Die Grenzwelt - Kapitel 5

Arathas

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Rufus langweilte sich. Er war einer der höheren Götter und hatte es nicht verdient, hier unten Dienst schieben zu müssen. Der kleine Raum ödete ihn an.
Sein Blick wanderte auf die Uhr, die er am Handgelenk trug. Es dauerte noch Stunden bis zur Götterdämmerung!
Da gerade sowieso niemand hier war, bemühte er sich, seinen athletischen Körper ein wenig in Form zu halten. Er war ein recht junger Gott und zählte vielleicht gerade einmal tausend Jahre. In seinem Alter hatte man dafür zu sorgen, frisch und knackig auszusehen. Schließlich sollten Abbilder und Statuen ja eine entsprechende Eleganz aufweisen.
Er betrachtete seinen trainierten Körper in einem Spiegel und winkelte einen Arm an. Muskeln glänzten ölig. Dies würde bestimmt ein wunderbares Portrait von ihm abgeben, wenn er doch nur nicht an diesem gottverlassenen Ort sein müßte.
Es gab wirklich genügend andere Orte, an denen sich ein Gott aufhalten konnte. Ein Besuch in einem Tempel wurde von den Gläubigen immer gern gesehen. Man manifestierte sich schnell als hünenhafte Statue, wankte ein wenig herum, zertrat ein paar Leute und achtete darauf, daß es am besten die Anhänger einer anderen Gottheit waren.
Das Götterdasein konnte wirklich Spaß machen.
Rufus war der Gott der körperlichen Ertüchtigung, egal in welcher Hinsicht. Körperliche Ertüchtigung wurde zwar schon praktiziert, seit das erste lebende Wesen entdeckt hatte, daß es auch noch ein anderes Geschlecht gab, allerdings hatte man nicht sofort angefangen, dies als heilig zu verehren.
Dieser Raum war häßlich. Es gab nicht einmal etwas zum Lesen außer diesem schrecklich dicken Buch, das auf einem kleinen Schreibtisch lag und darauf wartete, geöffnet zu werden.
Der Gott setzte sich auf einen kleinen Drehstuhl, der auch schon bessere Tage gesehen hatte, und stützte die Ellbogen auf den Tisch.
Eigentlich war dies der Job eines Hausmeisters. Aber da es nun einmal keinen Gott der Hausmeisterei gab, wurde im jährlichen Turnus durchgewechselt. Da saß er nun, an der Pforte zwischen Leben und Tod, und wartete auf seinen ersten Kunden.
Eine kleine Glocke bimmelte und kündigte an, daß dieser bereits auf dem Weg war.
Rufus nahm eine gerade Haltung ein und ließ aus reiner Gewohnheit seine Muskeln ein wenig spielen. Ein Mensch kam durch die Tür und blickte hilflos drein.
"Oh, ich..." murmelte er und blickte sich um. "Wo bin ich hier?"
Ein strahlend weißes Lächeln blitzte ihm entgegen. "Dies ist der erste Tag vom Rest deines Todes" sagte Rufus aufmunternd und streckte ihm die Hand entgegen. Auch wenn es ein öder Job war, mußte man sich um potentielle Kunden kümmern. Immerhin kehrte dieser Mensch möglicherweise in einer Reinkarnation auf die Welt zurück, und dann würde es sich auszahlen, wenn er dem großen Gott Rufus die Hand geschüttelt hatte...
"Ich bin tot?"
"Gib bloß nicht mir die Schuld" wehrte Rufus ab. "Sieh es locker: Das ist doch keine Tragödie."
