Willi Corsten
Mitglied
Die Heimkehr
von Willi Corsten
Jan-Hein steigt aus dem Zug, wuchtet den derben Seesack auf die Schulter und stampft hinaus in das wirbelnde Schneetreiben. Der kleine Haltepunkt der Reichsbahn liegt tief in der Lüneburger Heide und die nächsten Höfe sind weit von ihm entfernt. Jan-Hein schaut sich nach einem Fuhrwerk um. Doch heute, am letzten Tag vor dem Weihnachtsfest, ist die Straße verlassen und menschenleer. So muss er den weiten Weg wohl laufen, den bitteren Weg zum Elternhaus hin.
Im Frühjahr war der junge Mann zornig fortgegangen von daheim. Er wollte Fried Hansens Tochter heiraten, die Anne vom Nachbarhof, aber sein Vater billigte die Heirat nicht. Ein unseliger Streit schwelte seit Jahren zwischen den starrsinnigen Heidebauern, den auch die Entfernung zwischen ihren Anwesen nicht zu mildern vermochte.
Jan Hein fuhr nach Hamburg und heuerte in Altona auf einem Seelenverkäufer an. Er umrundete mit dem Rostkahn die halbe Welt, schrieb keinen Brief an die Eltern und schickte keinen Gruß an die Braut. Doch vergessen konnte er die Liebste nicht, vergessen auch nicht die Mutter und den strengen alten Vater. Und als er zurück kam nach Altona, musterte er ab von dem Schiff und fuhr wieder heim zu dem Ort, wo einst seine Wiege stand.
Jan-Hein hat die Hälfte des Weges geschafft. Das Schneetreiben ist toller noch geworden, der Wind fast zum Orkan erwacht. Allmählich fällt die Dämmerung ein in das weite Land und verwandelt die hohen Birken in taumelnde Spukgestalten. Wacholder und Ginsterbüsche sind geisterhaft schwankende Irrwische und stören mit trunkenem Tanz die Ruhe der Toten im Moor. Das Heidekraut greift mit Teufelskrallen nach dem Schnee und türmt ihn zu hohen Wällen und Hexenbuckeln auf.
Mühsam kämpft Jan-Hein sich voran, erreicht endlich den Hof. Am Wegrand duckt sich gespensterhaft der alte Heuschuppen, in dem Heu und Stroh für den langen Winter lagern. Achtlos will der Mann daran vorbei, als er von dort die dumpfe Stimme des Vaters zu hören glaubt: „Jan-Hein, Jan-Hein, komm näher."
Zaudernd hält er ein in seinem Schritt und lauscht. Und wieder hört er die seltsam-dumpfe Stimme: „Jan-Hein, Jan-Hein, komm näher!"
Erregt eilt der Sohn zum Schuppen, tritt ein und blickt sich suchend um. Dann stockt sein Atem, denn im Stroh kauert eine hochschwangere Frau und weint. Seine Braut.
„Anne, du", stammelt der Mann und schaut entsetzt auf den Strick, den die Frau in der Hand hält. Dann beugt er sich nieder, streicht sanft das Haar aus ihrem Gesicht und flüstert: „Alles wird gut, Anne. Dass ein Kind unterwegs war, hab' ich nicht gewusst. Verzeih mir, wenn du kannst, ich bitt’ dich sehr darum."
Die Frau zittert am ganzen Körper und sagt: „Ich war verzweifelt und allein. Alle haben mich verachtet wegen dem Kind, machten mir das Leben unendlich schwer. Und da wollte ich...hier...wo wir uns so oft getroffen. ...Doch sterben ist wahrlich nicht einfach."
Erschüttert trägt Jan-Hein die Braut hinüber zum Haus, pocht ungeduldig ans Fenster und ruft: „Mach' auf Mutter, mach‘ auf und lass uns herein."
Zögernd geht die schwere Eichentüre auf. Erstaunen, Freude und Bestürzung verändern in rascher Folge das verhärmte Gesicht der Frau. Dann richtet sich die Alte auf, ist nur noch helfende Beschützerin, klug und umsichtig in vor Urzeiten erworbener Mütterlichkeit. „Spute dich Sohn, schaffe Tücher und Wasser herbei, deine Liebste wird bald schon Mutter sein."
Nur wenig später kommt in dieser Heiligen Nacht ein Mädchen zur Welt und bringt mit dem ersten Schrei neues Leben in das uralte Haus.
Als Anne versorgt ist und endlich schläft, erinnert sich Jan-Hein wieder an die Rufe des Vaters. Er steht auf von der Ofenbank und will hinaus auf den Hof, doch die Mutter weist ihn sanft zurück und sagt mit zitternder Stimme: „Bleib, mein Junge, dein Platz ist hier bei Frau und Kind."
„Ich will mich zuerst mit Vater aussöhnen. Was macht der alte Herr so lange da draußen? Warum lässt er uns hier warten."
Da führt die Mutter den Sohn behutsam ans Fenster und deutet stumm auf das Kreuz, das hinter dem Haus steht und nur wenig noch aus dem tiefen Schnee hervor schaut. „Friede sei mit seiner Seele", flüstert sie leise und schaut besorgt zu der schlafenden Frau. „Vater ist tot, ein halbes Jahr schon. Jan-Hein, er hat dir längst verziehen."
