Die heilige Messe

Kyra

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Die heilige Messe

Als Magda um halb acht die Augen öffnete, genoss sie einen Augenblick die Freude, heute war Sonntag, für sie der schönste Tag der Woche. Kein Wecker hatte sie um sechs aus den Träumen gerissen, gleich gäbe es ein Frühstück mit selbst geräuchertem Schinken, Käse und Eiern, die ihre Mutter sicher grade erst den empörten Hennen unter dem warmen Gefieder hervorzog. Sie wollte noch nicht aufstehen, vergrub den Kopf tief im Kissen und ließ sich von der Wärme des Bettes umarmen, begann dann übermütig mit den Beinen zu strampeln und ihr Lieblingslied zu summen, „Ich bin ehne Räuber liev Mariellchen…ich bin ehne Räuber durch und durch…“. Schließlich war ihr so heiß, dass sie mit einem Ruck die Decke zurückwarf, um sich in den Tag zu stürzen. Nach dem Frühstück würde sie mit den Eltern zur Messe gehen, der Rest des Tages gehörte ihr allein.
Während Magda aus dem Bett stieg, überlegte sie, ob sie sich jetzt schon kirchfein machen sollte, oder erst bevor sie losgingen. Sie hasste es, sich noch einmal umzuziehen, aber den ganzen Morgen auf das Sonntagskleid zu achten, wollte ihr auch nicht gefallen.
Im Zimmer war es herbstlich kalt, darum zog sie schnell entschlossen ihr dunkelblaues Wollkleid mit dem zuckerweißen Spitzenkragen, den weißen Strumpfhosen und den Lackschuhe an. Das war besser als sich später noch einmal, zitternd vor Kälte, in den engen Sonntagsstaat zu zwängen. Magda ging ins Badezimmer und ließ etwas von dem eisigen Wasser in die Höhlung ihrer Hände laufen. Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie sich entschlossen den kalten Guss ins Gesicht schleuderte, in dem Versuch, sich selber zu entkommen, trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie schüttelte sich wie ein Hund und griff blind nach dem Handtuch. Da sie gestern Abend gebadet hatte, sollte das wohl reichen. Magda glaubte nicht, dass Gott sich an Schmutz störte, sonst könnte ER nicht all die zerlumpten Flüchtlinge lieben, die sie so oft in den Nachrichten zeigten und die sich ständig auf einer wirren Wanderung zu befinden schienen, in ihrem Versuch, Hungersnöten, Überschwemmungen oder Kriegen zu entkommen. Obwohl es immer andere waren, sahen sie sehr ähnlich aus; für Magda bestand der Unterschied zumeist nur darin, ob es Schwarze waren, oder nicht. Aber der Pfarrer hatte gesagt, ER würde die Dreckigen – oder hatte er gesagt die Elenden? - genauso lieben, wie die schön gekleideten Menschen hier.
Leicht fröstelnd verließ Magda das Bad. Im Herbst waren tagsüber nur die Küche und abends das Wohnzimmer geheizt, erst ab November würden die Heizungen in den anderen Räumen des Hauses angestellt. Die Schlafzimmerheizungen drehte die Mutter erst auf, wenn es mehr als drei Tage hintereinander stark gefroren hatte.
Magda war es gewöhnt zu frieren, sie war manchmal erstaunt, wenn Freundinnen sie besuchen kamen und sich darüber beklagten und ihre Mäntel und Handschuhe nicht einmal auszogen. So war es eben auf einem großen Bauernhof, dafür hatte sie aber ein eigenes Pferd, zwei Hunde und ihre geliebte Katze Musch, eine große Tigerin, die regelmäßig zweimal im Jahr einen bunten Wurf Junge zur Welt brachte. Leider durfte sie nie eines der Kätzchen behalten, eine Katze sei genug für den Hof, meinte die Mutter, da half auch Magdas betteln und bitten nicht. Immer fand ihre Mutter die Kleinen zuerst und dann waren sie einfach verschwunden. Musch hatte jetzt wieder einen dicken Bauch, aber dieses Mal hatte Magda sich vorgenommen besser aufzupassen und ein Junges heimlich zu behalten. Leider durfte die Katze nicht in ihr Zimmer, die oberen Stockwerke waren ihr verboten, weil Mutter meinte, eine richtige Hofkatze dürfe man nicht verweichlichen. Magda eilte die ausgetretenen Holzstufen hinunter, Generationen ihrer Vorfahren hatten sie so murmelglatt gelaufen, dass sie aufpassen musste, nicht auszugleiten. Jetzt würde sie doch zuerst Musch suchen, bevor sie zur Mutter in die Küche ginge, denn wenn die sie erst sah, fand sie immer noch eine kleine Arbeit, die Magda vor dem Frühstück noch erledigen konnte - die Kaninchen füttern, die Schafe aus dem Stall lassen und auf die Hauswiese treiben oder dem Vater beim Melken helfen. In der Diele zog sie sich eine dicke Jacke über und schlüpfte aus der Tür. Aus der Küche klang die übliche laute Sonntagsmusik, die Mutter immer im Radio anstellte – sonst hörte sie am liebsten Volksmusik oder Schlager, aber am Sonntagmorgen ertönte im Hause getragene Orgelklänge, jubelnde Chöre oder dramatische Klavierkonzerte.
Magda brauchte nicht zu suchen, sofort bemerkte sie Musch. Unbeholfen sprang die Katze zum Küchenfenster empor, aber weil dies keine Fensterbank hatte, rutschte sie immer wieder mit einem kläglichen Maunzen ab. Vergeblich suchten ihre Krallen an der Scheibe einen Halt, nur einen Augenblick konnte sie sich an der Mittelsprosse festklammer, so sehr sie ihren Körper auch anspannte und krümmte, immer wieder fiel sie hinunter. Magda blieb stehen, beobachtete die Katze, deren Versuche immer kraftloser und ungeschickter wurden. Die Küchentür zum Innenhof, sonst einen Spalt weit geöffnet, war geschlossen. Neugierig lief sie zum Fenster nahm Musch auf den Arm und versuchte durch die Scheibe zu spähen. Mutter stand mit dem Rücken zu ihr am Küchentisch, Magda konnte nicht erkennen, was sie grade machte. Mit dem miauendem Tier auf dem Arm öffnete sie die Tür. Ihre Mutter bemerkte den Luftzug und rief über die Schulter,

