Die Grenzwelt - Erstes Kapitel

Arathas

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Tief in der Unendlichkeit des Weltraums...
Völlige Stille herrscht an diesem Ort. Gedanken würden so laut erklingen wie Meeresrauschen.
Aber es gibt hier kein Wasser, höchstens die Idee davon. Und der einzige Ozean ist das breitgefächerte, glitzernde Sternenmeer...
Richten wir unsere Augen nun auf einen hellen Punkt.
Eine Sonne spendet einem Planeten ihr Licht.
Wir befinden uns im Mittelpunkt des Universums, an einer Stelle, in der Wirklichkeit und Fantasie aufeinandertreffen. Es ist zwar technisch gesehen unmöglich, den Mittelpunkt von etwas zu ermitteln, das unendlich groß ist, doch das hindert ihn nicht daran, zu existieren.
Hier herrschen andere Naturgesetze als im restlichen Universum. Überall im All gründen Lebensformen ihre Zivilisationen auf dem Grundstein der Philosophie, der Physik oder etwas anderem, das sie für ziemlich fortgeschritten halten. Sie schwören auf Gesetze wie Schwerkraft, die Relativitätstheorie oder die Schlange im Supermarkt *(Jeder weiß: Sobald man sich an das Ende einer Schlange aus vierzig Einkaufswagen stellt, wird sich niemand mehr hinter einem anstellen, bis man an der Kasse angelangt ist). Und überall im All wären dies auch Gesetze, auf die es sich zu schwören lohnt.
Doch hier gibt es... andere Gegebenheiten.
Aus einer Laune der Natur und wegen einer bizarren Krümmung der Raum-Zeit befinden sich der Mittelpunkt und das Ende des Universums an der gleichen Stelle. Und sowohl am einen als auch am anderen Ende entstand im Laufe der Jahrmillionen ein Planet.
Der eine von ihnen trägt den Namen Lithios. Von einer hellen, jungen Sonne beschienen, rotiert er um seine eigene Achse, ohne jemals seinen Platz zu verlassen. Die Personen, die auf ihm leben, gaben ihm, sofern sie einer Sprache mächtig waren, den Beinamen Lichtwelt.
Der andere Planet - an der gleichen Stelle zwar, doch trotzdem eine Unendlichkeit weit entfernt - existiert so lange wie die Zeit selbst, im Herzen des Universums. Eine sterbende Sonne hüllt ihn in ein düsteres, bösartiges Licht. Dunkelheit reckt lechzend die Finger nach ihm und zerrt an seiner Lebenskraft.
Von seinen Bewohnern erhielt er den Namen Krap, doch treffender wäre wohl der Ausdruck Schattenwelt gewesen.
Lange Zeit existierten die beiden Welten, ohne voneinander zu wissen.
Aber dennoch... nichts bleibt auf ewig verborgen, und manchmal schwappen Dinge über, die nicht dazu bestimmt sind, die andere Seite jemals zu erreichen.
Je mehr Zeit verfließt, desto mehr schwappt... in die andere Welt hinüber. Man stelle sich in diesem Zusammenhang eine Badewanne vor, in die ständig neues Wasser rinnt.
Nicht alles, was zwischen Krap und Lithios wechselte - seien es Gedanken, Gefühle oder Ideen - erreichte sein Ziel. Immerhin mußten sie in Wirklichkeit eine unendlich lange Wanderung zurücklegen, um von einem Ort zu anderen zu gelangen, auch wenn die Welten theoretisch am selben Platz existierten.
Und manche von ihnen, sowohl helle, als auch dunkle Gedanken... blieben auf der Strecke zurück. Verloren sich, irgendwo in den Weiten zwischen den Planeten.
Langsam... aus dem Blickwinkel eines Einzelnen betrachtet dauerte es länger als eine Ewigkeit... bildete sich aus diesen Überbleibseln noch eine dritte Welt an der Stelle, an der Mittelpunkt und Ende aufeinander trafen. Es war keine Welt wie Lithios oder Krap. Sie war nichts besonderes. Sie war einfach nur.
Hätte sie überhaupt etwas sein können, so wäre sie wohl am passendsten mit dem Wort grau umschrieben worden.
Sie vereinte all das in sich, das für immer namenlos bleiben mußte, da es niemanden gab, der die Gedanken empfing. Sie vereinte alle Gefühle, die für immer ungespürt blieben, und alle Ideen, die nie verwirklicht wurden.
Nennen wir sie der Einfachheit halber die Grenzwelt.
Etwas begann, sich auf der Grenzwelt zu formen und... zu leben. Dieses Etwas - es soll in Ermangelung eines besseren Ausdruckes vorerst Wesen genannt werden - fing an, einen großen Haß auf alles zu entwickeln, das auf der Licht- oder der Schattenwelt existierte.
Es haßte das Leben, mehr noch als es das Licht oder die Dunkelheit haßte.
Und es war bestrebt, die Dinge selbst in die Hände zu nehmen.
Dies ist der Punkt, an dem unsere Geschichte beginnt...


