Blumenberg
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Farngeflüster
Wann genau Stickels Geschichte begann ist gar nicht so leicht zu bestimmen. Für uns mag es genügen, dass er eines Tages seinen Briefkasten leerte und darin einen Umschlag mit unbekanntem Absender vorfand. Diesem entnahm Stickel eine etwas altmodische Büttenpapierkarte mit einem leichten Cremestich, die ihn aufforderte der Beerdigung eines Herrn T. beizuwohnen und zu dem traurigen Anlass um einen Redebeitrag seinerseits bat. Der Namen des Verstorbenen vertiefte die Verwirrung nur noch, ging es doch um den letzten Weg eines Mannes bei dem er sich zunächst nicht sicher war gewesen war, ihm überhaupt zuvor begegnet zu sein. Etwas später entsann sich Stickel eines ehemaligen Nachbarn gleichen Namens, zu dem er, außer ein paar Gesprächen über den Zaun hinweg, nie engeren Kontakt gepflegt hatte. Der Mann war ihm damals äußerst verschroben vorgekommen.
Der Karte lag ein Brief bei, den der Verstorbene kurz vor seinem Tod aufgesetzt hatte, mit dem Wunsch, diesen nach seinem Hinscheiden umgehend an Stickel weiterzuleiten. Darin bat T. um eine Rede und forderte ihn auf, ein bestimmtes Thema zu verhandeln, welches ihm, dem Verstobenen, schon länger am Herzen gelegen, sich aber im Ausgang seines Lebens mehr und mehr zum bestimmenden Inhalt entwickelt habe. Seine anstehende Transformation in das in seinen und Gottes Augen ohne Zweifel nobelste Geschöpf der Erde, einen echten Farn. Neben ihrer langen Ahnenreihe zeichne sich die Familie der Polypodiopsida vor allem durch Robustheit und Anpassungsfähigkeit aus, Eigenschaften die den Verstorbenen, in seiner Wesensart so trefflich beschreiben würden, so dass dieser sich umgehend mit dem Gedanken habe anfreunden können, es müsse sich bei diesem um seine Seelenpflanze handeln. Abseits solcher, wie der Autor des Briefes freimütig einräumte, romantischer und sentimentaler Verstrickungen, gebe es aber noch einen handfesteren Grund. Als Farn wolle er der Gesellschaft etwas zurückgeben, da besonders die, durch seine lebenslange Pendlertätigkeit verursachten Co2 Emissionen schwer auf seinem Gewissen lasten würden, ganz besonders nachdem er habe erkennen müssen, dass der Klimawandel, entgegen seiner ersten Einschätzung doch realer sei, als sich selbst ein Mann vom Kaliber des Hingeschiedenen, der in seinem Leben, dass könne Stickel gerne glauben, einiges gesehen habe, auszumalen vermocht hätte.
T. habe, wie er schrieb, in den letzten Jahren seines Lebens vor allem die Sorge um das große und wunderbare Haus der Menschheit umgetrieben und er sei glücklich, dass ihm, bevor es endgültig zu spät gewesen sei, noch dieser tröstliche Ausweg aus seinen Seelenqualen offenbart wurde. Er sei fest entschlossen den nachfolgenden Generationen durch seine Transformation zu besserer Luft zu verhelfen und mittels Photosynthese wenigstens einen Teil der durch ihn verursachten Schäden zu beheben.
Er habe danach sein ganzes Leben auf den Übergang ins Pflanzliche ausgerichtet. Habe sich ausschließlich von Fleisch ernährt und hoffe durch diese Tat von Beginn an die Anerkennung der neuen Gemeinschaft zu finden, da er sich um die Bekämpfung des größten Fressfeindes vegetativen Lebens verdient gemacht habe. Daneben seien vor allem die Phasen regelmäßigen Sonnens und Gießens ein bestimmender Teil seines Tagesablaufs geworden. Bei letzterem, und das sei gar nicht so einfach wie es zunächst klingen könnte, sei es essentiell Staunässe zu vermeiden, diese bekomme ihm mit seinen rheumatischen Beschwerden überhaupt nicht, wie er bei den ersten Versuchen der Selbstbewässerung schmerzlich habe erfahren müssen.
Stickel war hin und hergerissen. Einerseits schien es ihm vollkommen unsinnig überhaupt daran zu denken, tatsächlich auf eine solch abstruse Bitte einzugehen. Andererseits stellte ihm der Verschiedene am Ende des Briefes bei Annahme eine nicht eben kleine Summe als Aufwand für die Mühe in Aussicht und die konnte Stickel gut gebrauchen. So entschloss er sich nach langem Ringen auf die Bitte des Verstorbenen einzugehen und kündete in einem kurzen Schreiben sein Kommen an. Er sei gerne zu einem Redebeitrag bereit, auch wenn ihn, dass mochte er nicht verhehlen, das Anliegen von Herrn T, wegen der mehr als flüchtigen Bekanntschaft etwas überrumpelt habe.
Stickel studierte den Brief noch etliche Male und versuchte sich der spärlichen Begegnungen mit T. zu erinnern, um ein Gefühl für den Verblichenen zu bekommen. Anschließend begann er mit der Recherche über die ihm bis dato herzlich gleichgültige Welt der Farne. Er lieh sich in der Bibliothek die einschlägigen Titel aus und mit zunehmender Dauer der Arbeit wuchs sein Ehrgeiz. Wenn man ihn schon dafür bezahlte eine solche Rede zu halten, wollte er sich nicht nachsagen lassen seine Aufgabe nur halbherzig oder gar lustlos erledigt zu haben. Stickel fand sogar ein wenig Freude am abschließenden Ausformulieren der Rede, die er, zu den besten zählte, die er jemals verfasst zu haben glaubte.