„Magda bist du es? Lass die Katze draußen, lass sie jetzt bloß nicht hier rein.“
Überrascht, aber gehorsam und ohne nachzufragen, stieß Magda die Katze aus ihrem Armen auf den Hof zurück und schloss die Tür hinter sich.
Langsam ging sie durch den warmen, brotduftenden Raum auf den großen Holztisch zu. Ihre Mutter schlug grade etwas in eine alte Zeitung ein. In dem kurzen Moment, bevor das Zeitungsblatt darüber fiel, sah Magda die neugeborenen Kätzchen. Zwei waren fast vom Blatt gerollt, die anderen lagen dicht nebeneinander auf dem Bauch nur eines streckte seine winzigen Pfoten in blindem Tasten der Mutter entgegen und fiepte leise. Dieser zarte Ruf war so durchdringend hoch, dass er trotz der lauten Musik zu hören war. Das musste auch Musch hören, die jetzt mit fast menschlich klagenden Lauten immer wieder gegen die Scheibe prallte.
Als Magda den Tisch erreicht hatte, waren die Zeitungsseiten zu einem länglichen Paket gefaltet das ihre Mutter ruhig nahm, in eine Plastiktüte steckte und diese ordentlich verknotete. Als sie in den Nebenraum verschwinden wollte, in dem die Mülltonnen standen, stellte sich Magda ihr in den Weg,
„bitte lass uns doch eines behalten, nur eines. Ich helfe dann auch jeden morgen beim Melken…bitte… du wirst es gar nicht merken…Musch ist doch auch so traurig… bitte, bitte nur eines…“
Die Mutter sah sie mit einem ärgerlichen Kopfschütteln an,
„das Thema hatten wir doch inzwischen oft genug, oder? Nein heißt bei mir nein. Vielleicht später mal, aber sicher nicht jetzt. Geh mir jetzt bitte aus dem Weg.“
Magda trat zögernd zur Seite und sagte, ohne die Mutter dabei anzublicken, erst leise, dann immer lauter,
„ich hasse dich, ich hasse dich mehr als alles andere auf der Welt. Ich hasse dich…ich hasse dich…ich hasse dich…“
Sie hatten beide nicht bemerkt, dass der Vater von der Diele eingetreten war. Schweigend stand er in der Tür. Beide erschraken, als er erst die Musik leise stellte und dann brüllte,
„Magda komm sofort hierher.“
Einen Augenblick zögerte Magda, dann ging sie zitternd vor Wut langsam zu ihm,
„Entschuldige dich sofort bei deiner Mutter…“
Magda konnte nicht antworten, sie schüttelte den gesenkten Kopf, die Augen auf die dicken blauen Socken des Vaters geheftet. Er muss sie schon von draußen gehört haben, so schnell war er der Mutter zu Hilfe geeilt, nicht einmal seine Hausschuhe hatte er angezogen. Der Vater wartete, stand schweigend und riesig vor ihr und wartete auf die Entschuldigung.
„Sieh mich an.“
Obwohl seine Stimme inzwischen ruhiger klang, wusste Magda, es war ein Befehl. Aber sie konnte den Blick nicht heben, der Kopf bewegte sich wie von selber in einem trotzigen Nein.
Sie fühlte seine harte Handfläche unter ihrem Kinn, er hob ihr Gesicht mit dem gleichen unerbittlichen Druck an, mit dem er auch ein widerspenstiges Kalb auf den Wagen des Schlachters drücken konnte. Nie schlug er die Tiere, er bezwang sie mit seinem steinernen Willen. So musste auch Magda jetzt in seine Augen sehen, aber kein Wort kam ihr über die Lippen. Der Zorn ließ ihren Blick zu einem Spiegel werden, nichts konnte in sie eindringen. Magdas Vater konnte nur seine eigene Wut in ihr erkennen. Das Kindergesicht in seiner Hand war ihm so ähnlich, dass es ihm völlig fremd erschien. So schob er sie wortlos durch die Küche in die Kammer mit den Mülltonnen und Putzeimern und schloss die Tür.
Magda stand etwas verwirrt in dem dunklen Raum, das von Efeu überwucherte Fenster ließ kaum Licht hindurch und es roch stark nach Abfall. Sicher würde sie hier bleiben müssen, bis die Eltern in die Kirche aufbrächen. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie sich genauer um. Sie wollte hier nicht eine Stunde stehen müssen. Neben der schwarzen Tonne bemerkte Magda eine alte Holzkiste, sie drehte sie um und fuhr prüfend mit der Hand darüber, ob kein Nagel herausstünde, zog dann ihre Jacke so tief wie möglich über das Kleid und setze sich drauf. Sie hätte gerne geweint, aber die Wut hielt ihre Tränen im Hals gefangen, drückte ihr die Kehle zu und ließ ihren Atem pfeifen. Erschöpft lehnte sie den Kopf an die Plastiktonne und blieb dort unbeweglich sitzen, die Gedanken bei ihrer Katze, deren lautes Jammern in ihren Ohren stach. Erst als sie aus dem Inneren des Müllbehälters ein kaum hörbares Fiepen vernahm, löste sich ihre Spannung und sie begann hemmungslos zu schluchzen. Es hätte keinen Sinn die Kätzchen jetzt aus der Tonne zu holen, sie würden sowieso bald sterben wenn sie nicht säugen könnten. Magda wusste, eigentlich wäre es das Beste sie zu töten, aber das konnte sie nicht. Sicher hatte sie schon Tiere getötet, wenn sie ein Nest mit jungen Mäusen fand, ließ sie ebenso selbstverständlich wie ihr Vater die Schaufel drauf niedersausen – aber hier konnte sie es nicht, dies waren die Jungen von Musch, es wäre Verrat gewesen.