Schatten hingen an der Wand wie bizarre Gemälde. Einer zeichnete sich durch ein wenig mehr Konsistenz von den anderen ab.
Es ließ sich nicht sicher sagen, wie lange er schon dagewesen war. Doch nun, wo er da war, schien er schon immer hier gewesen zu sein. Es konnte überhaupt kein Zweifel daran bestehen.
Eine Person saß über ihre Aufzeichnungen gebeugt an einem Tisch. Sie hatte die Bewegung des Schattens aus den Augenwinkeln beobachten können, ließ sich jedoch nichts anmerken. Ihr ganzes Leben lang hatte sie trainiert, keine Überraschung zu zeigen.
Sieh mich an, befahl eine Stimme aus der Dunkelheit.
Die Person schob ihren Stuhl zurück und stand langsam auf. Erst jetzt wandte sie sich dem Schatten zu. Dunkle Muster glitten über die Wand. Ein aufmerksamer Zuschauer hätte Konturen in ihnen ausmachen können. Ein aufmerksamerer Zuschauer hätte die Konturen außerhalb der Bewegungen ausmachen und in ihnen eine Person erkennen können. Ein noch aufmerksamerer Zuschauer hätte es vielleicht gar nicht soweit kommen lassen und wäre schon viel früher davongelaufen.
"Wer bist du?" fragte die Person am Schreibtisch. Sie trug keinerlei Waffen bei sich, aber ein Messer lag nur wenige Zentimeter entfernt auf dem Tisch. Der Bruchteil einer Sekunde würde genügen, um danach zu greifen und es auf ein Ziel zu schleudern. Doch die Person war sich durchaus bewußt, daß eine Klinge hier mit großer Wahrscheinlichkeit nichts auszurichten vermochte. Ebensogut könnte man versuchen, seine Möbel umzubringen.
Der Schatten trat aus der Wand. Es war weniger eine Aktion als vielmehr die Erinnerung einer solchen. Das menschliche Auge konnte den Vorgang nicht begreifen und nicht an das Gehirn weitergeben, was es gesehen hatte. So existierte der Eindringling nur als Schatten auf der Wand, oder als Wesen im Raum, obgleich ein Übergang stattgefunden haben mußte.
Die Person am Schreibtisch zwinkerte. Manche Menschen hätten längst die Flucht ergriffen, doch es war fragwürdig, ob Flucht eine sinnvolle Maßnahme darstellte. Erst würde sie herausfinden,welche Absichten der Eindringling verfolgte.
"Wer bist du?" wiederholte sie ihre Frage und achtete darauf, keinerlei Betonung hineinzulegen. Genausogut hätte sie von einem Blatt ablesen können, auf dem sie zwar die Buchstaben deuten, nicht aber verstehen konnte.
Nenn mich... den Grenzer.
"Was willst du, Grenzer?"
Sieh mich als deinen... Arbeitgeber.
"Ich habe eine Arbeit."
Wenn du meine Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erledigt hast, wirst du es nie wieder nötig haben, zu arbeiten.
Der Schatten besaß jetzt die Form eines Menschen. Die Proportionen stimmten zwar nicht völlig, aber man konnte erkennen, daß er sich Mühe gab. Eine eintönige graue Kutte bekleidete die Person. Die Gesichtspartie blieb unerkannt, denn eine breite Kapuze ragte weit über die Stirn und zog Finsternis an wie ein Magnet.
"Nun, wir können diskutieren."
Es ist ein Mord.
"Für solche Dinge bin ich ausgebildet."
Ein besonderer Mord. Er muß... dreimal ausgeführt werden.
"Drei Morde also."
Nein. Ein Mord. Dreimal an der selben Person. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Seele. Drei Wesen, die sich eine Seele teilen. Es ist ein wenig... kompliziert.
Die Person wartete einen Moment lang, ob noch weitere Ausführungen folgen würden. Als der Eindringling nichts mehr sagte, nickte sie. Auch Professionalität kannte Grenzen. Die Person vermutete, daß dies keine Situation war, in der das Wort Nein eine Option darstellte. Eine Ablehnung wäre gleichbedeutend mit einem Todeswunsch gewesen. Der gesunde Menschenverstand flüstert einem zu, daß man einen Schatten, der aus der Wand steigt und einem anschließend ein Angebot unterbreitet, nach Möglichkeit nicht wie einen Staubsaugervertreter behandeln sollte.
Die Gestalt an dem Schreibtisch wußte nicht, was ihr bevorstand, aber sie wußte, daß es immer noch besser war, wenn einem wenigstens etwas bevorstehen konnte.
Auch der Eindringling nickte beinahe unmerklich, wobei die Kapuze die eigentliche Bewegung vollführte.
Der Vertrag war abgeschlossen...