"Was mache ich denn hier?" Der Mensch sah sich in dem langweiligen Raum um und trat von einem Fuß auf den anderen.
"Nun, wir Götter nennen es die Pforte." Seine Hand deutete auf ein schwarzes Tor, das in die hintere Wand eingelassen war. Ein paar düstere blaue Wirbel spielten darin und verzwirbelten sich. "Du wirst sie durchschreiten."
"Wohin führt sie?"
"Das kommt ganz darauf an. Kraft meines Amtes und gemäß Paragraph soundso bin ich dazu verpflichtet, dich in das Jenseits zu befördern."
"Soll ich einfach durchgehen?"
"Nicht so hastig, junger Freund. Erst noch ein wenig Schreibkram, so leid es mir tut. Du bestimmst übrigens dein weiteres Schicksal im Jenseits selbst, aber dazu kommen wir später. Wie heißt du?"
"Thamis. Ich bin Magier" fügte er unsicher hinzu.
"Du warst Magier. Nur Thamis?"
"Thamis Blau."
Rufus notierte den Namen im schrecklich dicken Buch und blätterte ein paar Seiten weiter.
"So, und nun hierzu." Er hielt einen Finger auf einen Absatz, der besonders fett hervorgehoben war. "Ich werde dir nun eine wichtige Frage stellen. Je nachdem, wie du antwortest, wird sich das auf deinen Tod auswirken. Besser gesagt darauf, was dich noch alles erwartet. Du solltest dir also gut überlegen, was du sagst."
Der Gott überflog die Zeilen schnell und blickte dann skeptisch auf. "Warst du ein General oder ein Feldwebel oder etwas in der Art?"
"Das ist die Frage?"
"Ähm, nein. Aber wäre sie es gewesen, dann hättest du jetzt schon mal falsch geantwortet. Nun?"
"Ich sagte ja schon, ich bin Magier..."
Rufus studierte den Text noch einmal und gab grübelnde Laute von sich. "Irgendwelche Erfahrungen im Kampf? Wärst du gern Krieger geworden?"
"Nein."
"Tja, dann habe ich keine Ahnung, was diese Frage hier soll. Muß ich dir ganz ehrlich gestehen. Aber Arbeit ist Arbeit, sage ich immer."
"Wie lautet denn die Frage nun?" Thamis wurde langsam ungeduldig.
"Ah, gut. Also, ich zitiere: Du bist ein Heerführer und fliehst mit hundert Soldaten vor einer riesigen Übermacht von Feinden. In einer Schlucht gibt es zwei Wege, denen du folgen kannst: Wählst du den linken, werden fünfzig deiner Soldaten sterben, doch die andere Hälfte wird sicher und unbeschadet überleben. Wählst du den rechten, werden mit gleich großer Wahrscheinlichkeit entweder alle deiner Männer sterben oder überleben. Für welchen Weg entscheidest du dich?"
Thamis zögerte nicht lange, bevor er antwortete: "Ich glaube, ich würde den linken nehmen."
"Ah, eine gute Wahl" sagte Rufus. Das Portal schimmerte in einem hellen grün und zog Thamis wie magisch an. "Ich wünsche dir noch viel Glück auf deinem weiteren Weg!"
Thamis versuchte, so etwas wie Angst zu verspüren, doch sein Geist ließ solche Gefühle nicht mehr zu. Er trat in den Rand der Pforte und wurde sogleich von ihr verschluckt.
"Eigentlich war es gar nicht so schwer" murmelte Rufus und blickte auf den Torbogen, in dessen Innern die Farben sich wieder ins Schwarze färbten.


