Die Grenze

jon

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Die Grenze
eine Studie

Er würde sterben. Er wußte es. Er wußte, wann, er wußte, woran, und er ahnte auch, warum. Und er war bereit, alles zu tun, um es zu verhindern.
„Was muß ich tun, um das Gegengift zu bekommen?“ fragte er.
„Es gibt nichts, was Sie tun könnten“, sagte die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Straßenlärm lag hinter dem Satz. Er konnte sonstwo gesprochen worden sein.
„Was, wenn ich einen Brief an die Polizei schreiben würde, in dem der Name meines Mörders steht? Ihr Name, Joanna.“
„Und dann?“ fragte die Frau irgendwo in ihrem Auto. „Was nützt es Ihnen dann noch, den Verdacht zu wecken gegen jemanden, der ohnehin nicht zu finden sein wird.“
„Ich habe Sie gefunden.“
„Haben Sie das? Wissen Sie, wie ich aussehe, wie ich jetzt heiße, wo ich lebe?“
„Ihr Kom…“ Schmerz schoß durch seinen Körper und raubte ihm den Atem.
„Herr Tomann?“ fragte die Frauenstimme.
Peter Tomann keuchte.
„Es tut mir leid“, sagte die Frau. „Ich hatte keine Wahl.“
„Und ich? Hatte ich eine Wahl?“
Einen Moment war nur der Straßenlärm in der Leitung. Dann sagte Joanna Johnson: „Nein.“
„Toll!“ schnauft der Mann. Langsam ebbte der Schmerz ab. „Haben Sie nicht Angst, daß Ihr Komplize geschnappt wird und auspackt?“
„Nein.“
„Immerhin hat er…“, Tomann atmete flach, „…hat er mir Ihre Nummer zugespielt.“
„Vielleicht dachte er, Sie könnten mich noch überreden, Sie zu retten. Er ist ein guter Soldat, wissen Sie. Er gehorcht, aber er denkt trotzdem mit. Ihm fehlen nur Informationen.“
„Was für Informationen?“ hakte Tomann schnell nach.
Johnson holte Luft, schwieg dann aber.
„Daß Sie…“, Tomann krümmte sich , „… noch leben?“
„Nein. Aber es hat damit zu tun.“
„Damit zu tun?“ keuchte Tomann. „Ich dachte, das … das wäre der Grund für … daß Sie mich … vergiftet … haben.“
„Nein.“
„Was dann?“
„Sie werden es nicht erfahren. Sie hätten noch zu viel Zeit, es weiterzutragen“, sagte Joanna Johnson und es klang kühl wie alles, was sie bisher gesagt hatte. Peter Tomann stellte sich ein eis-schönes, unbewegtes Gesicht vor. Graugrüne Augen, langes, weiches Haar, makellose weiße Haut.
„Sie hätten … versuchen können, mit … mit mir zu reden. Mein … Schweigen zu kaufen. Worüber auch … auch immer ich … schweigen soll.“
„Gekauftes Schweigen ist nie wirklich sicher. Jemand könnte mich überbieten.“
„Vielleicht hätten Sie mich … überzeugen können“, schlug Tomann vor.
„Vielleicht“, räumte Johnson ein, „Aber ich wäre Ihres Schweigens auch dann nie ganz sicher gewesen.“
„Vielleicht hätte ich Sie überzeugen können.“
„Wovon?“
„Daß ich schweigen kann. Sie sollten wissen, daß ich…“ Er begann zu hecheln, um den Krampf in seinem Bauch zu lösen. Er hörte Joanna Johnson hart schlucken. „Ist es … Ihnen … unan…genehm zu … hören, wie ich … wie ich sterbe?“
Die Frau schwieg.
„Sie hätten wenigstens … den Versuch … den Versuch unternehmen könn… können, mich … kennen…zu…lernen.“
„Wozu?“ fragte Johnson und zum ersten mal klang etwas mit: Müdigkeit.
„Vielleicht … hätten Sie … mich ganz nett gefunden?“
„Und?“
„Ich würde … jetzt nicht … diese … Schmerzen … haben.“
Keine Antwort.
„Sie … wissen“, kämpfte Tomann, „daß es … leicht ist, je… jemanden zu … töten, den man … nicht … nicht kennt.“
„Ja. Theoretisch.“
„Theo…retisch?“
„Wenn es jemals leichter für mich wird, jemand Unbekannten zu töten, weiß ich, daß ich die Grenze überschritten habe.“
„Wenn … Jemals? … Heißt das…?“
„Das heißt es. Es ist nicht … persönlich, Herr Tomann. Es ist eine rein … eine reine Kopfentscheidung. Und es tut mir leid, auch wenn Sie mir das nicht glauben.“
Peter Tomann lachte bitter. Für eine Sekunde legte sich der Schmerz in seinen Eingeweiden. Dann brach er mit doppelter Kraft wieder hervor und Tomann stöhnte.
Aus dem Telefon klang flaches, zerfetztes Atmen.
„Ich … glau…be … Ihnen tat…sächlich … nicht.“ Der Schmerz riß an Tomanns Bewußtsein. „Diese Grenze…“, versuchte Tomann sich an Worten festzuhalten, „würden Sie auch … jemanden um… umbringen, den Sie … den Sie lieben?“
Ein Schniefen klang von irgendwo.
„Harte Frage, ja?“ keuchte Tomann. „Vielleicht … hätten … hätten wir uns … ineinander … verliebt. Haben Sie … schon mal daran … daran gedacht, Miss … Johnson?“
„Vielleicht haben wir das ja.“
„Was? Ich mein… Wie meinen Sie das?“
Joannas Antwort ging in einer Flut von Pein unter, die über den Mann hinweg rollte, ihn umwarf, betäubte und an den Rand der Wirklichkeit spülte.
Irgend jemand weinte.
„Viola?“
„Mm“, verneinte die Stimme kraftlos. „Ihre Freundin würde so was nie tun. Oh Gott! Ich würde wirklich alles tun, um dir zu helfen, aber ich hab … keine Wahl, Peter. Ich habe keine Wahl …“
Und plötzlich wußte Peter Tomann, von wo Joanna Johnson sprach. Und wer sie war. Und warum sie ihn tötete. Und daß er sie liebte. Aber er konnte es ihr nicht mehr sagen. Er starb.
 



 
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