Von oben betrachtet sieht das Land Krotos wie eine eine schlafende Schildkröte aus und ist auch in etwa ebenso gefährlich.
Allerdings: Von oben betrachtet sieht auch ein Ork mit einem breiten Strohhut friedlich und harmlos aus und ähnelt eher einer kleinen Sonne. Es macht einen großen Unterschied, wenn man plötzlich vor ihm steht und einen genaueren Blick auf die Keule werfen kann, die er in der Hand hält. Andererseits, welcher Ork trägt schon einen Strohhut?* (ein Philosoph, der mit dieser Theorie die Existenz von Orks zu widerlegen versuchte, machte schon kurz darauf die Bekanntschaft von einer beachtlichen Menge Holz, welches mit hohem Bewegungsmoment seinen Schädel traf)
Wenn man sich ein wenig von der Mitte des Landes entfernt und den Lachsen flußaufwärts folgt, bis sich die Wanderberge *(Wanderberge sind entfernte Verwandte der in den Wüsten vorkommenden Wanderdünen, obwohl Dünen in der Regel so langsam sind, daß man ihnen schon entgegenlaufen muß, um überhaupt Bewegung wahr zu nehmen. Wanderberge hingegen sind schnell: Wer ins Gebirge steigt und dort übernachtet, kommt am nächsten Morgen oftmals in den Genuß einer neuen Aussicht. Der Grund für die Bergwanderungen sind die auf den Bergen lebenden magiebegabten Kühe. Die wiederkäuenden Geschöpfe können sich an steilen Berghängen bekanntermaßen nicht umdrehen. Jeder weiß, daß eine auf Berghängn grasende Kuh zwei lange und zwei kurze Beine besitzt: Die beiden dem Gipfel zugeneigten Beine müssen kürzer sein als die dem Tal zugewandten, denn sonst stünde eine Kuh in etwa so auf einem Berg, wie kleine Kinder beim Malen eines Bildes gerne Schornsteine auf Hausdächern darzustellen versuchen. Eine Kuh würde bei dem Versuch sich zu drehen also riskieren, umzukippen. Deswegen benutzen sie ihre naturgeschenkte Zauberkraft und drehen kurzerhand die Berge um.) zeigen und einen offenen Halbkreis in die Landschaft malen, muß man nur noch ein Stückchen hinabsteigen und dem Lauf des breitesten Stromes, des Knoss, folgen. Hier findet man, eingebettet zwischen den Wanderbergen, die das Tal wie einen schützenden Wall umgeben, die Stadt Snork.
Sie ist, wie alles in der Welt von Krotos, ein wenig... verbraucht. Ihre Häuser hatten schon einmal bessere Zeiten gesehen, ebenso wie ihre Bewohner. Aber obwohl, oder vielleicht auch gerade wegen diesem Umstand, Snork wie eine Insel vom Rest des Landes abgeschirmt ist, ist sie doch die Hauptstadt von Krotos*(niemand hatte zu befürchten, daß die Gesetze, die hier erlassen wurden, jemals bis ins Land vordrangen, da diejenigen, die sie erließen, zu faul waren, um ihre kleine Stadt zu verlassen)** (im übrigen wurden die Gesetze auch in Snork selbst nicht beachtet, denn wie ein königlicher Wächter es einmal ausdrückte: "Wenn das restliche Land tut, was es