Tanos sah die anderen Magier vor Thamis' Raum stehen und diskutieren. Wenn es ein Herz gab, das so schwer wiegen konnte wie Blei, dann war es seines, in eben diesem Moment. Er biß sich auf die Lippen und verringerte seinen Abstand so unerheblich, daß ihn niemand bemerkte. Blut pochte ihm in den Ohren, doch trotzdem konnte er verstehen, was gesprochen wurde.
"Eine Katastrophe" sagte ein Magus.
"Wir waren zu unachtsam" seufzte ein zweiter. In seiner Stimme schwang eine Ahnung von Panik mit. "Wir hätten ihn besser trainieren sollen, wir-"
"Wir können es nicht ändern!" grollte Somtos, der höchste der Magier. Sein langes weißes Haar fiel ihm über die Stirn und verdeckte seine Augen. Tanos vermutete, daß er froh darüber war.
"Wir müssen etwas tun" ließ sich Nickel vernehmen. Er stand im Türrahmen, so daß Tanos der Blick in das dahinterliegende Zimmer verwehrt blieb, so weit er sich auch streckte. Vielleicht war es besser, nicht hineinsehen zu können.
"Hat jemand gesehen, wer es war?" verlangte Somtos zu wissen. "Irgendjemand?"
"Durchaus..." stammelte Nickel und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. "Dung-Tsu hat mit ihm gesprochen. Er war es, der dem Fremden erzählt hat, wo Thamis zu finden ist..."
Somtos schien innerlich zu erbeben. Seine Hände rangen mit seinen Gefühlen, waren aber unterlegen. Er stieß wütend die Luft aus. "Der alte Narr!" Er zog einen weiteren, noch schlimmeren Gedanken aus seinem Versteck und zwang ihn heraus: "Wo ist Deacon?"
Ein kleiner Kreis bildete sich um Nickel und rückte unmerklich nach hinten. Nickel hatte als erster das Wort ergriffen und mit Somtos geredet. Also war es ganz offensichtlich seine Aufgabe, dies auch weiterhin zu tun.
Nickel schloß die Augen, als er zugab: "Wir wissen es nicht."
Das befürchtete Unwetter blieb aus. Er wagte es, den obersten Magier anzusehen.
"Der Separator ist also völlig ahnungslos - und völlig schutzlos - irgendwo?" Somtos hatte ein Tal betreten, das weit hinter dem Zorn lag. Es war umringt von hohen Gebirgen, und über dem Tal strahlte eine Sonne ihr herzlichstes Lachen. Hinter den Bergen wartete unendliche Finsternis darauf, überzuschwappen.
"Er ist intelligent und kann auf sich selber achtgeben. Ihm wird nichts zustoßen." Nickel wanderte auf dem schmalen Grat zwischen dem Tal und ewiger Verdammnis. Gerade eben wurde ihm bewußt, daß er nicht die besten Schuhe zum Wandern angezogen hatte.
Somtos lächelte. "Hoffentlich habt ihr das dem Mörder auch mitgeteilt. Dann wird er sich vielleicht gar nicht erst auf den Weg machen."
Nickel spürte die Steine unter seinen Füßen bröckeln. Er riskierte einen Blick in Somtos Augen. Der Abgrund, der sich dahinter auftat, hatte keinen Boden. Wenn er stürzte, würde er keinen Halt mehr finden.
"Ich werde... mich darum kümmern. Es werden... Maßnahmen ergriffen. Auf der Stelle." Nickel wollte sich zum Gehen wenden, als eine Hand ihn zurückhielt. Es war die Hand, die ihn aus dem Abgrund zog.
"Sieh zu, daß Deacon nichts geschieht. Dies geht uns alle etwas an."
Tanos sah, wie Nickel zitternd in sich zusammenfiel, nachdem der oberste Magier gegangen war. Er brachte es fertig, einen raschen Blick in Thamis' Zimmer zu erhaschen. Eine Sekunde später ließ er sich sein Frühstück nochmal durch den Kopf gehen.