So blieb sie weinend auf der Kiste sitzen, hielt sich die Ohren zu und summte wieder das Karnevalslied vom Räuber, dabei wiegte sie sich sanft im Takt.
Als die Tür wieder geöffnet wurde, war Magda ruhig und leergeweint.
Die Eltern, schon fertig für den Kirchgang hießen sie vorgehen. Sie erhob sich stumm, ging durch die Küche in die Diele, zog sich ihren dicken Wintermantel über und trat auf den Hof. Magda versuchte die Katze nicht zu beachten, die inzwischen am Efeu vor dem Kammerfenster hinaufgeklettert war und mit kläglich heiseren Rufen ihre Jungen lockte. Grade, als sie von ihren Eltern gefolgt, vom Hof ging, lief ihr Musch vor die Füße. Die Katze stellte sich mit erhobenem Schwanz vor sie, sah ihr direkt ins Gesicht und öffnete ihr kleines Maul zu einer stummen Anklage. So erschien es Magda jedenfalls, sie blieb stehen und hob in hilfloser Entschuldigung die Schultern, als die Stimmer ihrer Mutter von hinten ertönte,
„geht es jetzt weiter, oder wollt ihr wegen der Katz zu spät zur Messe kommen?“
Magda fühlte das Gewicht ihrer Eltern im Rücken, vor sich das traurige Tier. Ohne darüber nachzudenken streckte sie einen Fuß aus, schob ihn Musch unter den Bauch und trat sie zur Seite. Nicht heftig oder grob, aber entschieden genug die Katze aus dem Weg zu stoßen. Schweigend gingen sie durch die abgeernteten Felder auf das Dorf zu. Die Sonne kündete einen schönen Herbsttag, der Himmel bekam langsam das tiefe Blau der späten Monate. Magda fühlte die Stelle an dem ihr Spann den schlaffen Katzenbauch berührt hatte, die milchprallen Zitzen schienen sich unter ihre Haut gebrannt zu haben, sie hatte das Gefühl als würde ihre Haut sich vor Scham schmerzhaft spannen. Sie bemerkte ihr leichtes Hinken nicht. Ohne ihr Schweigen zu brechen betraten sie die Kirche, es war schon spät, sie mussten unter den kurzen Grüßen der Gemeinde in ihre Bank schlüpfen. Magda kniete sich sofort hin und begann zu beten. Nachdem sie ihr Vaterunser aufgesagt hatte, schloss sie die Augen und versuchte ein Gespräch mit Gott zu beginnen. Sie bemerkte kaum den beginn der Messe, erhob sich selten von den Knien, murmelte in Gedanken versunken die Gebete und lag bei den Liedern einen halben Takt zurück. Sie versuchte die Frage zu finden, die Frage die ihr Gott beantworten sollte, aber sie fühlte, sie hatte nur eine einzige Chance und nur wenn sie IHN richtig anrief, würde sie eine Erwiderung bekommen. Was wollte sie wirklich wissen, warum ihre Mutter so grausam war? Oder warum sie das arme Geschöpf auch noch getreten hatte? Warum ER dies alles zuließ…
Die Predigt vernahm sie nur als ferne Stimme, dicht schloss der Vorhang ihrer Gedanken sie ein.
Als sie mit ihren Eltern von der Sonne geblendet aus dem Gotteshaus trat, hatte sie die Antwort verstanden. Heftig wandte Magda sich der Mutter zu und fragte sie laut,
„wenn ich dann einmal ein Kätzchen aus dem Wurf behalten darf, wer entscheidet welches? Was passiert dann mit den anderen? Ich darf das nicht entscheiden und du auch nicht.“
Die Mutter nickte noch freundlich den Bauern vom Nachbarhof zu, bevor sie sich gelassen ganz zu Magda drehte.
„Komm mir jetzt bloß nicht mit Gott Magda, der interessiert dich sonst auch nicht. Keiner kann behaupten, ich sei nicht gläubig, aber Gott hat mich zu einem Menschen gemacht, nicht zu einer Blume. Darum benehme ich mich auch so. Ich muss sähen und ernten, mich ernährt keiner. Darum kann auch kein Gott von mir erwarten, dass ich acht junge Katzen durchfüttere, und wenn ER das nicht erwarten kann, kannst du es erst recht nicht – habe ich mich jetzt klar genug ausgedrückt?“
Magda drehte sich mürrisch um und murmelte,
„ich will kein Mensch sein…“
Am Nachmittag, als Magda trällernd ihr Pony putzte, hatte sie dies alles schon fast vergessen.
 

