Die Hexe und der Schuster, erstes Kapitel

Hagen

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Die Hexe und der Schuster





Am nördlichen Stadtrand Darenwedes lebte der ‘Schwarze Herman‘. Seinem Gewerbe nach war er ein ehrbarer Schuster. Unten im Keller, im Gesindehaus eines reichen Bauern hauste er für kleinen Mietzins, ein armer Mann war er. Von großer Gestalt, mit schwarzem, struppigen Vollbart, der fast das ganze Gesicht bedeckte, sah er zum Fürchten aus. Wenn ein Kind nicht essen, nicht schlafen, nicht ruhig, nicht fleißig, kurz nicht brav und folgsam sein wollte, hieß es: „Warte nur, der ‘Schwarze Herman‘ wird kommen!“

Niemand kannte er näher, niemand wollte ihn näher kennenlernen. Wochentags saß er auf seinem Dreifuß. Mit Hammer und Ahle arbeitete er emsig, zwischendurch die gläserne Schusterkugel ausrichtend, damit sie das spärliche Sonnenlicht auf seinen Tisch bündele, das durch das winzige Fenster schien, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Wenn ihm sein Huhn ein Ei legte, gab es dieses des Morgens mit einem Kanten Brot. Mittags bereitete er sich ein Mahl aus Bohnen und Kraut, und des Abends begnügte er sich mit einem Kanten Brot und Schmalz. Altes Schuhwerk wurde ihm zum Flicken gebracht, deshalb fanden nur Groschen den Weg in seine Tasche.

Am südlichen Stadtrande Darenwedes lebte zur gleichen Zeit ‘Martha die Hexe‘. ‘Martha die Hexe‘ bewohnte ein winziges Häuschen, eher eine Kate, zwischen dem Dorf – derzeit war Darenwede noch ein Dorf - und dem Darenweder Wald. Sie war kräuterkundig und wurde gerufen, wenn jemand krank danieder lag und Quacksalber, Scharlatane und Ärzte mit ihrer Kunst am Ende waren.

‘Martha die Hexe‘ eilte stets herbei. Von großer, etwas gebeugter, doch kräftiger Gestalt, leicht gebückt und mit gewichtigem Schritt. Ihre brandroten, wild zerzausten, struppigen Haare leuchteten im Mondenschein.

Sie rieb Wurzeln und Pilze, kochte Beeren und zermalmte Kräuter, die sie unter Gezeter und Gefauche zu übel riechenden Salben und Tinkturen vermengte. Derlei bestialische Medizin verabreichte sie den Kranken mit Geschelte und Gekeife. Diese gaben nicht selten kurz darauf aus allen Körperöffnungen abscheuliche Flüssigkeiten von sich und schüttelten sich eine Nacht mit der ‘Kälte eines Fisches, der sich zum Sterben auf das Land geworfen hatte‘, und zwei Nächte lang ‘in großer Hitze‘. In der folgenden Nacht jedoch erhoben sie sich stets von ihrer Bettstatt und verlangten nach einem Topf Fleisch, einem Krug Bier sowie einem Weibe.

Der dritte Wunsch wurde allgemein nicht sonderlich gern gehört und vom Pfarrer von Grund auf verdammt. Man nahm dieses zum Anlass, das Entgelt für die Heilung kümmerlich ausfallen zu lassen, sodass in die Tasche ‘Marthas der Hexe‘ auch nur Groschen wanderten.

Fluchend und schimpfend nahm ‘Martha die Hexe‘ das verbliebene Remedium stets wieder an sich und lud es auf ihren kleinen, zweirädrigen Handkarren. Die Woche über ging sie in den Darenweder Wald um die Ingredienzen für Arzneien und Tinkturen gegen ‘Schmerzen jeglicher Art‘, das Zipperlein, röchelnden Atem und stinkende Füße zu sammeln.