Der Übungsplatz für das Bogenschießen war an diesem Morgen wie leergefegt.
Shayne machte sich nicht einmal die Mühe, zu zielen. Das änderte jedoch nichts daran, daß er besser war als die einzige andere Person, die noch auf dem Platz stand.
"Du bist schon lange hier auf der Schule" erwähnte Shayne wie beiläufig und ließ die Sehne des Bogens mit einem Schnalzen los. Der Pfeil zischte durch die Luft und blieb mit einem unangenehmen Geräusch in der Scheibe stecken. "Länger, als du sein müßtest."
Der Schüler, der sorgsam darauf bedacht war, nicht aus der Konzentration zu geraten, nickte angestrengt. Shayne musterte ihn. Er war ein etwas gedrungener Elf, wie man sie oft bei Verbindungen zwischen Menschen und Dunkelelfen sah. Ihre Geschicklichkeit konnte es bei weitem nicht mit der eines echten Elfen aufnehmen, doch dafür besaßen sie mehr Muskeln. Herm, so hieß der Schüler, hatte wahrscheinlich einen menschlichen Großvater oder Urgroßvater. Für einen Halbling waren seine Züge zu elfisch.
Üblicherweise vereinigte ein Kind zweier Völker die besten Eigenschafter derselben. So gab es eben Halblinge mit der Geschicklichkeit von Elfen und der Kraft eines Menschen, oder welche, die so klein und stämmig waren wie Zwerge, und so widerstandsfähig wie ein Ork.
Bei Herm schien genau das Gegenteil der Fall zu sein. Der arme Kerl hatte ausschließlich die schlechten Eigenschaften seiner Eltern geerbt. Sein Gesicht wirkte wie eine Maske des immerwährendens, etwas dümmlichen Staunens in der leidlichen Anstrengung, schlank zu sein. Seine Haut wollte den Dunkelelfen nacheifern und die Farbe des Ebenholzes annehmen, kam aber nur bis zu einem gelbbraunen Ton, der alles andere als natürlich war. Wenn man mit einer solchen Hautfarbe im Wald untertauchen wollte, mußte man zuerst die Bäume streichen.
Herms Muskeln waren zwar vorhanden, doch nicht an den richtigen Körperpartien. Er besaß keinen nennenswerten Bizeps, aber dafür hatte er Unterarme, die einem berühmten Seemann das Wasser reichen konnten. Er war zweifellos geschickt, wenn man den Maßstab eines Betrunkenen anlegte. Seine Augen befanden sich auf unterschiedlicher Höhe, was die Natur dadurch auszugleichen versuchte, daß sie ihn schielen ließ. Wenn Herm das Bogenschießen übte, traf er oft die Mitte der Zielscheibe - auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes.
Shayne war sich sicher, daß im Moment tausende von höchst intelligenten Gedanken durch Herms Gehirnwindungen rasten. Nur leider dachte jeder von ihnen am anderen vorbei, und selbst wenn sie zu einem einigermaßen erfreulichen Ergebnis gekommen wären, Herm wäre nicht in der Lage gewesen, nach ihnen zu greifen.
"Ich bleibe hier, bis ich die Prüfungen geschafft habe" sagte Herm stolz und sah Shayne mit einem so freudigen Grinsen an, daß dieser nicht anders konnte, als zu seufzen. Er wußte, daß dies eine Eliteschule war, in der nur die besten eine Chance hatten. Doch es gab immer ein paar reiche Elfen, die ihrem Kind die teuerste Ausbildung zukommen lassen wollten, die es nur gab - auch wenn ihr Kind dies gar nicht wollte.
"Sie lassen dich an den Prüfungen teilnehmen?" Allein der Gedanke daran verursachte Shayne Magenkrämpfe. Wer jemanden wie Herm in einen der Übungsräume schickte, mußte entweder ein eiskalter Mörder sein, oder er wollte der Welt einen großen Gefallen erweisen.
"Noch nicht..." sagte Herm tonlos, doch sofort spiegelte seine Miene Fröhlichkeit wieder. Shayne konnte dies fast mit Sicherheit an dem leicht gewölbten Mundwinkel und der zuckenden Augenbraue erkennen. "Aber sie sagen, ich wäre bald soweit."
"Ah" machte Shayne und nickte aufmunternd.
"Ja." Herm schenkte dem Dunkelelfen einen Mund voll strahlend gelber Zähne.
"Dann solltest du schön üben - immerhin wirst du bald die Prüfungen machen müssen!"
Shayne wandte sich wieder seinen eigenen Problemen zu. Der Pfeil, den er auf die Sehne gelegt hatte, wartete noch immer darauf, ins Ziel geschossen zu werden. Er legte an, fixierte sein Ziel...
Ein Surren durschnitt die Luft. Shayne spürte einen Luftzug knapp an seinem Hinterkopf vorbeihuschen und sein Ohr vernahm das Geräusch eines Pfeils, der sich in die Wand bohrte, neben der er stand. Sein Gehirn befand sich nicht in der Lage, diesen Laut zu deuten, denn es hatte vor Schreck alle Verbindungen zur Außenwelt getrennt. Nachdem Shaynes Sinne sich getraut hatten, den Kontakt zueinander wieder herzustellen, betrachteten sie gemeinsam den Pfeil, der nur einen Zentimeter neben dem Elfen in der Wand steckte. Langsam drehte Shayne sich um.
Herm hatte die Lippen zu einer Art schuldigem Grinsen verzogen. Die Tatwaffe ruhte noch immer in seinen Händen.
Es wird wirklich Zeit, hier den Abflug zu machen, dachte Shayne. Allerhöchste Zeit...


