Die große Transformation

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Hans Dotterich

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Die große Transformation

Gottfried versuchte sich zu konzentrieren. Sein Kopf fühlte sich vollkommen taub an. Die Glieder kalt und steif. Seine Füße fühlte er nicht, über das Fußgelenk hinaus führte kein Nerv mehr. Er versuchte, seine Finger zu fühlen, bewegen konnte er sie nicht. Er wünschte, er würde wieder einschlafen. Hatte er geträumt ? Ja, vermutlich, doch den Inhalt des Traums wusste er nicht mehr. Ein paar Bilder und Stimmen waren da, grau und dumpf. Er hatte keine Augen zum öffnen. Kalt war ihm nicht. Davor hatte Gottfried nämlich Angst gehabt. Davor zu frieren und dass es feucht wäre und übel riechen würde, hier unten. Unten, was hieß das schon, jetzt, da Gottfried im Grab lag? Es roch hier nach nichts, seine Nase gab keinen Alarm.

Feierabende und Wochenenden hatte Gottfried oft gemeinsam mit seiner Frau Luise in dem kleinen Schrebergarten hinter dem Güterbahnhof verbracht. Er hatte Möhren und Kartoffeln angepflanzt, Kohl, Radieschen. "Die Radieschen von unten", so hieß einmal eine makabere Kriminalkommödie, die Gottfried einst im Fernsehen gesehen hatte. Er musste schmunzeln, besser gesagt, er hätte schmunzeln müssen. Wenn er seinen Mund und die Lippen noch gefunden hätte. Er wusste genau, dass sie nicht von Würmern aufgefressen worden waren. Das mit den Würmern und den Toten ist ein Märchen. Ein Kleingärtner kennt seinen Kompost und weiß, was darin lebt. Er hatte jenseits des Drahtzauns zwischen seinem Garten und dem Bahndamm einmal einen toten Hund liegen sehen. Der lag zwei Wochen dort, ohne dass sich jemand um den Kadaver gekümmert hat. Die erste Woche verging, ohne dass sich der tote Tierkörper sichtbar veränderte. Doch ab dann schien er von Tag zu Tag schnell zu zerfallen. Fliegenmaden hatten ihn als Kinderstube in Beschlag genommen und von innen ausgesaugt. Das Fell schälte sich von unförmigen, braunen Aasklumpen. Dann machten sich Scharen von zeternden Drosseln über den Rest her, und in der Nacht, viel diskreter, die Nagetiere. Ein paar behäbige, dickschnablige Krähen trugen gegen eine Mannschaft von flinken, frechen Elstern rüde die Hackordnung an dem Kadaver aus. Ein Regenschauer hat den schleimigen Rest dann unter grauen Gleisschotter gespült.

Immerhin, dachte Gottfried, hier unten, ein Meter achtzig tief im Boden gibt es keine Würmer und Larven. Zu trocken, und zu wenig Sauerstoff gibt es hier. Der Esslinger Friedhof lag über sandigem Grund. Es wurde oft behauptet, dass Würmer einen Toten befallen. Welche Würmer? Regenwürmer? Ihwo, die gedeihen nur oben in der Humusschicht, wusste der ehemalige Kleingärtner. Ein toter Körper ist an und für sich schon ein wahres Paradies für Insekten und Würmer: feucht, warm, voller Nährstoffe. Die Fliegenweibchen legen gern ihre Eier auf einem toten Körper ab. Innerhalb von wenigen Tagen schlüpfen die Larven und ernähren sich von verwesendem Fleisch. Die Eiweiße werden in die Aminosäuren gespalten, und von den Insekten wie eine Boullion verschlemmt. Doch bei Gottfried da unten war es viel zu trocken. Und Sauerstoff gab es auch nicht.

Die Natur hat zwanzig verschiedene Aminosäuren geschaffen. Daraus wird alles Leben gemacht, gleich ob Mensch oder Tier. Eigentlich eine gute Sache. Die Insekten sind die Ökologie-Weltmeister der Natur. Jedes Tier hat seine Funktion, daran ist nichts Schlimmes, nichts Übles, nichts Ungerechtes. Nur die Menschen sind es, die aus dem Unvermeidlichen ein Drama machen. Lächerliche Angsthasen!