Breimann

Mitglied
Liebe kyra,

wieder eine gut erzählte Geschichte; du hast einen wirklich unverkennbaren Stil.
Wer, wie ich, auf dem Land, direkt neben einem Bauernhof aufgewachsen ist, seit nunmehr 20 Jahren wieder "Tür an Tpür" mit einem Landwirt lebt, der weiß von der anderen Art, in der diese Menschen mit Tieren umgehen. Da ist nichts zu spüren von der emotionalen Art der Städter, von aufgeregtem Tierschutz, aber auch nicht von Quälerei.
Da ist tierisches Leben eher in "nützlich", "krank", "gesund", "schädlich", überflüssig" und "verwertbar" eingeteilt.
Lieber ein Tier töten, als es leiden lassen; lieber unnütze Tiere töten, als sich damit belasten; lieber sofort töten, bevor es später schwer wird.
Ich könnte diese Denke und ihre Sprüche beliebig ergänzen. Fragen muss man, besonders bei Katzen, nach der Pflicht, sie unfruchtbar machen zu lassen. Warum ist das in deiner Geschichte kein Thema?
Die Gefühle des Mädchens, auch ihr schnelles Vergessen könne und ihr Gefühlsausbruch, sind sehr real geschildert.
Liebe Grüße
eduard
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

kyra! ich habe deine geschichte mit großer anteilnahme gelesen. wieder einmal eine perle aus deiner feder. bin eigentlich sprachlos, was den inhalt betrifft. auch ich war als kind in versuchung, die bibel in ein regelwerk umzuarbeiten, hab mich aber selber dafür ausgelacht. du sollst nicht töten - und wieviele tiere gehen täglich drauf, weil der mensch es so will! ganz lieb grüßt
 

sb

Mitglied
Gratuliere Kyra,

Deine Geschichte ist einfach nur gut. Der Stil kommt punktgenau und ergänzt sich optimal zum Gefühlsleben der Protagonisten. Ich lebe nicht auf dem Land, denke aber, genau so könnte es sich abspielen.

Spitze
 



 
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