Creeper schrubbte seine Hände mit Seife. Er haßte unsaubere Aufträge. Wenn es etwas gab, das er nicht sehen konnte, dann war es Blut. Er betrachtete sich als einen Meister des blutlosen Kampfes.
Natürlich hatte er gewußt, daß sein Auftrag keine gewöhnliche Person war. Doch dieser Junge... er hatte... Fähigkeiten besessen. Er war hartnäckiger gewesen als ein Steinchen, das sich im Schuh festgetreten hat.
Der Junge war gut gewesen. Wirklich gut. Er hätte es beinahe geschafft, ihm den Arm zu brechen. Creeper hatte dies zwar verhindern können, aber allein die Tatsache, daß er es fast geschafft hatte, unterschied ihn von allen bisherigen Opfern. Der Assassine hatte sich nicht des Eindrucks erwehren können, daß den Jungen eine seltsame Aura des Schutzes umgab. Letztendlich hatte all die Gegenwehr natürlich nichts genutzt, aber dennoch... die Leistung war beachtlich.
Creeper schlenderte zu seinem Arsenal und verstaute die Waffen, die er mitgenommen hatte, fein säuberlich in Regalen und Kästchen oder hängte sie an Halterungen in der Wand. Eigentlich hielt er nichts davon, Waffen zu benutzen. Sie waren unelegant, und sie waren meist dafür gefertigt, daß man mindestens ein Ende von ihnen in den Gegner bohrte, was so gut wie immer zu einer wirklich großen Schweinerei führte.
Blut ließ Spuren zurück. Und, was noch viel schlimmer war: Fragen. Wenn die Leute eine ermordete Person in einer großen Blutlache vorfanden, begannen sie nach dem Mörder zu suchen. Man sprach dann von einem Schlächter, der seine Opfer auf bestialische Weise zerstückelt, und ähnliches.
Ein guter, sauberer Genickbruch hingegen, den das Opfer nicht einmal spüren mußte, war vielmehr ein Kavaliersdelikt. Man mußte ihn gar nicht bemerken, oder seine Spuren verwischen. Das wurde einem abgenommen. Die Gesellschaft war gut darin, sich selbst zu belügen. Er ist die Treppe hinuntergestürzt, hieß es dann. Oder der arme Kerl war im Bad ausgerutscht und unglücklich gefallen...
Creeper konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß es einen Wächter gab, der beim Anblick eines dreigeteilten Mannes, der inmitten eines Chaos aus verwüsteten Möbeln lag, sagte: "Hm. Wahrscheinlich hat er den Kartoffelschäler falsch bedient"* (obwohl die Statistik einwandfrei belegt, daß die meisten Unfälle im Haushalt geschehen. Creeper hatte Kartoffelschälern noch nie ganz über den Weg getraut...)
Dann gab es noch Gift. Gift war eine saubere Alternative, doch irgendwie war sie zu... unpersönlich. Creeper hielt einen Mord für eine Angelegenheit zwischen dem Opfer und dem Mörder, und seiner Meinung nach verdiente ein gutes Opfer auch eine angemessene Behandlung. Wenn man erst einmal mit einer solchen Sache wie Gift anfing, dauerte es nicht lang, bis man auf die Idee kam, den Leuten Pakete mit explosivem Inhalt zu schicken. Der Gedanke an sich war nicht schlecht, doch Creeper mangelte es an genügend ortographischer Erfahrung für seine Ausführung, und es wäre zu gewagt gewesen, das Paket selbst abzuliefern.
