Die große Resignation

Auch N… sollte seinen Mai 68 bekommen - wir mussten uns beeilen, es war schon beinahe Juni. Am Gymnasium von O… war das schriftliche Abitur gerade vorbei, da verdrängten die Nachrichten aus Paris den Gedanken an die mündliche Prüfung. Anstatt noch zu lernen, gingen wir auf die Straße. O… war bald zu klein für den großen Protest. Daher hieß es für die ganze Schule: Morgen Demo in N…! Wir fuhren schwarz und lösten nicht einmal Bahnsteigkarten. Als der Zug ankam, war überall Bahnpolizei, alle mussten nachlösen.

Sonst war es beinahe wie im Fernsehen. Eine wirklich große Demo, massenhaft. Wir marschierten zum Schulzentrum. Die Direktorin des Mädchengymnasiums ließ ängstlich die Tore verrammeln. Das Knabengymnasium blieb offen, doch die meisten Knaben waren sich zu fein, mit denen aus O… in die Innenstadt zu ziehen. Damals fuhr zum Glück in N… die Straßenbahn noch, wir konnten also die Gleise blockieren, wie in Heidelberg. Am Rathaus wurden Reden gehalten, Parolen gegen die Fassade skandiert. Wie das hallte: NATO-Notstandsdiktatur! Der Bürgermeister ließ sich nicht blicken.

Der letzte Redner, ein hübscher Primaner, schloss seine Rede so: „ … und wo immer ihr könnt: Untergrabt die Autorität!“ Der Polizist neben ihm trat zwei Schritte zur Seite. Dann zogen wir in die Unterstadt. Infolge des starken Gefälles sah die Demonstration wie eine bunt angemalte Riesenrolltreppe abwärts aus. Unsere Köpfe verschwanden hinter den Transparenten. SPD und CDU, lasst das Grundgesetz in Ruh …! Die Parolen der Sprechchöre kamen von Studenten einer Uni, vermittelt von Schülern mit Kontakten dorthin. Sie wieselten jetzt mit Trillerpfeifen, händeklatschend, um uns herum und ließen den Passanten zurufen: „Bürger, lasst das Glotzen sein, reiht euch ein, reiht euch ein!“

Die Bürger von N… bezeigten uns eine versteinerte Neugierde. Keiner schloss sich an, weder die Hüttenarbeiter nach der Frühschicht noch die Hausfrauen noch die Rentner. Dennoch gab es auch Zustimmung. Als wir am Finanzamt vorbeikamen, hingen die Beamten in den Fenstern, jubelten uns zu. Am Hauptbahnhof löste sich der Zug auf. Es war der letzte Schultag vor den Pfingstferien. Ich war sehr optimistisch.

Fünf Wochen später war alles vorbei. Die Notstandsgesetze waren durch. Das Abitur hatten in unserer Klasse alle bestanden. Die älteren Kameraden, schon gemustert und für tauglich befunden, rückten ausnahmslos am 1. Juli ein. Ich staunte - sie waren doch alle mitgegangen, hatten Lungen und Stimmbänder strapaziert, gegen NATO, für Sozialismus. Und jetzt verschwanden sie einfach in den Kasernen? In ihren Briefen an mich lamentierten sie über den Drill und den Stumpfsinn des Dienstes und zählten schon die Tage bis zur Entlassung.


Sebastian war keiner von denen. Er war mir schon früh in Berlin aufgefallen, doch dauerte es Jahre, bis ich ihn endlich kennenlernte. Er wirkte noch jünger, als er ohnehin war, mit fein gezeichnetem Gesicht, kleinem Schnurrbart, dunklen Ringellöckchen. Oft bildete sich in den Bars ein Kreis um ihn, gerade Ältere hörten ihm gern zu. Er sprach gut, meistens über Politik. So ernsthaft er auftrat, er wirkte auch rührend. Er belehrte Männer, die doppelt so alt waren. Sie ließen es sich gefallen. Ab und zu zeigte sich ein leichtes ironisches Lächeln auf seinem Gesicht.

Anfangs trafen wir uns mal zum Essen bei einem Griechen, der damals bei linken Lehrern beliebt war. Undeutlich erinnere ich mich an die Wände voller Plakate. Bei Moussaka und Retsina – so etwas hatte es in O… nicht gegeben - erzählte Sebastian von sich. Er war Sohn eines kleinen Landwirts, irgendwo im Süddeutschen aufgewachsen, wo es besonders gut, d.h. streng katholisch ist. Der Vater: bigott und jähzornig, als ob eines davon nicht gereicht hätte. Er hatte einen ordentlichen Brotberuf lernen müssen, es dann aber im Hotelgewerbe nur ein Jahr ausgehalten. Nach der Abendschule studierte er jetzt Philologie, wollte Lehrer werden, was sonst.

