Die Heiterkeit sterbender Eisschollen

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rotkehlchen

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Es war im letzten Winter.
Ich ging den alten Treidelweg entlang, links der Hund, rechts der Fluss, hinter mir die Stadt. Auf dem schwarz glänzenden Wasser trieben Eisschollen, allerdings nicht von der Art, wie man sich Eisschollen vorstellt, als Teile eines zerborstenen Panzers, der den Fluss überzieht wie Reptilienhaut oder als spitzgratig aufgeworfene Geschiebe, vor deren gefühllos starrender Kälte einem graust. Diese waren gerade dabei sich aufzulösen; über Nacht hatte starkes Tauwetter eingesetzt und der weißen Pracht den Untergang verordnet. Vielleicht ist „Scholle“ auch nicht das rechte Wort, denn diesen Gebilden fehlte die gläserne Bestimmtheit, die Eisschollen auszeichnet, sowie, im Gedränge, die Gefahr für die Schifffahrt. Es waren rundliche, zum Rand hin zerfließende, silbrig glitzernde Gebilde; sie trieben dahin, harmlos-dünne Eisflinsen, einzeln oder in Gruppen. Manche drehten sich langsam im Kreis, von irgendeinem unsichtbaren Wasserstrudel bewegt; andere trieben gemächlich aufeinander zu, verschmolzen kurz und trennten sich wieder. Eine Weile sah ich ihrem Spiel im Gehen zu, dann blieb ich fasziniert stehen.
Mein Gott, Eisschollen – Eisflinsen – einerlei und nicht der Rede wert.
Doch!
Etwas war da, das über das alltäglich Triviale hinauswies, zumindest empfand ich es so. Da war diese absolute Ruhe, mit der sie dahintrieben, eine unheimliche, unfassbare, geradezu absurde Ruhe, kein Laut war zu hören, obwohl doch eine Unzahl dieser Gebilde eilig an mir vorbei zog. Ich dachte an den brausenden Straßenverkehr in der Stadt hinter mir, der trotz aller Hektik doch nur in Intervallen vorankommt. Hier war ein stetiger, gleichmäßiger, beständiger Fluss, nicht geruhsam träge, aber auch nicht hastig übereilt, etwa in der Geschwindigkeit eines zügigen Radfahrers. Dabei schien das schwarz wellende Wasser zu stehen; für einen Moment war mir unerklärlich, wieso die sterbenden Eisschollen sich überhaupt bewegten. Was ist das für eine Kraft, grübelte ich, die sie unaufhaltsam, ja geradezu selbstbewusst, auf ihr Ziel zutreibt, dem sicheren Untergang entgegen?
Inzwischen waren die Eisschollen, oder was noch von ihnen übrig war, deutlich kleiner geworden.
Wieder flossen zwei aufeinander zu und berührten sich an den Rändern, andere umkreisten sich oder drehten sich langsam um ihren Mittelpunkt – und da erkannte ich, woher diese Gebilde ihre Kraft nahmen.
Auch wenn man mich für einen Narren hält: Jetzt noch, wo alles Eis weg und der Winter dahin ist, bin ich fest davon überzeugt, dass diese Drehungen keine Zufallsbewegungen waren, sondern verträumte Tänze, und dass sie sich berührten, nicht, weil es die Strömung wollte, sondern um sich ein letztes Mal zu spüren und Lebewohl zu sagen. Es war diese unbekümmerte, geradezu heitere Gelassenheit, mit der sie in endlosem Strom ihrem Schicksal, die völlige Auflösung, klaglos entgegen schwammen.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Dieser bescheidene Fluss war ein Spiegel der ungeheuren Tiefe der Zeit, mit ihrem scheinbar endlosen Kommen und Gehen von Gestalten und Schicksalen, gemäß den ewig-gültigen Gesetzen, die da lauten: Alles fließt und stirbt und wird!
Der Hund zerrte an der Leine, denn dergleichen stillstehende Betrachtungen sind seine Sache nicht. Ich sah ihn an und blickte in seine Augen, die fast nur aus Pupillen bestehen. Und diese Pupillen waren ebenso schwarz wie das Wasser im Fluss, ihr Blick ebenso tief und ruhig, ebenso alt und unergründlich in ihrem naturhaften Wissen, ebenso zeitlos gelassen wie die sich auflösenden Eisschollen.
In hohem Satz sprang der Hund in einen zerfließenden Schneehaufen und erschnupperte freudig eine nur ihm verständliche Botschaft.
Auf einmal erfüllte mich eine große Zuversicht. Ha!, rief ich in den neblig trüben Tag hinein, auch in Hunderttausend Jahren wird es Hunde geben, die Schnee lieben, und in einer Million Jahre noch Flüsse, auf denen sterbende Eisschollen tanzen!
Beglückt ging ich weiter.
 