will, wir uns aber an die Gesetze halten, würde dies alle anderen Bürger des Königreiches automatisch zu Verbrechern machen. Da unsere Verliese nicht groß genug sind, um so viele Leute einzusperren, bleibt uns nur die Alternative, ebenfalls gesetzlos zu sein." Selbstverständlich wurde der betreffende Wächter dafür in die Grube mit den spitzen Dornen geworfen. Still und leise das Gesetz zu mißachten, war eine Sache - dies offen zu bekunden, eine völlig andere) und zugleich der Ort, an dem die unterschiedlichsten Rassen friedlich zusammenleben *(wenn sie nicht gerade damit beschäftigt waren, Krieg zu führen, um den Frieden aufrecht erhalten zu können). Menschen, Elfen, Orks und vereinzelte magiebegabte Kühe sind hier noch die normalsten Lebewesen.
In die düsteren Gebiete der Stadt haben sich die Serabi zurückgezogen, ein Volk, das lediglich aus Schatten besteht und keine feste Substanz aufweist. Es heißt, sie wären nichts weiter als die Reminiszenzen einer früheren, mächtigen Rasse, die einst die gesamte Welt regierte. Man flüstert, daß die Serabi die weisesten aller Wesen wären, doch intelligentere Leute bezweifeln diese These, aus dem einfachen Grund , weil die Serabi sich in Snork niedergelassen haben.
Neben den verschiedensten anderen Rassen gibt es noch einen Ältestenrat, der die Stadt leitet und ausschließlich aus Druhka besteht, einem uralten Druidenvolk. Manch einer behauptet, die Druhka wären die wahren Herrscher der Welt und würden sie scheibchenweise unter sich aufteilen.
Durch den Umstand, daß Snork auch die Hauptstadt aller Magierzünfte in ganz Krotos ist, wandeln Unmengen an magischen Fehlschlägen auf ihren Straßen. Manche säen Angst und Schrecken, wenn sie des Nachts aus ihren Verstecken kriechen, andere wiederum werden gern gesehen. So zum Beispiel die Wockies, ein hölzernes Volk, die nichts weiter sind als Besen mit zwei Armen und Händen. Sie schlubbern auf ihren Borsten und halten auf diese Weise die Wege rein, aber ein adoptierter Wockie ist auch im Haushalt gut zu gebrauchen. Irgendwie scheinen die Besenwesen es sogar fertig gebracht zu haben, sich fortzupflanzen, denn ihre Population nimmt stetig zu, und wenn man großes Glück hat, bekommt man vielleicht einen Baby-Wockie *(Die übliche Bezeichnung für einen Baby-Wockie lautet 'Handfeger') zu Gesicht, der noch nicht einmal richtige Borsten besitzt.
Snork mag nicht die reichste Stadt in Krotos sein, wohl aber die reichhaltigste.
Je näher man ihr kommt, desto mehr offenbart sich ihre Turbulenz und Hektik. Doch aus der Ferne betrachtet mag der unbedarfte Reisende sie für einen Ort des Friedens halten und spontan den Entschluß fassen, dort ein Haus zu bauen und seinen Lebensabend zu verbringen. Nun, dies ist die Art und Weise, auf die Snork letztendlich entstand...