Wir wechselten nach dem Essen den Tisch, zu Bekannten von ihm, Lehrer und Lehrerin. Die Stimmung der beiden war gedrückt. Sie sprachen von Berufsverboten und dämpften sogar hier ihre Stimmen. Die Meinhof war seit ein paar Tagen tot, sie sagten: umgebracht worden. Von ihrer Beerdigung war die Rede, die Lehrerin war am Grab gewesen und sorgte sich jetzt, dort vom Staatsschutz identifiziert worden zu sein.

Sebastian ging nachher mit mir spazieren, den Kudamm auf und ab. Er sagte, am liebsten würde er es wie die RAF machen, am liebsten würde er eine Bombe auf Franz Josef Strauß schmeißen. Aber er habe nun mal nicht das Zeug dazu. Aber wenn er es hätte, würde er es tun, ganz sicher. Ich erschrak ein bisschen, für so radikal hatte ich ihn nicht gehalten. Im Ganzen jedoch fand ich mich ihm ähnlich oder wollte ihm ähnlich werden, ich weiß nicht mehr. Unser Kontakt lockerte sich. Ich zog bald weg und sah ihn lange nicht wieder.


Damals hatte ich es schon aufgegeben, bei Demonstrationen mitzugehen. Eine Zeitlang hatte es Spaß gemacht, an der Ecke Joachimstaler Katz und Maus mit der Polizei zu spielen. Aber eines Tages konnte ich mir nichts mehr vormachen. Diese Aufzüge und Umzüge veränderten nichts, nicht einmal mehr uns selbst. Die Fabrikanten von Druckerschwärze verdienten an uns, die Presse und die Glasereien waren gut beschäftigt. Die Versicherungsprämien stiegen, der Vietnamkrieg ging weiter und am Amerika-Haus wurde jede Woche dieselbe Schlacht geschlagen. Ab und zu mischte ich mich unter die Zuschauer, sah, wie beide Seiten immer brutaler vorgingen. Sie suchten die Entscheidung auf der Straße, eine Partei musste doch endlich die Oberhand gewinnen. Blut sollte fließen und es floss auch. Das Rote Kreuz schickte vorsorglich Ambulanzen, die APO hatte ihren eigenen Rettungsdienst organisiert.

Als die Amerikaner in Kambodscha einmarschierten, stand ich wieder unter der Brücke am Bahnhof Zoo und sah in die Hardenbergstraße hinein. Die Haufen gingen wütend aufeinander los, verbissen sich ineinander.* Auf einmal wird mein Blick abgelenkt. Einer macht sich an die Glasvitrinen vor dem Augustiner heran. Scheu blickt er sich um, die Haltung drückt Schuldbewusstsein aus. Im Nu hat er die erste Vitrine geöffnet, langt schon nach dem nächsten Luxusfeuerzeug … Ich herrsche ihn an: Geplündert wird hier nicht! Da weicht das Schuldbewusste leichter Verärgerung. Ich muss erfahren, er ist der Inhaber des Tabakladens an der Ecke, will seine Waren in Sicherheit bringen …

Ich stand ziemlich dumm da. Meine Wut über den Krieg im Dschungel, meine Sympathie für die Demonstranten: geschenkt. Als Pflastersteine flogen und Martinshörner gellten, lag mir der Schutz des Eigentums am Herzen - beschämend. Und ich hatte nicht mal den Kaufmann vom Dieb unterscheiden können. Lächerlich, mein Eingreifen. Ich taugte weder zum Akteur noch zum Beobachter, allenfalls zum Passanten.


