Die Hexe

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Es mochte wohl elf Uhr sein. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Elisabeth setzte sich auf und sah sich verwirrt um. Hatte sie hier draußen auf der Lichtung im Wald geschlafen und dann so lange? Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhin gekommen war. Erst nach ein paar Minuten des richtig Wachwerdens wurde ihr bewusst, dass sie ein fast bodenlanges Kleid trug, das sie überhaupt nicht kannte, und barfuß war. Aber gestern hatte sie doch Jeans und Bluse getragen? Und Schuhe? Als sie einen Blick auf ihre Armbanduhr werfen wollte, stellte sie fest, dass diese verschwunden war. Aber an das Datum erinnerte sie sich jetzt. Es war der 1. Mai. Hatte ihr jemand einen blöden Streich zur Hexennacht gespielt? Ihre Freundinnen? Sicher nicht. Vielleicht Andreas? Aber nach erst drei Wochen Beziehung würde er das nicht wagen.

„Kommt raus!“, sagte sie laut. „Das war eine saublöde Idee!“

Niemand antwortete. Sie stand auf und fuhr sich mit den Fingern durch die langen schwarzen Haare, die ihr bis zur Hüfte fielen. ‚Wahrscheinlich sehe ich aus wie eine Hexe', dachte sie. ‚Was ist hier los?‘ Sie lief ein Stück weit in den Wald und sah zu den riesigen Baumkronen hinauf, die den Himmel verdeckten und bedrohlich auf sie wirkten. ‚Du hast zuviel Fantasie!‘, schalt sie sich selbst. ‚Als ob Bäume dir etwas tun könnten.‘ Sie lief wieder zurück auf die Lichtung und von dort aus ein Stück in die andere Richtung. Keine Menschenseele war in Sicht, selbst Vogelgezwitscher war nicht zu hören. Ihre nackten Füße fühlten sich kalt an.
Wie auch immer sie hierhin gekommen sein mochte, sie wollte auf der Stelle weg. Eine Handtasche war nirgends zu sehen, und das Kleid hatte keine Einstecktaschen, in denen sich Schlüssel oder Portemonnaie finden konnten. Sie versuchte, sich zu erinnern, ohne Erfolg. Die letzten Stunden, der ganze gestrige Tag lag im Dunkeln. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, je zuvor auf dieser Lichtung gewesen zu sein.

‚Immerhin weiß ich noch, wie ich heiße und wo ich wohne', dachte sie mit einem Anflug von Galgenhumor. ‚Und wie komme ich nach Hause?'
In der Nähe musste es eine Straße geben. Anstatt unnütze Überlegungen anzustellen, sollte sie sich schleunigst dahin aufmachen. Aber in welche Richtung sollte sie sich halten? „Nach Norden“, entschied sie, „ein Kompass zeigt immer nach Norden.“ Sie hatte Glück. Nach einer guten Stunde wurde es heller, der Wald teilte sich und vor ihr kam eine Straße in Sicht. Sie seufzte erleichtert auf. An der Straße würden Hinweisschilder angebracht sein. Ein beißender Geruch wie von Feuer, mit etwas Undefinierbarem gemischt, stieg ihr in die Nase. In der Ferne sah sie Rauchschwaden aufsteigen. Menschliche Behausungen waren also nicht so weit weg. Sie beeilte sich, in die Nähe der Straße zu kommen. Vielleicht konnte sie ein Auto anhalten.

Auf der Straße kam eine Kutsche in Sicht, die von zwei Pferden gezogen wurde. Elisabeth fiel die seltsame Kleidung des Kutschers auf. An einer Kutsche war nichts Ungewöhnliches, in dem Dorf, in dem sie lebte, gab es ein Gestüt. Pferde und Kutschen waren dort genau so oft zu sehen wie Autos, warum also nicht auch hier. Aber die Kleidung des Kutschers war alles andere als üblich. Er trug ein Wams und eine gepuffte Hose. ‚Sicher ein Mittelalterfest in der Gegend‘, dachte sie. Wahrscheinlich trug sie auch deswegen dieses lange Kleid. Natürlich, das war die Erklärung! Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Blieb noch die Frage, wer sie so ausstaffiert hatte und warum sie nichts mehr davon wusste.