Diese karrte sie nach Barenwede wenn Pferdemarkt war und bot sie dort mit viel Geschrei und Gekeife für kleines Geld feil. Wenn jemand mehrmals an ihrem Karren vorbei ging und nichts kaufte, konnte es passieren, dass ‘Martha die Hexe‘ ihn bespuckte. Der Marktvogt drohte ihr an, sie mit Fünf Groschen Strafe zu belegen, sollte sie weiterhin ein loses Maul führen.

An dem Abend, an dem diese Geschichte beginnt, hatte ‘Martha die Hexe‘ auf wundersame Weise all ihre Arzneien, Kräutleins und Tinkturen verkauft, ihre sauer verdienten Groschen einem Knaben in die Hand gegeben und ihm befohlen, ihm vom nahen Krugwirt Schnaps zu bringen. Sollte er mit dem Gelde durchbrennen, würde ihr Fluch auf ihn fallen wie eine alte Eiche, die von den machtvollen Axthieben dreier Holzknechte gefällt worden war. Der Knabe tat wie geheißen und brachte ihr den Schnaps.

‘Martha die Hexe‘ trank den Fusel. Es war mehr als ihr gut tat, mehr als sie vertragen konnte, und alsbald legte sie sich unter ihren Karren und schloss die Augen zu bleischwerem Schlaf.

Ähnlich erging es dem ‘Schwarzen Herman‘. Er hatte die Schuhe, die ihm zur Reparatur gebracht, jedoch nicht abgeholt worden waren, in eine aus Baumrinde gefertigte Tragbutte getan, war an diesem Tage auch zum Pferdemarkt gegangen, hatte sich am anderen Ende des Marktes wie ‘Martha die Hexe‘ niedergelassen und dieses Schuhwerk verkauft. Mit dem Ertrag in der Tasche war er zum Krugwirt gegangen und hatte den Erlös seiner Armseligkeiten vertrunken.

Als der Krugwirt die Lichter zu löschen und die Tür zu schließen gedachte, trugen zwei Roßtäuscher, die an diesem Tage gute Geschäfte gemacht hatten, den ‘Schwarzen Herman‘ vor die Tür um ihn der heilsamen Nachtluft auszusetzen.

Als sie jedoch des Karrens ansichtig wurden, der einsam auf dem verlassenen Pferdemarkt stand und sich scharf von dem runden, blutig roten Mond über Barenwede abhob, kam ihnen der Schabernack in den Sinn den trunkenen Schuster darauf zu legen. So taten sie, eine alte Decke, die in dem Karren lag, warfen sie darüber.

Unbemerkt von ‘Martha der Hexe‘, ungesehen von den reglos stehenden Pärchen, denn die Liebe geht um, wenn der Mond blutig rot über Darenwede und Barenwede steht; - so jedenfalls sagt man.

Doch als sich die Sonne am nächsten Morgen über den Horizont hob, tat sich auf dem Gelände des Pferdemarktes zunächst gar nichts. Erst als ein Kolkrabe seine Notdurft im Vorbeiflug auf die Stirne der Hexe verrichtete, wurde diese wach und schickte dem Vogel einen ellenlangen Fluch hinterher. Einen Spatzen, eine Meise, gar eine Elster hätte der Fluch zum Absturz gebracht; - nicht aber den Kolkraben!

Der ging auf einem Zaunpfahl nieder, warf den Kopf in den Nacken und lachte, wie nur Kolkraben lachen können. Das wiederum brachte ‘Martha die Hexe‘ in eine derartige Wut, dass sie die Griffe ihres Karrens packte und sich ungedenk ihres plumpen Kopfes und ihrer schwerfälligen Glieder nach Darenwede in Bewegung setzte. Die Hexe schob ihren Karren, sie spürte nicht die Last, rumpelte über Steinbrocken und Erdfuchen und verfluchte alles Getier, das Federn hatte.

Keifend und scheltend kam sie bei ihrem Häuschen an, als sich die Sonne wieder auf den Wipfeln der Bäume nieder ließ. ‘Martha die Hexe‘ wollte schlafen, nur noch schlafen, bis sich die dumpf kollernden Steine in ihrem Kopf aufgelöst hatten. Sie schalt sich eine Närrin, dass sie alle Tinkturen gegen ‘Schmerzen jeglicher Art‘ verhökert hatte und sie stieß ihren Karren gegen die Stufe vor ihrer Haustür, das die Griffe hochschnellten und der trunkene Schuster herausfiel. Ohne wach zu werden kollerte er auf die Erde.