Bornstein

Mitglied
Man kann den Tanz der Eisschollen vielleicht mit einem Todestanz vergleichen. Kurz vor der Auflösung berühren sie sich noch einmal.


Die Perspektive des Weiterleben, des Weitergehen; der ewige Fluss der Zeit, mit oder ohne Eisschollen, lassen alles in eine andere Perspektive rücken, die ein ganz anderes Bild der Welt ermöglichen. Sehr schön!
 

Ixolotl

Mitglied
An sich ist nichts dagegen einzuwenden, liebes Rotkehlchen, Menschen, Tieren, Gegenständen oder Aggregatszuständen Einmaligkeiten zuzuweisen, die gelegentlich stürben. Allerdings versteift man sich damit auf Sichtweisen, die vom „Bau und Leben der Gesamtheit“ weg- und in die in den privaten Anschauungsbereich hineinführten.

Wer den beständigen Wechsel zwischen fest, flüssig und gasförmig lyrisch würdigen möchte, sollte nicht damit anfangen, bestimmte Aggregatszustände als lebendig, andere aber als „tot“ einzuordnen, wenn er uns einfachen Lesern nicht gleichzeitig erklärte, was genau ihn denn zur jeweiligen Sicht brächte.

Wasser ist im Vergleich zu Eis nichts Totes. Es mag durchaus sein, dass bestimmte Umstände solche Sichten erzeugten, aber wenn dem Leser nicht erklärt werden kann, welche Umstände das konkret sind oder sein können, beginnt er sich rasch zu langweilen und später darüber zu ärgern, dass jemand so kurzsichtig sein könnte, einen Wasserfall oder eine Eisscholle nicht als Summe kosmischer Existenzen, sondern als popeliges Detail misszuverstehen.

Natürlich ist eine Eisscholle kein Missverständnis. Aber sie wird zu einem, wenn man einen Schnappschuss mit dem großen Ganzen verwechselt. Natürlich kann man auch über eine Eisscholle allein sinnen und singen, aber aus dem momentanen Aggregatszustand eines winzigen Teils des Universums lässt sich nichts Endgültiges ableiten. πάντα ῥεῖ, wie es so schön heißt: alles fließt. Bei einigem Glück hat es Anfang und Ende, und beides ist gut. Wenn wir Pech haben, ist es nur ein fataler Kreislauf, der nie zu Ende kommen wird.

Wie gut, dass der Mensch die Kunst erfunden hat. Damit kann er sich über alles, auch über alle Zeiten und Naturgesetze hinweg, erheben und kann überleben. Überleben. Über-Leben. Ein schönes Wort. Eins der schönsten, die’s gibt.

Lg

Ixo
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo rotkehlchen,

Gut geschriebener, sprachlich sicherer Text. Die angefügten Betrachtungen sind mir persönlich etwas zu esoterisch, werden jedoch sicherlich ihr Publikum finden. Ein paar Einzelkommentare:

"Ich ging den alten Treidelweg entlang, links der Hund, rechts der Fluss, hinter mir die Stadt."
Guter Anfang, schöner Satz.

"als Teile eines zerborstenen Panzers, der den Fluss überzieht wie Reptilienhaut oder als spitzgratig aufgeworfene Geschiebe, vor deren gefühllos starrender Kälte einem graust."
Mit dem Wort "Haut" verbinde ich etwas Weiches, Biegsames, Glattes, Schlangenhaut zum Beispiel. Das passt nicht zu den starrenden, zerborstenen Panzerteilen. Den Satz würde ich umformulieren.

