Die großen Kugeln müssen unten hängen

Causemann

Mitglied
"Wo ist denn der Doppelstecker?"
Dörte ruft mir aus dem Arbeitszimmer zu. Ich habe sie wegen des Steckers dahin geschickt.
"Wenn, dann im grünen Schrank", rufe ich zurück. Werkzeug und Stecker sind immer im grünen Schrank. Wenn da keiner ist, haben wir keinen mehr.
"Hier ist kein Doppelstecker! Komm doch mal."

Ich gehe zu ihr. Sie hat keine Geduld. Wir verbringen sehr viel Zeit mit der Suche nach Doppelsteckern. Schon immer. Wir ziehen oft um, immer eine Gelegenheit, nach Doppelsteckern zu suchen. Oder wir stellen einen Weihnachtsbaum auf, wie jetzt. Und immer kaufen wir neue Doppelstecker und Dreierstecker und Achtfachstecker mit Schalter. Und dann bringen wir sie irgendwo an oder sie verschwinden auf seltsame Weise. Oder es ist mal einer übrig, dann tue ich ihn in den grünen Schrank.
Dörte tut Sachen niemals an die gleiche Stelle zurück. Sie denkt nicht darüber nach.
Aber jetzt brauchen wir einen Doppelstecker, weil ich zwei Lichterketten in den Baum hänge. Es gibt keine längeren Lichterketten als 50er. Also hänge ich zwei rein. Das kommt gerade hin.

"Nee, hier ist wirklich keiner."
Ich schließe das große Klappfach am grünen Schrank.
"Hast Du einen Doppelstecker genommen und irgendwo rumliegen lassen?"
"Quatsch."
"Dann haben wir keinen mehr. Obwohl wir mal tausend Stück hatten."
Ich sehe sie an. Aber sie läßt sich keinen Blick gefallen.
"Na gut", sage ich, "dann müssen wir eben woanders einen wegnehmen. Wie möchtest Du den Baum, rot oder blau?"

Es ist meine Aufgabe, den Baum zu schmücken. Nicht, daß wir uns sonst streiten würden; wir sprechen uns natürlich ab. Aber ihr liegt nichts daran, selbst Hand anzulegen, und mir macht es Spaß. Letztes Jahr hatten wir glaub ich Silber.

"Letztes Jahr haben wir alles dran gehängt, weißt Du noch? Das war schön."
Sie hat Recht.
"Du hast Recht; der war ziemlich bunt. Aber diesmal machen wir was schlichteres, ja?"
Wirklich schlicht sind unsere Weihnachtsbäume natürlich nie. Schlichte Weihnachtsbäume sind ein Widerspruch in sich. Ich verwende immer viel Lametta. Ohne Lametta sieht ein Weihnachtsbaum immer noch wie ein Tannenbaum aus, da kann man sonst noch dranhängen, was man will. Aber auch bei einem richtigen Weihnachtsbaum muß man sich entscheiden, ob er einfach nur bunt sein oder eine Farbe dominieren soll.

"Ich bin für rot, okay?"
Sie überlegt kurz.
"Na gut - dann rot."
Wir gehen ins Wohnzimmer zurück. An der Stereoanlage ist ein Doppelstecker. Ich mache ihn ab. Dörte setzt sich aufs Sofa. Bis jetzt sind nur die Kerzen befestigt, zwei 50er Ketten. Ich stecke sie ein.

"Oh wie toll. Ein Weihnachtsbaum ist sooowas schönes. Findest Du nicht?"
Dörtes Augen leuchten.
"Ist doch noch gar nicht geschmückt. Wart‘s ab." Ich sehe sie an und wünsche, ich wäre ein bißchen wie sie.
"Na gut, ich mach’ die Augen zu und gucke erst wieder hin, wenn er fertig ist, ja?"


"Die großen Kugeln müssen unten hängen."
"Warum?"
"Weil es sonst komisch aussieht."
Das war vor etlichen Jahren. Unser erster Weihnachtsbaum. Unser erstes gemeinsames Weihnachten. Und das erste und letzte Mal, daß Dörte einen Baum geschmückt hat.
Ich hatte schon als Kind beim Schmücken helfen dürfen und kannte die kleinen Tricks. Zum Beispiel, daß man das Lametta immer zuletzt dran hängt. Und daß die großen Kugeln nach unten gehören. Nicht, daß ich grundsätzlich an Konventionen festhielt, aber in diesem Fall war es einleuchtend.

"Wieso? Ich will meinen Weihnachtsbaum so schmücken, wie ich will."
Dörte hatte gleich die Packung mit den großen Kugeln aufgerissen und diese gleichmäßig auf dem Baum verteilt. Ich wollte gerade die, die sie ganz nach oben gehängt hatte, wieder herunter nehmen. Aber ihr verständnisloser Blick verlangte zuerst nach einer Erklärung.
"Es ist wegen des Gleichgewichts. Die großen Kugeln müssen unten hängen, weil sie schwerer sind; vor allem weil sie schwerer aussehen. Wenn sie oben hängen, verlagert sich auch der Schwerpunkt nach oben. Das macht den Baum weniger statisch."
Dörte sah mich merkwürdig an. Für sie hatte Weihnachten nichts mit Wissenschaft zu tun. Aber diese Sache offenbar schon.
"Das ist wichtig, denn Statik bedeutet Harmonie. Und Weihnachten ist Harmonie. Alles andere wäre ein Widerspruch."


Ich habe es Dörte damals genau erklärt. Auch, daß es hier keine Möglichkeit für Experimente gibt. Aber sie hat sehr bald das Interesse daran verloren. Wie auch am Schmücken überhaupt. Heute weiß sie, daß die großen Kugeln unten hängen müssen. Aber es ist ihr egal. Sie ist nicht der Typ Mensch, der Weihnachtsbäume schmückt. Sie ist der Typ, der bei ihrem Anblick leuchtende Augen bekommt. Sie ist ein Bauchmensch. Und ich liebe sie dafür.

"Achtung - jetzt!"
"Kann ich?"
"Du kannst jetzt gucken."
"Oh Schatz, du machst das immer so toll!"
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

sehr schöne geschichte haste da geschrieben. richtig passend zu weihnachten mit soviel toleranz im gepäck. könnte ich mir auch gut als scetch vorstellen. ganz lieb grüßt
 



 
Oben Unten