Am Tag der Beerdigung holte Stickel seinen Anzug aus der Reinigung, setzte sich ins Auto und fuhr die etwa zweihundert Kilometer in Eile. Er musste sich eingestehen, dass er, obwohl sonst ein geübter Redner, aufgeregt wie lange nicht mehr war. Da eine kirchliche Beisetzung nicht in Frage kam, der Verstorbene wollte schließlich ins Pflanzliche und nicht ins Paradiesische, hatte sich die Trauergemeinde direkt am Grab versammelt. Als Stickel eintraf, drehte sich die Handvoll Gäste zu ihm und sah ihn erwartungsvoll an. Eine ältere Dame löste sich von der Gruppe, trat ihm entgegen und gab ihm die Hand. Sie sei sehr froh gewesen, als sie seine Zusage erhalten habe und freue sich, dass er es tatsächlich geschafft habe. Er sei der einzige vom Verblichenen gewünschte Redner und eine schweigende Beisetzung als Folge seines Fernbleibens hätte sie als grausam empfunden. Zumal der Verstorbene auch noch ausdrücklich verlangt habe, dass das Grab leerzulassen sei damit nichts seine Entwicklung in ein prachtvolles Farnexemplar behindere. Erst nach der Entfaltung sei es gestattet ihm einen Gefährten zuzupflanzen.
Stickel war ein wenig betreten und beeilte sich ihr zu versichern, dass Ganze sei ihm eine außerordentliche Ehre und er hätte nicht einen Augenblick gezögert, als er den Brief seines ehemaligen Nachbarn erhalten habe. Sie lächelte und teilte ihm mit, die Trauergemeinde sei mit seinem Erscheinen komplett und bereit anzufangen, wann immer er sich soweit fühle.
Stickel nickte und trat an das Grab heran, um sich neben dem Sarg aufzustellen. Nach anfänglicher Nervosität fand er schnell in seine Routine, lobte Tugenden des Verstorbenen, und wies dabei ausdrücklich auf die augenfällige Wesensverwandtheit mit der Gattung der echten Farne, nicht der Farngewächse im Allgemeinen hin, hier gelte es unbedingt sorgfältig zu unterscheiden. Er fand anerkennende Worte für T.´s Wunsch der Gemeinschaft noch im Tod etwas zurückzugeben. Die Trauergäste lauschten seinen Worten mit feierlichem Ernst. Mit einer kleinen Episode am Gartenzaun gelang es ihm sogar, seiner Rede den richtigen Grad persönlicher Anteilname beizugeben um die Anwesenden zu Tränen zu rühren. Er versäumte nicht damit zu schließen, dass er nach dem Studium einer Pflanze, die, dass gebe er zu, vorher nicht mit der nötigen Beachtung bedacht habe, dem Urteil T.´s, den echten Farn als Meisterwerk in Gottes Schöpfungsplan anzusehen, nur zustimmen könne.
Zufrieden ließ er sich, nachdem er mit einem feierlichen letzten Gruß an den Verstorbenen geendet hatte, von den Anwesenden die Hand schütteln und versicherte jeden seiner persönlichen Anteilnahme an diesem Schicksalsschlag. Die Einladung zu Kaffee und Gedenken lehnte er freundlich aber bestimmt ab und bedankte sich bei der alten Frau die ihn in Empfang genommen hatte dafür, ihm die Möglichkeit gegeben zu haben, seinem alten Freund T. bei seinem letzten Weg zur Seite stehen zu können. Er sei sicher, dass der Verstorbene ihre so detailgetreue Umsetzung seiner Wünsche zu schätzen gewusst hätte.
Wochen später fuhr Stickel auf dem Weg zu einem Geschäftstermin noch einmal an jenem Ort vorbei, in dem er seine sonderbare Grabrede gehalten hatte und ihn plagte, wegen der erhaltenen großzügigen Summe ein schlechtes Gewissen. Schon einmal in der Gegend beschloss er, dem Toten seine Aufwartung zu machen und fand das Grab so vor, wie er es nach seiner Rede verlassen hatte. Ein schlichter Hügel Muttererde; unbewachsen, aber vor nicht allzu langer Zeit frisch bewässert und von allem Unkraut befreit. Ein wenig enttäuscht wandte sich Stickel ab und wollte seinen Weg fortsetzen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Die alte Dame, die ihn auf der Beisetzung begrüßt hatte näherte sich langsam der Grabstelle. Stickel verspürte nicht die geringste Lust auf das Gespräch in das ihn die Frau unweigerlich verwickeln würde, wenn sie seiner ansichtig würde und versteckte sich hastig hinter einem Busch. Bestimmt war sie es, die das Grab regelmäßig wässerte und mit liebevoller Gründlichkeit von anderen Pflanzen befreite. Die alte Dame blieb vor dem Grab stehen und sah sich verstohlen nach allen Seiten um. Sicher, dass niemand sie beobachtete entnahm sie ihrer mitgebrachten Tasche einen gemeinen Tüpfelfarn und pflanzte ihn sorgfältig auf das Grab. Nach getaner Arbeit warf sie einen prüfenden Blick auf das Resultat und drückte den Farn vorsichtig noch ein wenig an. Noch einmal blickte sie sich um ohne von Stickel Notiz zu nehmen, dann ging sie.