Die Heimarbeit von Onkel Walter

Hagen

Mitglied
Die Heimarbeit von Onkel Walter

Als Kinder gingen wir gerne zu ‘Onkel Walter‘, weil er immer so interessante Geschichten aus dem Krieg, der mittlerweile fast zehn Jahre zurück lag, erzählte.
Onkel Walter war damals für die Heizung eines für meine damaligen Begriffe großen Hauses zuständig. Mehrmals täglich musste Kohle in den riesigen Schlund der Heizungsanlage geschippt werden. Das Feuer durfte niemals ausgehen, denn die Frau des Kommerzienrats von links unten hatte es stets mit den Bronchien und starkes Rheuma. Auf Grund dieser hohen Verantwortung hatte Onkel Walter, der Hausmeister, sich einen Tisch und ein paar Hocker in den Vorraum der Heizanlage gestellt und verrichtete dort nebenbei Heimarbeiten der verschiedensten Art ohne die Heizanlage aus den Augen zu lassen. Kugelschreiber, die gerade erfunden waren, zusammen bauen und Blaublättchen in Quittungsblöckchen legen war recht anspruchslos; - aber Zahnpastatuben zuschrauben; - das bedeutete eine hohe Verantwortung!
Die Tuben und die Verschlüsse wurden gesondert angeliefert. Diese noch nicht befüllten Tuben waren in Kartons und die Verschlüsse in Beuteln. Onkel Walter schraubte nun den Verschluss darauf, steckte die Tube mit dem Verschluss nach unten und der Öffnung nach oben und in ein Fach des Kartons. Das sah dann aus, als steckten viele kleine Rohre in den Kartons.
„Wichtig ist“, so erzählte uns Onkel Walter mit bedeutsamem Gesicht, „dass die Tube nicht angedrückt wird und das keine einzige Tube keinen Verschluss hat! Diese Kartons gehen dann in die Maschine. Die Maschine drückt dann die Zahnpasta rein und quetscht sie hinten zu. Nicht auszudenken, wenn irgendwo ein Verschluss fehlt! Dann läuft die Zahnpasta unten wieder raus und verdreckt die ganze Maschine!“
Wir Kinder waren alle schwer beeindruckt, und Onkel Walter fuhr mit einem seiner Kriegserlebnisse fort, während er sorgsam weiter schraubte: „Wir lagen damals in dem Kessel von Falaise. Ich war Ladeschütze in einem Panzerkampfwagen VI „Tiger“. Da kam General Kurt Meyer - der berühmte ‘Panzermeyer‘, aber das könnt ihr ja nicht wissen - zu mir und fragte mich, ob wir in Richtung St. Hilaire durchbrechen sollten … Ja, ja der Panzermeyer hat mich oft um Rat gefragt und wir haben dann in den Gefechtspausen manch Fläschlein miteinander leer gemacht.“
Onkel Walter pflegte an dieser Stelle immer in eine unergründliche Ferne zu blicken und fortzufahren: „In Russland wurde dem Panzermeyer als Obersturmbannführer das Eichenlaub für eine Reihe von verwegenen Angriffsunternehmungen in der Ukraine und auf der Krim verliehen, zu denen ich ihm geraten habe!“
Mit verklärtem Gesicht schaute Onkel Walter in eine unergründliche Ferne und schob eine Zahnpastatube derart in die Schachtel, als lüde er die Kanone eines Panzerkampfwagens VI.
„Naja, der Panzermeyer ist dann hoch ausgezeichnet worden, mit den Schwertern zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. aber ich wurde mit keinem Wort erwähnt.“
Onkel Walter schob eine weitere Zahnpastatube vorsichtig in den Karton.
„Nachdem SS-Brigadeführer Fritz Witt am achten Tag der Landung der Westalliierten in der Normandie gefallen war, übernahmen ich und der Panzermeyer die Führung der Division.“
Eine weitere Zahnpastatube wanderte vorsichtig in den Karton.
„Der Panzermeyer wurde 1944 schließlich in der Nähe von Lüttich gefasst und kam in ein Gefangenenlager“, fuhr Onkel Walter fort und schob wieder eine Tube in ein Fach des Kartons. „Ich konnte mich gerade noch absetzen, sonst säße ich ja nicht hier. – Und ihr Jungs könnt froh sein, dass ihr das alles nicht mitmachen musstet!“
Wieder schaute Onkel Walter mit verklärtem Gesicht in eine unergründliche Ferne und schob eine Zahnpastatube derart in die Schachtel, als lüde er die Kanone eines Panzerkampfwagens VI. mit einem panzerbrechenden Hohlladungsgeschoss …
Im Nachhinein fiel mir auf, dass Onkel Walter diese Geschichte permanent und immer ohne Varianten erzählte. Wir Jungs waren zunächst tief beeindruckt verloren aber bald das Interesse, schließlich hatte mein Freund Günter kurz darauf Geburtstag. Er hat einen Fußball aus richtigem, handgenähtem Leder bekommen, der natürlich sofort ausprobiert werden musste.
 



 
Oben Unten