Seine Zersetzung begann außen, das spürte Gottfried. Sein Körper würde in der Gruft dehydrieren. Die Membranen von Milliarden von Körperzellen würden unter dem osmotischen Druck des salzhaltigen Zellplasmas durchlässig. Die Flüssigkeit daraus sickerte durch den Boden seines Sarges hindurch und verschwand in der Tiefe. Sie vermischte sich vielleicht mit dem Grundwasser, oder sie würde von den Wurzeln der Bäume aufgenommen werden. Sie stiege durch die Kapillaren wieder nach oben, als nahrhafter Lebenssaft. Ein Baum gedeiht, bildet Blätter, wächst. Viele Tote haben unverabredete Baumpatenschaften inne. Mein Gott, so wird es sein! Das ist der Grund, weshalb ich meine Füße nicht spüre, und auch meine Beine nicht mehr, bemerkte Gottfried jetzt. Die Extremitäten verdorren als erste. Der Prozess schreitet immer weiter fort. Der Leichnam wird mumifiziert. Mumien, wenn sie trocken gelagert werden, können selbst in Esslingen Jahrhunderte überdauern.

Nein, können sie nicht, fiel Gottfried ein, denn die Friedhofsordnung sah eine Ruhezeit von maximal dreißig Jahren vor. Dann schickte die Friedhofsverwaltung den Bagger, um die Grube erneut auszuheben. Der schmale, gelbe Minibagger, erinnerte sich Gottfried. Er war klein genug, um die schmalen Wege des Friedhofs befahren zu können. Seine hydraulische Schaufel konnte leise und passgenau die zwei Meter tiefe Grube für den nächsten Sarg ausheben. Gottfried und seine Frau Luise hatten früher öfters zugeschaut, wenn sie das Grab von Luises Eltern besuchten. Zwanzig Grabstellen schaffe er jede Woche, erklärte der Baggerführer stolz, als Gottfried neugierig nachgefragt hatte. Er staunte, wie denn die ganze komplizierte Hydraulik in so ein winziges Gerät passte, eine, die so eine enorme Leistung entwickeln konnte. Schließlich war Gottfried vom Fach, nämlich Maschinenschlosser bei der Bundesbahn. Da ist die Hydraulik riesig. Hier bin ich unter Fachleuten, sagte sich Gottfried, unter Spezialisten, die genau wissen, was da unten vor sich geht und dass dort keine Überreste zu finden sind wie bei dem toten Hund. Gottfried grübelte. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, dass sich seine Nase von ihm fortbewegte, aber nur einen Augenblick. Seltsam!

Vermutlich gibt es hier Schimmelpilze. Mit jedem Verstorbenen gelangen sie ins Grab und zerlegen dort langsam und gründlich den Leichnam. Schimmelsporen können Jahre im Trockenen und Kalten überdauern. Sie brauchen nicht einmal Sauerstoff. In der Gruft gedeihen sie. Sie beginnen wieder zu leben, das heißt, sie nehmen ihren Stoffwechsel wieder auf, sie vermehren sich, die Zellteilung kommt in Gang. Der Schimmelpilz treibt sein Mycel in alle Ritzen und Poren. Das Mycel generiert Verdauungssäfte. Sie bauen das tote Gewebe ab und sogar das Eichenholz des Sarges. Selbst in die mikroskopischen Poren von Knochen dringen Schimmelpilze ein und ernähren sich vom Knorpel. Knochen bestehen aus winzigen Kristallen von Calciumphosphat, die durch festes, zähes Bindegewebe miteinander verkettet sind. Dieses Kollagen lösen die Schimelpilze auf. Zurück bleiben die spröden, mineralischen Kristalle. Reiner Kalk bleibt übrig wie in einem Korallenriff, doch ist er hier vermengt mit dem feinkörnigen Sand der eiszeitlichen Sedimente von der Schwäbischen Alp. Der Bagger merkt den Unterschied nicht und denkt, das sei halt normal, hier im Großraum Stuttgart.

Gern hätte Gottfried gewusst, wer hier unten vor ihm begraben worden war, dreißig Jahre vor seiner Zeit. "Grüß Gott, Herr Kollege!" hätte er gern herübergerufen. Freilich konnte Gottfried nicht wissen, dass der Esslinger Friedhof da schon am dreiundvierzigsten Breitengrad angekommen war, etwa bei Mailand. Plattentektonik, und als Toter hat man absolut kein Zeitgefühl. Die Europäische Kontinentalplatte hatte sich schon weit unter die Adriatische Platte geschoben. Ein "Buon Giorno, Signore!" wäre nun angemessen und würde sicherlich höflich erwiedert werden. Sofern man die existentiellen Key Facts Gottfrieds vorübergehend ignorierte. Vielleicht ist es ratsam, zumal wenn man im süddeutschen Raum lebt, sich beizeiten einen italienischen Sprachführer zuzulegen. Allerdings lag der Esslinger Friedhof jetzt in der Subduktionszone fünfzehn Kilometer unter Meeresniveau, womit sich diese Empfehlung erledigt haben dürfte.