Sie winkte dem Kutscher, doch dieser fuhr ungerührt weiter, als habe er sie gar nicht gesehen. Enttäuscht machte sie sich wieder zu Fuß auf den Weg, in Richtung der Rauchschwaden. An der Straße war kein einziges Hinweisschild zu sehen. Schließlich erreichte Elisabeth eine Art Marktplatz, auf dem sich viele Menschen tummelten. Auffällig war, dass alle Frauen ähnlich gekleidet waren wie sie selbst.
„Entschuldigung“, sprach Elisabeth eine ältere Frau an. „Ich habe mich verlaufen. In welcher Stadt bin ich hier?“
Die Frau starrte sie entsetzt an. „Seid Ihr noch ganz bei Trost? Hannes hat euch weggebracht. Nun kommt Ihr freiwillig zurück? Wollt Ihr brennen?“
„Was?“ Elisabeth verstand kein Wort. Wer war Hannes, und warum sollte er sie weggebracht haben? Sie kannte keinen Hannes.
„Elsbeth!“ Die Frau packte sie am Arm. „Verschwindet! Wenn sie mich mit euch sehen, brenne ich auch!“ Sie stieß Elisabeth grob von sich weg. „Lauft, ehe jemand merkt, dass Ihr hier seid!“
„Man kann es mit dem Mittelalterfest auch übertreiben“, murmelte Elisabeth, aber die Alte hatte ihr doch genügend Angst eingeflößt, um sich so schnell wie möglich davonzustehlen. Sie kam nicht weit. Wieder wurde sie mit festem Griff am Arm gepackt. „Ihr seid verhaftet!“, dröhnte eine Männerstimme. Wütend versuchte Elisabeth, den Mann abzuschütteln. Allmählich reichte es. „Lasst mich los!“, kreischte sie. „Ich habe auf so etwas keine Lust! Ihr hättet mich zumindest mal fragen können, ob ich bei eurem Mittelalterfest mitmache! Das wird mir unheimlich!“ Sie hatte noch nicht ausgezetert, als sie einen Schlag auf den Kopf verspürte und alles schwarz vor ihren Augen wurde.

„Ich glaube, sie kommt zu sich.“
Die Stimme kam aus weiter Ferne und ähnelte der von Andreas. Elisabeth schlug zögernd die Augen auf. Andreas beugte sich mit besorgtem Gesicht über sie und berührte sie sanft an der Stirn. „Ist alles in Ordnung, Darling? Weißt du, welcher Tag heute ist?“ Neben ihm blickte sie in die Gesichter ihrer Freundinnen Doris und Amalia und deren Freunde. Die Namen hatte sie vergessen. Sie hatte sie erst gestern kennengelernt. Richtig, gestern waren sie ja alle zusammen zum Zelten aufgebrochen.
„Der 1. Mai“, sagte Elisabeth stöhnend und griff sich mit der Hand an den brummenden Schädel. „Ich hoffe, 2011 und nicht im Mittelalter. Dieses scheiß Fest hat mir gereicht.“
Andreas lachte. „Natürlich 2011. Welches Mittelalterfest?“.
„Hier in der Nähe. Ach egal“, sie versuchte, sich aufzurichten und sank stöhnend zurück. Wie beim ersten Erwachen heute lag sie auf einer Lichtung im Wald, mit dem Unterschied, dass auf der Lichtung drei kleine Zelte aufgebaut waren.
„Sag mal, hast du etwas Komisches gegessen? Hannes meinte, du hättest vielleicht aus Versehen Pilze erwischt, die high machen.“
„Hannes?“
„Mein Freund“, mischte Doris sich ein. „Du hast ihn doch gestern kennengelernt.“
„Ich weiß nicht mehr viel von gestern“, murmelte Elisabeth. „Ich kann mich nicht erinnern, was ich gegessen habe.“
„Ist doch auch egal. Hauptsache, dir geht es wieder gut. Oder jedenfalls besser“, sagte Andreas. „ich war kurz davor, einen Arzt zu rufen.“

„Wie lange habe ich denn hier gelegen?“
„Naja, gestern waren wir natürlich alle nicht mehr ganz nüchtern. Gegen zwei wollten wir schlafen gehen, aber du musstest noch mal kurz in den Wald. Als du zurückkamst, hast du kein Wort gesagt, dich nur ausgestreckt und bist direkt eingeschlafen. Heute Morgen warst du nicht mehr im Zelt, als ich aufgewacht bin. Ich hab nachgeschaut und dich hier gefunden. Wir wollten bisschen abwarten, dachten, du hättest vielleicht nur zu viel gebechert und es nicht mehr zurück ins Zelt geschafft. Aber dann wurde es uns doch unheimlich.“
„Ja“, ergänzte Amalie, „wenn du jetzt nicht aufgewacht wärst, hätten wir den Rettungswagen alarmiert."
Ihr Freund, dessen Name Elisabeth nicht mehr einfallen wollte, stand neben ihr und hatte bis jetzt kein Wort gesagt. Wie der Kutscher aus ihrem Traum, der sie übersehen hatte. War es ein Traum gewesen?
„So, du ruhst dich noch ein bisschen aus“, bestimmte Andreas. „Ich schlage unser Zelt ab und fahre dich dann nach Hause.“
„Den Rest machen wir“, erklang eine Stimme. Elisabeth kannte sie nicht. Wahrscheinlich die des bis dahin sprachlosen Freundes von Amalia.
„Okay, danke“, murmelte sie.