„Der Teufel! Der Teufel! Ich hätt‘ den Schnaps nicht trinken sollen“, schrie ‘Martha die Hexe‘ voller Erschrecken, doch dieser Schrei fuhr ihr selber wie ein giftiger Dornbusch durch den Kopf. Sie bekreuzigte sich drei Mal und eilte zum Brunnen.

Kaltes Wasser!

Kaltes, klares Wasser hilft immer. Gegen den Teufel, böse Mächte und alles was von Übel ist auf dieser Welt. Wenn man leben, wenn man sterben will. Wasser hilft wenn keine Kräuter und Tinkturen zur Hand sind.

‘Martha die Hexe’ schwang die Wippe, zog den Eimer heraus und goß sich Wasser über Kopf und Glieder, sie ließ es fließen und füllte noch einen Bottich mit kaltem Wasser, den sie zu der leblos am Boden liegenden Gestalt schleppte. Da sie diese genauer betrachtete, stellte sie fest, dass es der Teufel nicht sein konnte. Kein Pferdefuß, kein Schwanz, keine Hörner!

Ein Mann lag vor ihr auf dem Boden, ein richtiger Mann mit schwarzem Bart und breitschultriger Gestalt!

Sie goß den Bottich voller Wasser darüber. Entschlossen, den Mann am Boden zu erwecken, füllte sie den Bottich erneut und ergoß das Wasser über Kopf und Brust des Mannes.

Der kam langsam wieder zu sich, doch glaubte er, in einen Wasserfall gestürzt zu sein.

„Hört’s denn gar nicht auf ...“. Gurgelnd spie der Schuster einen Schwall Wasser aus. ‘Martha die Hexe’ sprang zur Seite.

„Undankbarer Kerl! Weil du wieder lebst mußt du nicht sogleich ein loses Maul führen! Du Saufaus, du Trunkenbold!“

Wütend war ‘Martha die Hexe’, zornig und ergrimmt. Sie spuckte, trat nach dem armen Mann und schrie: „Geh mir aus den Augen! Du Wildschwein, du schwarzes!“

Doch der ‘Schwarze Herman‘ dachte nicht daran. In voller Größe und Selbstherrlichkeit blieb er lang ausgestreckt am Boden liegen und freute sich, dass sich endlich mal ein Mensch um ihn kümmerte, auch wenn dieser nur keifte und spuckte.

Doch als ‘Martha die Hexe’ abermals zum Tritt ausholte, richtete er sich auf, fasste ihr gebieterisch an die Rockfalten und riss sie zu sich. Noch war sie nicht wieder ganz bei Sinnen, sie taumelte gegen ihre Haustür und diese flog krachend auf. Des ‘Schwarzen Hermans‘ Griff an den Rock wurde zur innigen Umarmung, und weil ‘Martha die Hexe’ nur ein Bein am Boden hatte, schlugen beide in der Stube lang hin, und weil sie beide ihre Köpfe dabei an der Tischkante stießen, ließ sich nochmals eine Dumpfheit in ihren Köpfen nieder, die sie erst verließ, als die Sonne hoch über dem Darenweder Wald stand.

„Warum hast du mich wieder zum Leben erweckt, du Scheinheilige?“ fragte der ‘Schwarze Herman‘ als er wieder zu sich selber kam und ‘Martha die Hexe‘ in seinen Armen fand; - mit nie gekanntem, milden Lächeln auf der Lippe. Die hingegen fragte sich, ob fleischliche Sünde vorgefallen war, denn ihr Rock war hochgerafft bis zum Busen, und als der ‘Schwarze Herman‘ sein Beinkleid richten wollte, fand er dieses runtergelassen bis zum Knie.