Weit entfernt von Snork, südlich der Wanderberge, wo die Oberfläche Krotos' von Hügeln geprägt ist, als hätte ein schlafender Riese sich gestreckt, dabei den Fuß in die Erde gestemmt und sie wie einen Teppich aufgewellt, konnte man eine winzige Person erkennen, die einen kleinen Berg hinaufwanderte.
Nun, die Person war natürlich nur aus der Ferne gesehen winzig. Mit ihrem breiten Strohhut und der ausgeblichenen Latzhose hätte man sie auf den ersten Blick mit einem Bauern verwechseln können. Auf den zweiten Blick erkannte ein guter Beobachter, daß es in Wirklichkeit ein Magier sein mußte, denn nur Magier pflegten einen darart schlechten Geschmack in Hinsicht auf Kleidung und Stil.
Ein paar Schweißtropfen perlten der Person von der Stirn. An ihrem steten, nicht zu schnellen Schritt konnte man erkennen, daß sie das Wandern gewohnt war.
Diese Tatsache erschien verhältnismäßig ungewöhnlich für einen jungen Novizen der Magie, war doch gemeinhin bekannt, daß Zauberer dazu neigten, sich in dunklen Räumen aufzuhalten und den Staub von äonenalten Büchern zu schnuppern. Aber in diesem Falle ließ sich das Gesetz der Allgemeingültigkeit auf einen Handel mit dem Schicksal ein: Es sorgte dafür, daß der Junge kein besonders großes Interesse an kilometerlangen Bibliotheksregalen voller Wälzer aufwies, wenn sich das Schicksal im Gegenzug bereit erklärte, an ein paar bestimmten Fäden im großen Muster zu zupfen...
Die betreffende Person ahnte natürlich nichts von alledem, doch sie war sich durchaus darüber bewußt, daß sie... anders war. Ihr Name lautete Deacon.
Deacon hatte in seinem noch recht kurzen Leben schon mehrere Berge bestiegen, und dieser hier erschien ihm im Gegensatz zu den meisten anderen eher wie ein Hügel. Deacon war eine jener Personen, die immer ein wenig, nun, rastlos anmuten. Er befand sich schon seit längerem auf Wanderschaft und hatte die böse Vorahnung, daß die Reise, die er angetreten hatte, noch ewig dauern würde: Er suchte nicht nach einem bestimmten Ort; er befand sich auf der Suche nach sich selbst.
Der Gipfel war nah, Deacon konnte sein Ziel bereits mit bloßem Auge ausmachen. Eine kleine Ansammlung von Pfählen stand dort. Auf einem der Pfähle hatte sich ein kleiner Greis niedergelassen und genoss die Sonne. Es wäre eine Lüge gewesen, hätte man behauptet, seine Haut wäre braungebrannt. Er war schwarz wie Ebenholz, seine schlohweißen Haare wehten in einer leichten Brise und erweckten den Anschein, sich eigenständig zu bewegen.
Deacon legte einen Schritt zu.
Der Alte würdigte ihn keines Blickes, als er vor dessen Pfahl trat. Auch als Deacon sich räusperte, hielt der Greis es nicht für notwendig, seine geschlossenen Augen zu öffnen. Deacon vermutete, daß seine Meditation derart tief war, daß sein Geist nicht mehr in seinem Körper weilte.
"Ähem" ließ sich Deacon höflich vernehmen und trat unwohl von einem Fuß auf den anderen. Jetzt zeigte der starre Kopf den Hauch einer Bewegung. Deacon hoffte, den Geist nicht zu einer unfreiwilligen Rückkehr gezwungen zu haben.
"Du stehst mir in der Sonne" sagte der Greis lediglich.
"Ich brauche deinen Rat..." meinte Deacon kleinlaut und achtete darauf, nicht zwischen der meditierenden Person und dem glühenden Ball am Himmel zu stehen.
Der Greis blinzelte und streckte dann die Hand aus.
"Nenn mich Merho" sagte er und sprang mit einem Satz vom Pfahl. Er war erheblich kleiner als Deacon, doch trotzdem vollbrachte er die Leistung, ihm direkt in die Augen zu sehen, ohne den Kopf auch nur einen Millimeter zu heben.
"Wohin bist du unterwegs? Du hast den weiten Weg doch sicherlich nicht auf dich genommen, bloß um mich zu sehen."
"Ich... ich befinde mich auf der Suche nach mir selbst."
"Ah" lächelte Merho. "Da kann ich dir helfen."
"Tatsächlich?"