"Diese waren gerade dabei sich aufzulösen; über Nacht hatte starkes Tauwetter eingesetzt und der weißen Pracht den Untergang verordnet."
Das Verb "verordnet" lässt ein schiefes Bild entstehen. Ein Arzt verordnet Medikamente, eine Behörde erlässt Verordnungen. Beide passen hier nicht her. Wenn dir nichts Besseres einfällt, wären "angedroht" oder "bestimmt" zwei Alternativen.

"nicht geruhsam träge, aber auch nicht hastig übereilt, etwa in der Geschwindigkeit eines zügigen Radfahrers" Also etwa 30 km/h. Es handelt sich offenbar um einen Fluss im oder nahe am Gebirge. Bei dieser Geschwindigkeit kann ich mir das beschriebene ruhige Fließen und das scheinbare Stehenbleiben des Wassers nur schlecht vorstellen.

"Was ist das für eine Kraft, grübelte ich, die sie unaufhaltsam, ja geradezu selbstbewusst, auf ihr Ziel zutreibt, dem sicheren Untergang entgegen?"
Die Frage wirkt ein wenig seltsam. Jeder weiß, dass es die Erdanziehungskraft ist.

"Wieder flossen zwei aufeinander zu und berührten sich an den Rändern"
Das Verb "fließen hast du mittlerweile schon oft genug verwendet. Wie wäre es hier mit "glitten"?

"Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen:"
Den Satz würde ich ersatzlos streichen. Du brauchst solche sprachlichen Klischees nicht.

Der Hund zerrte an der Leine, denn dergleichen stillstehende Betrachtungen sind seine Sache nicht.
"dergleichen Betrachtungen sind seine Sache nicht" klingt ziemlich altväterlich. Wir leben im 21. Jahrhundert.

"auch in Hunderttausend Jahren wird es Hunde geben" hunderttausend klein

Gruß,

Ofterdingen
 

ArneSjoeberg

Mitglied
Hallo Rotkehlchen,

angenehm zu lesen. Hast mich mitgenommen. Zwei - sorry - Anfängerfragen:
Ha!, rief ich in den neblig trüben Tag hinein, auch in Hunderttausend Jahren wird es Hunde geben, die Schnee lieben, und in einer Million Jahre noch Flüsse, auf denen sterbende Eisschollen tanzen!
Der Satz ist schön. Doch müssten hier nicht irgendwie Anführungszeichen hin?

"hunderttausend" hätte mir mein Deutschlehrer vor 50 Jahren genüsslich um die Ohren gehauen. Müsste es nicht "einhunderttausend" heißen? Oder geht das durch, weil es wörtliche Rede ist?

Liebe Grüße
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
grandios gescheitert!

der titel unterstellt eigenschaften, die man nicht mit eisschollen in verbindung bringt:
sie sind weder heiter noch sterben sie

das ist aber gar nicht schlimm oder falsch
denn toten gegenständen menschliche eigenschaften zu unterstellen, ist völlig in ordnung

literarisch von bedeutung ist dann allerdings das schreiben zurück in eine konkretion, wenn ich diesen titel - wie hier - voranstelle
oder ich mache es umgekehrt: ich schreibe das konkrete und überhöhe es zu einem metaphorischen ergebnis - eben diesen titel hier

beides findet nicht statt

die autorin bleibt in einem empfindungs- und beschreibungsmuster stecken
hat sich in die naturbilder verliebt und gibt ihnen - ohne literarische qualität - dadurch ausdruck, indem auf das vorgefertigte bild verwiesen wird

technisch gut
literarisch schlecht

tut mir leid

gun.
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Gunnar,

Könntest du mal bitte in klaren, verständlichen Worten sagen, was du mit "ohne literarische Qualität" meinst und wie du zu diesem Urteil kommst?
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
aussage, lieber ofterdingen, ist literatur und erwirbt sich - die literatur - auf diese weise qualität
das bedeutet nicht, treffend die geschmäcker zu finden - gute literatur muss man gar nicht mögen

der text von rotkehlchen hat seine pluspunkte auf der beschreibungs/empfindungsebene
was aber will uns die autorin sagen?