Deshalb verließ er sich hauptsächlich auf seine jahrelange Erfahrung, und, wenn die nicht reichte, auf die Waffen, die er beim jeweiligen Auftrag mit sich führte.
Er zuckte nicht im Geringsten zusammen, als er ein Geräusch in seinem Rücken vernahm. Das Blatt eines Breitschwertes, das vor ihm hing, spiegelte nur graue Schlieren an der Stelle wieder, wo Creeper seinen Gast vermutete. Er wandte sich ihm zu.
Der Grenzer hatte die Hand an ein Kinn gelegt, das unter der Kapuze verborgen war. Ein Kratzen ließ darauf schließen, daß er mit den Fingern über Bartstoppel strich. Da er keine erkennbaren Augenbrauen besaß, die er fragend nach oben ziehen konnte, ging Creeper davon aus, daß dies das Äquivalent dazu war.
Einer von dreien, ließ sich die Stimme aus den Schatten vernehmen.
"Der andere befindet sich nicht in der Stadt" sagte Creeper.
Wo ist er?
Creeper fand es ein wenig seltsam, daß die Gestalt zwar wußte, wen er umbringen sollte, sich jedoch nicht im Klaren darüber war, wo diese Personen genau waren. Für ihn jedenfalls hatte es den Anschein, als würde dieser Grenzer sich überall manifestieren können. Warum also nutzte er nicht seine Macht und sah selbst nach, wo sich die besagten Personen befanden? Creeper wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, dies laut auszusprechen. Er respektierte die Einstellungen seiner Auftraggeber und stellte sie niemals in Frage, solange die Bezahlung stimmte.
Es gibt Orte, die für mich nicht... zugänglich sind.
Creeper nahm sich vor, seine Gedanken in Gegenwart des Grenzers ab jetzt für sich zu behalten.
Ich will dich nicht mit Erklärungen langweilen.
"Soll ich hier auf ihn warten oder mich auf die Suche nach ihm machen. Mir ist sein ungefährer Aufenthaltsort bekannt."
Weder noch. Du kannst dich um dieses... Problem später kümmern. Es gibt immer noch eine dritte Lebensform, die beseitigt werden muß.
"Du sagtest, sie befände sich in der Schattenwelt."
Die Kapuze deutete ein Nicken an.
"Wie soll ich also an sie herankommen?"
Trägst du bei dir, was du benötigst?
Creeper bediente sich an seinem Arsenal. Für einen Laien hätte es den Anschein machen können, als wähle er willkürlich Waffen und Werkzeuge aus, doch in Wirklichkeit war der Unterschied so groß wie der zwischen Leben und Tod selbst.
"Ja."
Die verhüllte Gestalt nickte erneut und zeichnete mit der Hand die Linien einer Tür in die Luft. Dort, wo ihre Finger entlangfuhren, glänzte ein silberner Faden wie von einem dünnen Spinnennetz. Sie deutete auf den Umriß.
Es gab keinen Raum hinter dem Faden, und auch kein ominöses Schimmern, das zwischen den imaginären Türstöcken gleißte. Es gab nicht einmal ein Geräusch oder ein paar verheißungsvolle Worte.
Trotzdem verschwand Creepers Körper aus dieser Welt, als er durch die Tür trat.


