert – was aus seiner Sicht dagegen sprach war die Veränderung, welche die Jahre bewirkte. Die Realität veränderte sich, Wege wurden länger, die Gedanken begannen taumelnd um Vergangenes zu kreisen. Die Perspektive wurde zu einem Spiegel, wenn er glaubte, nach vorne zu sehen, sah er sich über die Schulter. Das Gedächtnis bekam ein Eigenleben - wurde ein störrischer, missgünstiger Diener, brachte Dinge nach denen er nicht verlangt hatte, versteckte manches was er grade dringend benötigte. Albert hatte früher Drogen genommen, er kannte die Verschiebungen, die Fixierungen bis zur Halluzination – all das bekam er heute umsonst weil seine Gehirnleistung nachließ, nicht mehr die richtigen Verknüpfungen fand.
Albert lehnte den Vergleich von Greisen mit Kindern kategorisch ab, bis auf einen Punkt – die Zeit. Sie schien für kleine Kinder und Alte eine andere zu sein, als für den Rest der Menschheit. Auch er konnte in einer Bäckerei stehen, unentschlossen sich zu entscheiden, weil jede Entscheidung alle anderen Möglichkeiten ausschloss. Nur ihm sah man dies nicht nach wie einem Kind, er fühlte die Blicke der Eiligen in seinem Nacken brennen. Mit einer bösartigen Genugtuung stellte er allerdings fest, die Nachsicht mit den Kindern war auch nicht sehr groß. Nur trafen die Blicke dann die Mütter.
Wie ein Kind konnte Albert auch ohne ein Gefühl für die Zeit zusehen. Einfach nur zusehen - anderen Menschen, dem Verkehr, furchtlosen Großstadttauben, selbst den Regentropfen die eine Scheibe entlang rinnen, verharren, aufeinander treffen, schneller werden und schließlich herabfließen. Dies war aber, nach Alberts Meinung, die einzige Gemeinsamkeit zwischen den sehr alten und den sehr jungen. Darum hielt er auch die gerühmten geduldigen Großeltern für eine völlige Fehleinschätzung, diese alten Menschen waren nicht geduldig, sie hatten lediglich das gleiche Zeitgefühl wie ihre Schutzbefohlenen.
Albert stützte sich mit beiden Händen auf seinen Gehstock, als er sich von der Parkbank erhob. Einen Augenblick schien alles dunkel zu werden, seine Beine im Morast zu versinken. Hastig griff er nach seinem Puls, alles normal, nur der Kreislauf. Als Albert weiter ging, war auf seinem Gesicht ein kleines ironisches Lächeln, war doch das Leben die Droge – und ein Plan für Morgen, für nächste Woche die einzige Möglichkeit, seinen Feind in Schach zu halten – jedenfalls eine Weile.
Da erzählten sie, es mache ihnen keinen Spaß, weite Urlaubsreisen zu machen, anstatt zu sagen, dass sie die Kraft nicht mehr hätten. Die andere Fraktion waren die Berufsalten, die wandelnden Krankenblätter. Mit ihnen hatte er zwar ein gewisses Mitgefühl, weil sie sich nicht verleugneten – wäre er nicht Arzt gewesen, hätten ihn die Geschichten ihres Leides vielleicht unterhalten; leider hatte er sie früher schon zu oft anhören müssen.
Albert beobachtete sein Altern, er kämpfte nur matt dagegen an, allerdings konnte er ihm keine Qualität abgewinnen. Es gab nichts was jetzt besser war, als vor dreißig Jahren - er war immer ein schlechter Lügner gewesen, nicht einmal sich selber konnte er belügen.
Obwohl Albert nie von sich aus ein Gespräch anfing, hörte er den anderen Alten manchmal doch aus Höflichkeit zu. Eine hohe Anzahl überlebter Jahre schien den meisten Menschen eine ausreichende Gemeinsamkeit zu sein, um zutraulich zu werden.
Am anderen Ende der Wiese war der Spielplatz, dort sprachen die jungen Mütter einander an, alleine die Tatsache ein kleines Kind zu haben, schien eine Rechtfertigung zu sein, jemand völlig fremden anzusprechen.
Albert wollte nicht angesprochen werden. Er fühlte sich weder von anderen Greisen, noch von jungen Menschen angezogen. Sie waren ihm gleichgültig, so wie ihm fast alles gleichgültig war, außer seiner noch verbliebenen Fähigkeit zu denken. Er war jetzt achtundsiebzig, in seiner Familie waren viele über neunzig geworden; so hatte er wohl noch an die fünfzehn lange Jahre vor sich.
Albert war seit zwanzig Jahren Witwer, er hatte lange um Martha getrauert. Diese Trauer hat ihn wie ein Laken bedeckt und beschützt.