Alles fließt und stirbt und wird!
mir verlaub: das ist schon eine erkenntnis, die gar keine mehr ist ... mit derlei altbackenheit will ich mich nicht zufriedengeben

es ist eine bedauerliche fehlentwicklung in den literaturen der letzte jahre, dass schönheitsaspekte der sprache (fälschlicherweise auch ästhetik genannt!) immer mehr in den vordergrund und somit die aussage(n) des textes in den hintergrund geraten
in der lyrik besonders schlimm: hier wird oft nur noch von klang und farbe gefaselt ... was ich da von so genannten fachjuroren gelesen habe - schrecklich

die heiterkeit sterbender eisschollen - das ist zuviel des schönen und also schlechten
allerdings nur für mich
vorerst


gruß
gun.
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
ich schreibe ... und will nichts sagen?

ich werde wohl fluchtartig diesen thread verlassen
 

rotkehlchen

Mitglied
Hallo, ihr lieben und keinesfalls einfachen (Zitat Ixolotl) Leser,
überrascht, welche Resonanz mein Werkchen ausgelöst hat, schwanke ich zwischen beeindruckt und amüsiert. Beeindruckt wegen der vielen klugen Kommentare und Verbesserungsvorschläge; amüsiert, weil mich Gunnar zu den Literaten zählt, welches Verdikt ich jedoch freudig auf mich nehme. Dabei wollte ich doch nur in aller Bescheidenheit einen subjektiven Eindruck eines objektiven Geschehens wiedergeben, das mich erstaunte, jenseits aller physikalischer Logk und scharfkantiger Philosophie, und ich wollte bewusst auch nicht alles erklären; daran ist schon manche Grauchsanleitung gescheitert. Natürlich will ein Schriftsteller etwas sagen, zum Beispiel, dass er nichts zu sagen hat, weil er auf Godot wartet. Was ich sagen will ist dies: Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als sich eure Weisheit träumen lässt! (Schon wieder so´n Spruch). Oder anders ausgedrückt: Hinter jedem Ding steckt ein Geheimnis, man muss es nur erkennen... Nenn es Esotherik, lieber Ofterdingen, ich nenn es: Fantasie, diese bedeutsame Kleinigkeit, die den Menschen vom Tier unterscheidet - im Guten wie zum Bösen. Warum, lieber Gunnar, soll der Spruch von Alles fließt und Stirb und Werde altbacken sein, nur weil er seit 2T Jahren gültig ist?
Und, ich gestehe es frei: Mich reizte der Versuch, solche geheimnisvollen Gedanken in Sätze zu gießen.
Ich danke allen für die Zeit, die sie meinem Text geopert haben. Die Verbesserungsvorschläge nehme ich gern auf.
Es grüßt herzlich DAS Rotkehlchen.

Ein Wahn, der mich entzückt,
ist eine Wahrheit wert,
die mich zu Boden drückt.

Wieland
 

Ofterdingen

Mitglied
Hinter jedem Ding steckt ein Geheimnis, man muss es nur erkennen... Nenn es Esotherik, lieber Ofterdingen, ich nenn es: Fantasie, diese bedeutsame Kleinigkeit, die den Menschen vom Tier unterscheidet
Liebes Rotkehlchen,

Ich spreche dich mal einfach so an, weil du auch mich "lieber" nennst. "Hinter jedem Ding steckt ein Geheimnis, man muss es nur erkennen." Ja, das ist ein Satz, den ich sofort unterschreiben würde, und doch würde ich dich vorher noch gern ein wenig nach der Tinte fragen, mit der er geschrieben ist, und wie weit die wohl reicht. Ich gestehe, ich finde dich sehr sympathisch, frage mich aber doch, ob man einem Geheimnis nicht vielleicht lieber das eine oder andere Geheimnisvolle lassen sollte, ohne die Realitäten - nun ja - bloßzustellen.

Liebe grüße,

Ofterdingen
 



 
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