Und über der dunklen Heide reißt die Wolkendecke auf und ein einsamer Stern leuchtet herab vom nächtlichen Himmel.
von Willi Corsten
Jan-Hein steigt aus dem Zug, wuchtet den derben Seesack auf die Schulter und stampft hinaus in das wirbelnde Schneetreiben. Der kleine Haltepunkt der Reichsbahn liegt tief in der Lüneburger Heide und die nächsten Höfe sind weit von ihm entfernt. Jan-Hein schaut sich nach einem Fuhrwerk um. Doch heute, am letzten Tag vor dem Weihnachtsfest, ist die Straße verlassen und menschenleer. So muss er den weiten Weg wohl laufen, den bitteren Weg zum Elternhaus hin.
Im Frühjahr war der junge Mann zornig fortgegangen von daheim. Er wollte Fried Hansens Tochter heiraten, die Anne vom Nachbarhof, aber sein Vater billigte die Heirat nicht. Ein unseliger Streit schwelte seit Jahren zwischen den starrsinnigen Heidebauern, den auch die Entfernung zwischen ihren Anwesen nicht zu mildern vermochte.
Jan Hein fuhr nach Hamburg und heuerte in Altona auf einem Seelenverkäufer an. Er umrundete mit dem Rostkahn die halbe Welt, schrieb keinen Brief an die Eltern und schickte keinen Gruß an die Braut. Doch vergessen konnte er die Liebste nicht, vergessen auch nicht die Mutter und den strengen alten Vater. Und als er zurück kam nach Altona, musterte er ab von dem Schiff und fuhr wieder heim zu dem Ort, wo einst seine Wiege stand.
Jan-Hein hat die Hälfte des Weges geschafft. Das Schneetreiben ist toller noch geworden, der Wind fast zum Orkan erwacht. Allmählich fällt die Dämmerung ein in das weite Land und verwandelt die hohen Birken in taumelnde Spukgestalten. Wacholder und Ginsterbüsche sind geisterhaft schwankende Irrwische und stören mit trunkenem Tanz die Ruhe der Toten im Moor. Das Heidekraut greift mit Teufelskrallen nach dem Schnee und türmt ihn zu hohen Wällen und Hexenbuckeln auf.
Mühsam kämpft Jan-Hein sich voran, erreicht endlich den Hof. Am Wegrand duckt sich gespensterhaft der alte Heuschuppen, in dem Heu und Stroh für den langen Winter lagern. Achtlos will der Mann daran vorbei, als er von dort die dumpfe Stimme des Vaters zu hören glaubt: „Jan-Hein, Jan-Hein, komm näher."
Zaudernd hält er ein in seinem Schritt und lauscht. Und wieder hört er die seltsam-dumpfe Stimme: „Jan-Hein, Jan-Hein, komm näher!"
Erregt eilt der Sohn zum Schuppen, tritt ein und blickt sich suchend um. Dann stockt sein Atem, denn im Stroh kauert eine hochschwangere Frau und weint. Seine Braut.
„Anne, du", stammelt der Mann und schaut entsetzt auf den Strick, den die Frau in der Hand hält. Dann beugt er sich nieder, streicht sanft das Haar aus ihrem Gesicht und flüstert: „Alles wird gut, Anne. Dass ein Kind unterwegs war, hab' ich nicht gewusst. Verzeih mir, wenn du kannst, ich bitt’ dich sehr darum."
Die Frau zittert am ganzen Körper und sagt: „Ich war verzweifelt und allein. Alle haben mich verachtet wegen dem Kind, machten mir das Leben unendlich schwer. Und da wollte ich...hier...wo wir uns so oft getroffen. ...Doch sterben ist wahrlich nicht einfach."
Erschüttert trägt Jan-Hein die Braut hinüber zum Haus, pocht ungeduldig ans Fenster und ruft: „Mach' auf Mutter, mach‘ auf und lass uns herein."
Zögernd geht die schwere Eichentüre auf. Erstaunen, Freude und Bestürzung verändern in rascher Folge das verhärmte Gesicht der Frau. Dann richtet sich die Alte auf, ist nur noch helfende Beschützerin, klug und umsichtig in vor Urzeiten erworbener Mütterlichkeit. „Spute dich Sohn, schaffe Tücher und Wasser herbei, deine Liebste wird bald schon Mutter sein."
Nur wenig später kommt in dieser Heiligen Nacht ein Mädchen zur Welt und bringt mit dem ersten Schrei neues Leben in das uralte Haus.
Als Anne versorgt ist und endlich schläft, erinnert sich Jan-Hein wieder an die Rufe des Vaters. Er steht auf von der Ofenbank und will hinaus auf den Hof, doch die Mutter weist ihn sanft zurück und sagt mit zitternder Stimme: „Bleib, mein Junge, dein Platz ist hier bei Frau und Kind."
„Ich will mich zuerst mit Vater aussöhnen. Was macht der alte Herr so lange da draußen? Warum lässt er uns hier warten."
Da führt die Mutter den Sohn behutsam ans Fenster und deutet stumm auf das Kreuz, das hinter dem Haus steht und nur wenig noch aus dem tiefen Schnee hervor schaut. „Friede sei mit seiner Seele", flüstert sie leise und schaut besorgt zu der schlafenden Frau. „Vater ist tot, ein halbes Jahr schon. Jan-Hein, er hat dir längst verziehen."
Und über der dunklen Heide reißt die Wolkendecke auf und ein einsamer Stern leuchtet herab vom nächtlichen Himmel.