"Ja. Du befindest dich direkt vor mir."
Deacon nickte resigniert. Merhos Augenbrauen hoben sich, und der Alte legte den Kopf schief. In einem freundlichen Tonfall sagte er: "Du scheinst wenig begeistert zu sein von meinen Worten. Nun, vielleicht kann ich dir trotzdem helfen. Nach was für einem Rat suchst du?"
"Ich, ähm..."
"Eher allgemeiner Natur, oder hattest du etwas bestimmtes im Sinn?"
"Nun, ich... würde gern mehr über die Schattenwelt erfahren."
Der Alte schien nachdenklich. "Die Schattenwelt, wie? Unsere Schwesterwelt."
"Die Leute sagen, du wüßtest viel über sie."
"Die Leute sagen auch, daß es am nächsten Tag regnet, wenn der Maulwurf seinen Haufen höher als zwei Fuß aufwirft."
Deacon hielt es für besser, nichts zu erwidern.
"Wer hat dich geschickt?"
"Meine Lehrmeister."
"Deine Lehrmeister" wiederholte der Alte. "Zu was für einer Gilde gehörst du?"
"Es sind Magier, die-"
"Ah, Magier" sagte Merho, und legte die gleiche Betonung in das Wort wie jemand, der "Ah, Demokratie. Sieh her, wohin mich deine verdammte Demokratie gebracht hat!" sagt.
"Kenne diesen Schlag" murmelte Merho weiter, während er zwischen den Pfählen dahintrottete. "Wollen immer alles richtig machen. Erachten sich als aufgeklärt. Haben sogar Anweisungen, in denen beschrieben ist, wie Anweisungen zu verfassen sind, wenn ich mich recht entsinne."
"Es ist keine der normalen Gilden" beeilte sich Deacon zu sagen. Er spürte, daß das Gespräch in die falsche Richtung zu driften begann wie ein Floß, das von einer unliebsamen Strömung davongetrieben wird. Er wußte jedoch nicht so recht, wo er das Paddel ins Wasser stoßen sollte, um umzudrehen.
Der Alte stellte ein ungewöhnlich freundliches Grinsen zur Schau. "Etwas besseres als die normalen Gilden, wie? Habt wohl die Magie neu definiert, mh? Wenn nicht gar neu erfunden, was?"
"Wir, ähm..."
"Weiß gar nicht, wie oft ich mir das schon anhören durfte" fuhr Merho unbeirrt in seiner Predigt fort. "Wir sind besser als die, denn wir haben dies und jenes vollbracht, wohingegen die nur das und dies geschafft haben, und überhaupt, die haben doch mit der ganzen Sache erst angefangen..."
Vor Deacons geistigem Auge zeichnete sich bereits das Riff ab, auf das ihn die Strömung unaufhörlich zutrieb. Sein kleines Floß würde unweigerlich daran zerschellen. Er entschied sich für den Sprung ins kalte Wasser.
"Ich bin der Separator." Seine Stimme blieb ruhig, während er es sagte, und er beobachtete, welche Reaktion die Enthüllung wohl auf den Greis haben mochte.
Dieser musterte ihn scharf, unterzog ihn einer Prüfung, während deren Dauer Deacon sich vorkam, als würden seine Eingeweide und sein Gehirn von innen durchleuchtet. Dann entfaltete sich ein Lächeln auf Merhos Gesicht wie ein sehr kompliziertes Origami.
"Nun, in dem Fall gehe ich davon aus, daß du ein vernünftiger junger Mann bist, der schon viel über sein Leben nachgedacht hat, ja?"
"Immerzu" antwortete Deacon.
"Dann solltest du dir einmal die Zeit nehmen, alles seinen eigenen Weg gehen zu lassen" flüsterte Merho plötzlich leise und deutete mit seiner Hand auf einen der Pfähle. "Nimm Platz."
Deacon betrachtete die Landschaft, die von den verschiedenen, unterschiedlich langen Pfosten geprägt war.
"Warum hast du so viele Pfähle hier? Die meisten anderen Weisen, die ich bis jetzt besucht habe, besaßen immer nur einen einzigen Pfahl zum meditieren."
"Meditieren? Hast du jemals auf einem so unbequemen Ding gesessen und versucht, darauf zu meditieren, Junge?" Er betrachtete Deacon, als käme dieser direkt von der anderen Seite. "Ich sitze auf diesen Pfählen, weil sie mein verdammtes Rheuma lindern! Und ich habe deshalb so viele von ihnen, weil es stinklangweilig wäre, den ganzen Tag nur eine einzige Aussicht genießen zu können..."
 