"Dein... Bruder?" fragte Merho.
"Ja. Ich kann es fühlen. Es ist, als wäre ein Teil von mir einfach... ausgelöscht worden."
"Du bist der Separator. Wie kannst du einen Bruder haben?"
Deacon ließ den Kopf hängen. "Das ist eine lange Geschichte. Normalerweise gibt es nur einen Separator, da hast du Recht. Doch mein Vater, er war eine... besondere Person."
"So besonders, daß er die Naturgesetze mißachten konnte?"
"Er war der erste Mensch, der es schaffte, ein Tor zur Schattenwelt zu schaffen. Jedenfalls hat man mir das erzählt."
"Aber auch er ist nicht mehr am Leben, nicht wahr?"
"Er starb bei dem Versuch, auf die andere Seite zu gelangen."
Der Tee war bereits kalt. Keiner der beiden hatte einen Schluck davon getrunken.
"Ich muß zurück nach Snork" stellte Deacon fest. "Ich muß wissen, was geschehen ist. Die Antworten, die ich jetzt suche, kann ich nur in der Zitadelle der Farben finden. Ich danke dir für deine Gastfreundschaft."
Merho tippte sich gegen die Stirn. "Ein kluger Mann sagte einmal, viele Antworten der Welt wären bereits ausgesprochen."
"Was bedeutet das?"
"Daß du nicht mehr nach ihnen suchen mußt. Du brauchst nur die richtigen Fragen zu stellen."
"Soll das wieder eine deiner Metaphern sein? Ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung für so etwas."
Merho schüttelte traurig den Kopf. "Dann geh. Wenn dies deine Aufgabe ist, dann werde ich dich nicht daran hindern, sie zu erledigen."
Deacon zögerte. Er war schon zu oft auf den alten Mann hereingefallen, und jedes mal hatten sich seine Andeutungen als wahr erwiesen.
"Nun, die Frage lautet: Warum ist mein Bruder gestorben?"
"Mh. Wäre ich an deiner Stelle, würde ich mich für eine andere Frage entscheiden..."
Deacon zuckte die Achseln. Er war nicht dumm, doch in seinem Verstand herrschte ein heilloses Durcheinander. Es gab Gedanken, die ihm sagten, er solle trauern, und wieder andere, die ihn antrieben, sofort aufzubrechen. Tief in den Ecken seines Geistes gab es auch noch Stimmen, die ihm rieten, auf den alten Mann zu hören, doch dies alles vermischte sich so sehr...
Er hatte ein Wollknäuel aus tausend verschiedenen Farben und Fäden im Kopf. Er wußte, daß ein paar der Fäden diejenigen waren, die es zu entwirren galt - doch er konnte nicht sagen, welche Farbe sie besaßen, geschweige denn, wo die Enden der Fäden aus dem Knäuel herauslugten.
"Ich muß aufbrechen, Merho. Ich hoffe, du kannst es verstehen."
"Nun, ich werde dich nicht aufhalten. Aber ich möchte dir etwas mitgeben." Er verschwand in den Tiefen seiner Hütte. Deacon hatte in der kurzen Zeit, die er hier verbracht hatte, gelernt: Die Hütte glich einem Eisberg. Man konnte nur einen kleinen Teil von dem sehen, was sie tatsächlich war, und wenn man nicht acht gab, dann bedeutete sie... Gefahr. Als Merho nach einer ganzen Weile wieder zurückkehrte, ruhte eine kleine Schachtel in seinen Händen.
"Was ist das?"
"Eine Schachtel. Man kann Dinge darin aufbewahren."
"Ich meinte, was ist in ihr?"
"Ah. Du findest darin eine Waffe." Merhos Stimme senkte sich, so daß Deacon sich anstrengen mußte, um ihn zu verstehen. "Es ist die schärfste und gefährlichste Waffe der Welt. Sie schneidet selbst das stärkste Material! Doch du darfst das Kästchen erst öffnen, wenn du keinen anderen Ausweg mehr siehst, verstehst du?"
"Ich... das kann ich nicht annehmen."
"Sie nützt mir nichts mehr, glaube mir. Die Zeiten, in denen ich sie gebraucht habe, sind vorbei. Nimm sie mit dir. Aber versprich mir, daß du nur mit allergrößter Vorsicht Gebrauch von ihr machen wirst."
"Ich verspreche es, Merho."
"Gut. Sieh dich vor. Und wenn dir der letzte Ausweg versperrt scheint, dann erinnere dich an das Kästchen..."
Deacon nickte und ließ Merho, die Hütte und bald auch den Hügel hinter sich zurück.
 