Eigentlich hatte er gedacht, sie würde bis ans Ende seines Lebens vorhalten, doch irgendwann musste er sich eingestehen, dass sie sich abnütze – abnütze wie ein alter Stoff, brüchig und fadenscheinig wurde. Er begann die Welt durch die verschlissenen Stellen zu sehen und bemerkte, dass er einsam war.
Es war wie in seiner Kindheit, mit einem übergeworfenen Betttuch hatte er seine Schwester erschreckt, nur als sie älter wurde, hatte sie es ihm einfach heruntergerissen und ihn ausgelacht.
So stellte sich nach der Trauer um Martha die Melancholie ein - dieses Gefühl von nächtlicher Weite, vom Wissen und Verstehen der Endlichkeit. Wie hatte er damals erst die Gläubigen beneidet. Er selber kletterte eine gläserne Leiter empor, je weiter der Horizont wurde, desto unerreichbarer war er für ihn.
Albert war ein nüchterner Mensch, so hatte er sich vor Jahren verordnet, jeden Tag einen Stunde spazieren zu gehen, genau wie er es früher seinen alten Patienten empfohlen hatte. Heute war es eine feste Gewohnheit für ihn, aber er würde es keinem Patienten mehr verschreiben. So etwas tut ein Mensch der das Alter noch nicht kennt, der noch nicht weiß dass es eine Droge ist, der jeder unweigerlich einmal verfällt, der nicht jung stirbt. Das Alter zehrt den Körper aus, berauscht das Gehirn auf eine unangenehme Art und schließlich beschäftigt man sich, wie ein Junkie, nur noch mit seinem Körper, krallt sich an das Leben, fühlt den Puls, misst den Blutdruck und befingert besorgt die Lymphknoten. Glücklicherweise hat man mit der Droge Alter keine Beschaffungsprobleme, man bekommt sie wie in einer Bierschwemme, immer nachgeschenkt, noch bevor man bestellt hat. Gut, Albert dachte manchmal auch, es wäre die Droge Leben, an die man sich klammert – was aus seiner Sicht dagegen sprach war die Veränderung, welche die Jahre bewirkte. Die Realität veränderte sich, Wege wurden länger, die Gedanken begannen taumelnd um Vergangenes zu kreisen. Die Perspektive wurde zu einem Spiegel, wenn er glaubte, nach vorne zu sehen, sah er sich über die Schulter. Das Gedächtnis bekam ein Eigenleben - wurde ein störrischer, missgünstiger Diener, brachte Dinge nach denen er nicht verlangt hatte, versteckte manches was er grade dringend benötigte. Albert hatte früher Drogen genommen, er kannte die Verschiebungen, die Fixierungen bis zur Halluzination – all das bekam er heute umsonst weil seine Gehirnleistung nachließ, nicht mehr die richtigen Verknüpfungen fand.
Albert lehnte den Vergleich von Greisen mit Kindern kategorisch ab, bis auf einen Punkt – die Zeit. Sie schien für kleine Kinder und Alte eine andere zu sein, als für den Rest der Menschheit. Auch er konnte in einer Bäckerei stehen, unentschlossen sich zu entscheiden, weil jede Entscheidung alle anderen Möglichkeiten ausschloss. Nur ihm sah man dies nicht nach wie einem Kind, er fühlte die Blicke der Eiligen in seinem Nacken brennen. Mit einer bösartigen Genugtuung stellte er allerdings fest, die Nachsicht mit den Kindern war auch nicht sehr groß. Nur trafen die Blicke dann die Mütter.
Wie ein Kind konnte Albert auch ohne ein Gefühl für die Zeit zusehen. Einfach nur zusehen - anderen Menschen, dem Verkehr, furchtlosen Großstadttauben, selbst den Regentropfen die eine Scheibe entlang rinnen, verharren, aufeinander treffen, schneller werden und schließlich herabfließen. Dies war aber, nach Alberts Meinung, die einzige Gemeinsamkeit zwischen den sehr alten und den sehr jungen. Darum hielt er auch die gerühmten geduldigen Großeltern für eine völlige Fehleinschätzung, diese alten Menschen waren nicht geduldig, sie hatten lediglich das gleiche Zeitgefühl wie ihre Schutzbefohlenen.
Albert stützte sich mit beiden Händen auf seinen Gehstock, als er sich von der Parkbank erhob. Einen Augenblick schien alles dunkel zu werden, seine Beine im Morast zu versinken. Hastig griff er nach seinem Puls, alles normal, nur der Kreislauf. Als Albert weiter ging, war auf seinem Gesicht ein kleines ironisches Lächeln, war doch das Leben die Droge – und ein Plan für Morgen, für nächste Woche die einzige Möglichkeit, seinen Feind in Schach zu halten – jedenfalls eine Weile.