Criss Jordan

Mitglied
Oi oi oi

Das ist ja spannend *lechz nach mehr*.... Wann kommen die nächsten Kapitel???????

Ich mag deinen Schreibstil sehr. Ich hoffe der bleibt auch in den nächsten Abschnitten so wundervoll ironisch.

*wart auf weiteres*

Criss
 

Arathas

Mitglied
... danke!

Um gleich auf deine Frage zu antworten: Das zweite Kapitel habe ich gerade reingestellt :)

Schön, dass dir mein Schreibstil gefällt! Ich würde mich über Kritik und Anregungen freuen (auch von anderen Lesern!!)

liebe Grüße
Arathas
 

Antaris

Mitglied
Magiebegabte Kühe

Hallo Arathas,

nun wird es höchste Zeit mein Versorechen einzulösen.Ich habe mir gerade den ersten Teil Deiner Geschichte auf die Festplatte gezogen und beim flücjhtigen Lesen fällt mir auf, dass Dein Schreibstil immer sicherer und besser wird. Auch auf ein paar nette Details, wie die magiebegabten Kühe (sie werden hoffentlich noch eine Rolle spielen) bin ich gestoßen ;-) Alles weitere erfährst Du demnächst, Du weißt, ich bin nicht die Schnellste.

Mit feurigen Grüßen

Antaris
 

Arathas

Mitglied
Pratchett....

Hallo Templar,

danke erstmal für das Lob. Also von Terry Pratchett "kopiert" oder "geliehen" hab ich nichts. Terry hat halt die "humorvolle Fantasy" sozusagen definiert, und weil ich in ungefähr dem selben Stil schreibe, erinnert es halt etwas an ihn. Aber ich hab schon sehr darauf geachtet, nur wirkliche eigene Ideen einzubringen. :)

liebe Grüße,
Arathas
 

Templar

Mitglied
Hoppla, nur das keine Missverständnisse auftreten, im Sinne von 'geklaut' habe ich das nicht gemeint, ging mir mehr um den Stil und das Grundkonzept der humorvollen Fantasy.:)
 



 
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