mrjingle

Mitglied
ich habe diesen Teil mit ständig nach oben gekräuselten Lippen gelesen. hat mir gut gefallen. Besonders der erste Teil mit dem Gott der Ertüchtigung (sollte ich ihn als Sportstudent kennen?)
Falls noch nicht geschehen, was ich allerdings aufgrund des ersten Teils nicht glauben kann, empfehle ich "Dirk Gentley´s holistische Detektei" von Douglas Adams.
Man lernt dabei sehr viel über Götter und ihren Umgang mit den Sterblichen. Kein Fantasy aber sehr unterhaltsam.
Grüße
mrjingle
 

yyrshomool

Mitglied
Hi Arathas...

ich bin's mal wieder. :)
Ich habe nur etwa 10 min Zeit, also nur ein paar kurze Anmerkungen.

Es liest sich fluessig, die Dialoge stimmen. Sehr nett.
Du benutzt oftmals den wuerde-Konjunktiv. Wuerde nehmen = naehme. Achte da mal drauf.

1) die er an seinem Handgelenk trug
besser: an seinem Handgelenk

2) gottverlassenen Ort sein muesste
Ort wiederholt sich in der naechsten Zeile. "Sein muesste" gefaellt mir nicht. Vielleicht "gefangen waere" oder etwas in der Art. "Sein" ist immer so neutral.

3) Tanos vermutete, dass er froh darueber war.
Froh ueber den Tod von Thamis oder froh ueber das Haar, das in seine Augen faellt?

4) die Sehne des Bogens mit einem Schnalzen...
wer schnalzt? Die Bogensehne oder der Elf?

5) sein musstest
Weg mit dem "sein"

6) Halbling: das bringen die Leute vielleicht mit Hobbits durcheinander. Mischling?

7) des immerwaehrendenS
Weg mit dem "S".

8) Shayne konnte dies fast mit Sicherheit...
"dies fast mit Sicherheit" wuerde ich weglassen. Lass ihn doch sicher sein.

9) Herm schenkte...
He, er hat doch nicht wirklich einen Mund geschenkt, oder? Liest sich lustig.

10) Wand bohrte, neben der er stand.
vielleicht: in die nebenstehende Wand bohrte?

11) Er war hartnaeckiger...
Sehr schoenes Bild.

12) ermordete Person... Moerder...
doppelt gemoppelt. "Ermordete Person" vielleicht in "Leiche" umwandeln?

13) zerstueckelt, und aehnliches
Komma weg, Aehnlichem gross und mit m am Ende.

14) nicht einmal spueren musste...
Weg mit dem "musste" : nicht einmal spuerte.

15) Das Wollknaeuel...
Sehr huebsch! :)

16) Ende!

Das wars. Noch eine Minute Zeit... wow.
Weiter so. Es liest sich schoen. Ich wuerde aber langsam gerne wissen, was dieser Separator denn nun eigentlich ist. Schieb diese Info nicht zu lange hinaus. Oder habe ich das ueberlesen?

Gruss

Micha
 

Arathas

Mitglied
Separatoren

Die Info, wer die Separatoren eigentlich sind, kommt in Kapitel 7. Ich glaube, viel früher kann ich es nicht einführen, weil alle bisher beteiligten Personen entweder schon darüber Bescheid wissen (also nicht drüber reden brauchen) oder es nicht wissen, allerdings auch nicht erfahren dürfen.

Geduld... Geduld... :)
 



 
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