Zwei Stunden später verabschiedeten sie sich von den anderen, und Andreas fuhr sie nach Hause. Im Auto fiel Elisabeth etwas ein. „Meine Armbanduhr ist weg.“
Andreas warf ihr einen überraschten Blick zu. „Du hast gar keine getragen, das wäre mir aufgefallen. Sie ist sicher bei dir zu Hause.“
Aber die Armbanduhr fand sich auch zu Hause nicht.
Eine Woche später fragte Elisabeth auf dem Fundbüro nach. Zu ihrer freudigen Überraschung überreichte ihr der Beamte dort die Armbanduhr schon nach wenigen Minuten.
„Vielen Dank!“ Erleichtert verließ Elisabeth das Fundbüro und blieb unschlüssig davor stehen. Sie hatte noch Zeit, sollte sie noch ein wenig bummeln gehen? Während sie überlegte, fiel ihr ein Schild an der Hauswand des Rathauses auf. Es war offensichtlich eine Gedenktafel. Sie las:
„Zum mahnenden Gedenken an unschuldige Frauen und Männer, die im Mittelalter als Hexen verfolgt, gefoltert und getötet wurden.“

Sie stand eine Weile davor. Dann machte sie sich auf den Weg in die Stadt.
 
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Hallo SilberneDelfine,

passend zur Walpurgisnacht :)

„Entschuldigung“, sprach Elisabeth eine ältere Frau an. „Ich habe mich verlaufen. In welcher Stadt bin ich hier?“
—> Ihren Namen würde ich schon früher erwähnen, an der Stelle, wo ihr einfällt, dass sie weiß, wie sie heißt.

„Elsbeth!“
—> Kosename/Abkürzung? Oder doch eine Verwechslung?

„Man kann es mit dem Mittelalterfest auch übertreiben“ (KOMMA) murmelte Elisabeth,

um sich so schnell wie möglich davon zu stehlen.
—> ich glaube zusammen: davonzustehlen

„Hier in der Nähe. Ach egal“, sie versuchte, sich aufzurichten und sank stöhnend zurück.
—> „Hier in der Nähe. Ach, egal.“ Sie versuchte, sich aufzurichten und sank stöhnend zurück.

Oder jedenfalls besser“, sagte Andreas. „ich war kurz davor, einen Arzt zu rufen.“
—> „Ich war


War sie jetzt betrunken oder high oder hatte sie einfach nur einen Traum? Man weiß es nicht. Ich persönlich hätte mir auf jeden Fall noch mehr Geschehen im Mittelalter gewünscht, dass alles noch länger anhält.

Gerne gelesen.

Schönen Sonntag und liebe Grüße,
Franklyn
 
Hallo Franklyn,

danke für deinen Kommentar! :)

passend zur Walpurgisnacht :)
Ja, die Geschichte spukte mir schon länger im Kopf herum; es ist interessant, dass es mir leichter fällt, unter Zeitdruck eine Geschichte zu schreiben, wenn sie zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig sein soll.

> Ihren Namen würde ich schon früher erwähnen, an der Stelle, wo ihr einfällt, dass sie weiß, wie sie heißt.
Elisabeths Name steht doch bereits am Anfang, im dritten Satz. Ich habe mit Absicht nicht an der Stelle, wo sie denkt, „wenigstens weiß ich noch, wie ich heiße und wo ich wohne" Vor- und Nachnamen und Wohnort geliefert, weil es für die Geschichte unerheblich ist.

„Elsbeth!“
—> Kosename/Abkürzung? Oder doch eine Verwechslung?
Wer weiß ... Das habe ich absichtlich unklar gelassen. Im Mittelalter war der Name nicht selten ... Und da die Geschichte aus Elisabeths Sicht erzählt wird, die auch nicht wissen kann, warum die Frau sie so nennt, kann keine Erklärung folgen.

„Man kann es mit dem Mittelalterfest auch übertreiben“ (KOMMA) murmelte Elisabeth
Ja, du hast recht, das habe ich übersehen. Ändere ich gleich.

um sich so schnell wie möglich davon zu stehlen.
—> ich glaube zusammen: davonzustehlen
Du hast hier wahrscheinlich Recht. Ein wirklich überzeugendes Beispiel habe ich zwar nicht gefunden, aber auch nicht das Gegenteil. Ich ändere es um.