Und was ist aus den anderen geworden? Sebastian habe ich später noch einmal getroffen und beinahe nicht wiedererkannt. Er grüßte mich im „Chaps“ von weitem. Aber ohne Löckchen, mit nun sehr kurzem Haar, war er nicht mehr der Alte. Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Sausalito“. Es dauerte, bis mir der Gedanke kam, er könnte Sebastian sein. Als ich mir sicher war, wich er meinem Blick aus – ich hatte ihn zu lange bloß angestarrt. Ich wollte zu ihm gehen, zu spät, er ließ sich eben von einem Touristen in ein Gespräch ziehen. Dieser Amerikaner hatte einen vollendet schönen Körper und ein vollkommen leeres Gesicht. Im Vorbeigehen hörte ich das Übliche. Sie redeten über die immergleichen Bars zwischen München und San Francisco, und der Amerikaner stellte jeweils fest, wo es „cheaper“ oder „more expensive“ sei. Sebastian sah ihn unverwandt an, Bewunderung in den klugen Augen. Dann glitt sein früher oft so spöttischer Blick hinab zu den Stiefeln des anderen, deren linker mit Sporen verziert war. Sebastians Augen blieben am Stachelkranz hängen. Nach dieser Dornenkrone gelüstet es dich jetzt? Sie gingen dann zusammen fort.

Nachts schlief ich vor Ärger kaum. War es wirklich Sebastian? In jener Nacht schien mir Opportunismus das gemeinsame Merkmal all derer zu sein, in die ich mich jemals verliebt hatte.

Am Abend darauf sah ich ihn erneut und ging gleich zu ihm hinüber. Er lachte mich an. Wie froh er war, dass ich mich noch an ihn erinnerte. Nein, Lehrer sei er doch nicht geworden, er arbeite jetzt als Übersetzer. Bald fing er wieder mit Politik an. Tage vorher war Gauweilers Kaltstellung** bekannt geworden, und er meinte: „Da werden in Bayern sicher Ströme von Sekt geflossen sein.“ Er sah dabei wieder aus wie früher.

Ich ging darauf ein: „Ja, Peterchens Mondfahrten sind zu Ende, seit Strauß tot ist … Auf den braucht keiner mehr eine Bombe zu werfen. Weißt du noch: eine Bombe schmeißen, wie die RAF?“ Er erinnerte sich gut. „Ja, es hat sich erledigt. Alles erledigt sich, früher oder später. Auch wir erledigen uns, irgendwann mal.“ Er hatte auch noch den gleichen Ton wie in Berlin drauf, damals vor zwölf und mehr Jahren.

Der Teufel ritt mich. Ich wollte ihn treffen. „Aber manchmal, Sebastian“, fing ich an, „manchmal sind Kritik und Protest doch bloß die Vorspiele für einen Akt masochistischer Unterwerfung. Oder?“ Aber er nahm es nicht mal krumm, er lächelte nur.


* Laut Klaus Magiera, damals Chef des Polizeieinsatzkommandos Charlottenburg, waren am Amerika-Haus 5000 Polizisten und 7000 Demonstranten (Berliner Zeitung vom 02.09.1996).


** vgl. SPIEGEL Nr. 43/1988
 
U

USch

Gast
Hallo Arno,
ja so war´s. Ich hab´s in Hamburg miterlebt, war auch mal kurz davor einen Stein aufs Amerikahaus zu werfen. Meine Frau hat mich abgehalten, da sie kurz vor der Verbeamtung stand. Ein radikalisierter Freund hätte am liebsten eine Bombe auf das Auto von Springer, wenn er morgens die Elbschlossstrasse zur Arbeit chauffiert wurde, geworfen, hat´s aber nicht getan.
Doch ich finde, dass doch Vieles durch die 68er-Revolte letztendlich angestossen wurde und sich zum Positiven gewendet hat, z.B. in der Frauenfrage und der Abschaffung von §175. Es sind halt längere Prozesse. In den Nahostländern, Brasilien und Indien kommt da ähnliches in Gang - dank der gebildeteren und mutigeren jungen Leute.

Sehr authentische Schilderung.
LG USch
 
Danke, USch, für die gute Meinung.

Deine Auffassung über das Positive an diesen langfristigen gesellschaftlichen Prozessen teile ich übrigens vollkommen. In meinem Text ging es ja "nur" um Brüche und Widersprüche innerhalb von individuellen Biographien und die dadurch ausgelösten Frustrationen. (Insofern bitte nicht, falls überhaupt geschehen, die Frustration des "Erzählers" mit der Einstellung des Autors verwechseln.)

Ich denke, die 68er als Personal werden gleichzeitig über- wie unterschätzt, im Positven wie Negativen. Die Gestalten und ihre Handlungen von damals, das sind für mich eher Oberflächenphänomene. Gar nicht hoch genug einzuschätzen sind jedoch die ihnen zugrunde liegenden, sich über Jahrzehnte hinstreckenden gesellschaftlichen Prozesse in der Tiefe.

Freundlichen Morgengruß
Arno Abendschön
 



 
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