Das heißt, wenn das Meer dann nicht schon verdampft sein würde. Gottfried war auf dem Weg zum Mittelpunkt des Planeten, wo es nochmals unvergleichlich heißer war als auf der Oberfläche. "Bene, un signore tedesco al sottosuolo!" Ein Mechanikerkollege Gottfrieds im Ausbesserungswerk, Italiener, hatte seine Eltern im Krieg tragisch durch die deutsche SS verloren und schon Gottfried prophezeit, dass Gott die Deutschen zum Jüngsten Gericht tiefer aus der Hölle ausbaggern würde müssen als irgendjemand anderen.

Sicher, es würde noch ungefähr dreihundert Millionen Jahre dauern, ehe Gottfrieds Grabstelle tief genug in den Magmastrom eingetaucht und dass er mit der Erde eins wäre. Und noch weitere vier Milliarden Jahre, bis die Sonne als aufgeblähter roter Riesenstern das innere Sonnensystem einschließlich unseres Planeten verschlingen würde. Und dann vergingen noch einmal zehn Milliarden Jahre, bis die Kernfusion erschöpft und alles zu einem hyperdichten Neutonenstern zusammengeschrumpft wäre, der insgesamt kaum größer war als der Esslinger Friedhof. Die Reise durch die Hauptreihe des Hertzsprung-Russel-Diagramms, die unvermeidlich jeder Stern mit allen seinen Bewohnern antritt, ist lang und kräftezehrend. Gottfried würde sie genießen dürfen.

Er hatte seine Nase aufgegeben und machte sich keine Illusionen darüber, dass seine Moleküle und Atome im Kraftfeld dieser galaktischen Schrottpresse am Ende alle ihre Elektronen einbüßen würden. Seine Elektronen? Nein, alle Elektronen der Welt sind ununterscheidbar, bewies einst Enrico Fermi, ebenfalls ein vom Faschismus vertriebener Italiener. Elektronen sind kollektives Gut. Das galt auch für die postiven Protonen aus Gottfrieds nackten Atomkernen. Sie würden im Zwergstern in den ladungsneutralen Stromspar-Quantenzustand zurückgeschaltet werden, jedes einzelne. "Immer der Nase nach!" hat ein zottiger, graubärtiger Typ, mit seinem Schlüssel winkend, Gottfried in seinem Traum hinterhergerufen, erinnerte er sich.
 
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Matula

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Guten Abend,

ich find's gut, dass Du in puncto Verwesung mit ein paar gruseligen Phantasien aufgeräumt hast ! Ob aus der Sonne ein Neutronenstern wird, ist mW fraglich. Eher wird aus ihr ein weißer Zwerg, ein Kohlenstoffklumpen - poetisch "a diamond in the sky", in dem wir dann alle eingeschlossen sind. Ein interessanter Text.

Schöne Grüße,
Matula

In den Absätzen 6, 8 und 10 hat sich jeweils ein kleiner Tippfehler eingeschlichen.
 

Hans Dotterich

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Hallo Matula,

Vielen Dank für die positive Bewertung. Die Tippfehler habe ich beseitigt. Diese Dinger sind lästig. Jedenfalls werden wir kein schwarzes Loch. Das finde ich tröstlich.

Ich dachte mir, ein sparsamer, ehrlicher Schwabe wie Gottfried könnte sich auf dem Präsentierteller von protzigem Diamanten am Ende vielleicht unwohl fühlen.

Grüße

Hans
 

Olli

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Hallo Hans,

ein sehr fröhlicher und informativer Text zur letzten Reise. Die Wechsel und das Verweben der Wissensgebiete miteinander, haben mir beim Lesen kurze Weile beschert.

Schöne Grüße

Olli
 

Hans Dotterich

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Hallo Olli,

Ich danke Dir für die Bewertung und natürlich auch über Deinen netten Kommentar. Ich hatte mir darüber gemacht, was das Unendliche denn bedeutet, oder wenn einer unendlich viel Zeit hat.

Nun, es bedeutet zuerst einmal Null Stress. "Leben ist Umsatz", hat mir mein früherer Chef einmal gesagt. Null Umsatz bei Null Stress? Geht Null durch Null auf, 0:0. Man kann schlechter spielen.

Grüße

Hans
 

Olli

Mitglied
Hallo Hans,

immer wieder eine interessante Gleichung aus der Mathematik. Angelehnt an diese Gedanken gibt es einen Roman der sich mit dem letzten Heute beschäftigt. Da hat die Protagonistin nur noch einen Tag zu leben. Spannend war da: Sie macht sich trotz der fast greifbaren Endlichkeit sehr wenig bis keinen Stress. Das hat mich als Pendant zu deinem Text an die unterschiedlichen Sicht- und Lebensweisen erinnert.

Grüße

Olli
 



 
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