Hier in der Nähe. Ach egal“, sie versuchte, sich aufzurichten und sank stöhnend zurück.
—> „Hier in der Nähe. Ach, egal.“ Sie versuchte, sich
Hier ist egal, ob ich mit einem Komma und dann klein weiterschreibe oder mit einem Punkt und dann einen neuen Satz beginne. Das lasse ich so.

Oder jedenfalls besser“, sagte Andreas. „ich war kurz davor, einen Arzt zu rufen.“
—> „Ich war
Ich weiß nicht, was du hier meinst?

War sie jetzt betrunken oder high oder hatte sie einfach nur einen Traum? Man weiß es nicht. Ich persönlich hätte mir auf jeden Fall noch mehr Geschehen im Mittelalter gewünscht, dass alles noch länger anhält.

Gerne gelesen.
Vielen Dank. :) Es ist leider nicht so einfach, Szenen aus dem Mittelalter zu schreiben. Selbst für die kurze Geschichte musste ich schon einiges recherchieren (gab es schon Kutschen, wie war man gekleidet), und die Geschichte sollte doch pünktlich fertig werden. Deshalb relativ wenig aus dem Mittelalter.

LG SilberneDelfine
 

Aufschreiber

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

interessanter Gedanke. Liest sich auch schön.
Allerdings schließe ich mich Franklyn dahingehend an, dass der Teil des Mittelaltererlebens recht knapp ausfällt, dadurch die "Eindringlichkeit" ein bisschen leidet.

Beste Grüße,
Steffen
 

GerRey

Mitglied
Hallo SilberneDelphine!

Das ist eine sehr schöne Idee. Anfänglich dachte ich, dass es wieder so eine Zeitverschiebungs-Story sei, die einen Grund liefert, um sich mit dem Mittelalter zu beschäftigen - und war dann relativ überrascht und erfrischt. Für mich war dieser Abschnitt ausreichend. Ich wollte nicht, dass Elisabeth/Elsbeth brennt oder sich auch nur mit irgendwelchen Schergen herumschlägt wie in einem Kostümfilm aus den 50zigern.

Der Anfang ist mir ein bisschen flach. Vielleicht solltest Du etwas nachpfeffern ... mit irgendwelchen merkwürdigen Geräuschen oder so? Aber das ist Geschmackssache.

Sonst finde ich die Geschichte gelungen.

gratuliere

GerRey
 
Hallo SilberneDelfine,

das ist eine nette Geschichte. Sie wirkt eher wie ein Traum, der viel zu real erschien.
Ganz selten erinnere ich mich an meine Träume, dass ich sie mit ein paar Sätzen beschreiben kann. Aber das Ende, so kurz vor dem Aufwachen, ist dann meist völlig absurd ...

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 
Vielen Dank, GerRey und Rainer, für Kommentare und Bewertung!

Ich wollte nicht, dass Elisabeth/Elsbeth brennt oder sich auch nur mit irgendwelchen Schergen herumschlägt wie in einem Kostümfilm aus den 50zigern.
Nein, das wollte ich auch nicht. Anfangs hatte ich zwar eine ernstere Geschichte im Sinn. Aber dann rutschte sie quasi von selbst auf die unterhaltsame Schiene.

LG SilberneDelfine

das ist eine nette Geschichte. Sie wirkt eher wie ein Traum, der viel zu real erschien.
Eigentlich bin ich eher dafür, dass sich Geschichten nicht durch Träume erklären lassen. Aber hier machte ich mal eine Ausnahme. :)

LG SilberneDelfine
 

Heinrich VII

Mitglied
Hallo SD,

grundsätzlich eine interessante Geschichte, der ich gerne und neugierig gefolgt bin.
Von der Ablauf-Logik her würde mich interessieren wie sie vom 21. Jahrhundert so plötzlich im Mittelalter
landen konnte (??) Irgend ein magischer Ort mit einer Zeitschleife oder so etwas. Selbst-Hypnose oder was auch immer.
Irgend etwas muss sie dahin gebeamt haben, wenn du mich fragst.
Man hätte den Plot, der im Mittelalter spielt, etwas dramatischer gestalten können: Die Protagonistin wird fest
gehalten und soll zum Scheiterhaufen geführt werden. Durch das beherzte Eingreifen von jemand kann sie fliehen,
wird verfolgt und kann sich über die Zeitschleife zurück in ihr Jahrhundert retten (oder so ähnlich)

Davon abgesehen, gern gelesen.

Gruß, Heinrich VII
 
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