Voller Entsetzen fuhren beide in die Höhe und richteten ihre Kleidung, dabei fiel dem ‘Schwarzen Herman‘ ein Groschen, der sich in einer Falte seines Mantelsacks versteckt hatte, aus der Tasche. Den warf er der Hexe auf den Tisch und sagte:

“Bereite etwas zu Essen, Weib! Mich hungert’s und dürstet’s.“

Mit jedem anderen hätte ‘Martha die Hexe‘ gescholten, geflucht, gekeift – doch sie tat wie geheißen, sie schwieg, nahm den Groschen und begann aus Schaffleisch und Kohl ein Mahl zu bereiten.

Als sie zum Brunnen eilte, Wasser zu holen, wurde sie eines Spatzenwurzes ansichtig, der in der vergangenen Nacht seine Blätter entfaltet hatte.

‚Da mag doch der Teufel drein gefahren sein‘, dachte die Hexe; - war ihr doch das Rezept für einen Liebestrank in den Sinn gekommen, welches ihre Großmutter ihr verraten hatte. Oft schon hatte sie es für ihre Kunden zur Anwendung gebracht, doch nie erfahren, ob es wohl geraten war.

‚So werd‘ ich’s selbst probieren‘, sprach sie zu sich und warf solange mit Steinen nach den Tauben, die auf dem Dach ihres Häuschens gurrten und turtelten, bis eine von diesen tot zu Boden fiel. Aus der Taube bereitete sie eine Brühe und fügte Nelken, Lorbeersamen, Distel sowie den Spatzwurz hinzu.

Derweil saß der ‘Schwarze Herman‘ auf dem einzigen Stuhl im Haus und erfreute sich des Lichtes, das die Sonne verschwenderisch durch das Fenster auf den Tisch ergoß. Als ‘Martha die Hexe‘ die Speise auf den Tisch brachte, ging sie zuvor den Bottich holen, drehte ihn um und nahm auf diesem Platz. Sie langten zu und ließen es sich munden, die Hexe und der Schuster. Beide konnten sich nicht erinnern, jemals ein köstlicheres Mahl zu sich genommen zu haben.

Und die Hexe reichte dem Schuster den Liebestrank, den sie gebraut hatte, und der Schuster leerte den Krug in einem Zug.

„Nun denn“, sprach der ‘Schwarze Herman‘ nachdem sich beide noch einmal die Finger geleckt und gerülpst hatten, um den Nachgeschmack zu genießen, „leihe mir deinen Karren für kurze Zeit!“

„Was willst du denn mit meinem Karren?“

„Du wirst’s schon sehen“, antwortete der ‘Schwarze Herman‘. Er war kein Mann großer Worte, und als Mann der Tat packte er den Karren bei den Griffen und schob ihn zu seinem Keller.

Zwischenher räucherte die Hexe ihr winziges Schlafgemach mit Blättern und Früchten des Brombeerstrauches, und sie fügte süßduftende Kräuter hinzu, Majoran, Sumpfstaude, Minze, Thymian, Baldrian und Veilchen, viel Veilchen, denn diese waren der Venus heilig und sie fügte Basilikum und Ginster hinzu, welche dem Mars geweiht waren.

Derweil war der Schuster bei seiner Behausung angelangt. Hämmer, Ahle, Pfriemen, Zwirn, Lederstücke, Rindertalg ... kurz, seine vollständige Habe verlud er auf den Karren, legte seine Wolldecke darauf und auf diese wie eine Krone seine Schusterkugel. Einer vorübereilenden Dienstmagd trug er auf, seiner Kundschaft mitzuteilen, dass sie ihn hinfort bei ‘Martha der Hexe‘ aufzusuchen hatte. Die Magd lachte schrill auf, bekreuzigte sich und ging kichernd weiter ihrer Arbeit nach, während derer sie mit Gekicher die Neuigkeit verbreitete.

Der ‘Schwarze Herman‘ jedoch ließ es sich nicht verdrießen, er machte sich auf den Weg zum Häuschen der Hexe. Flügelschlagend, gackernd und hin und wieder ein Korn vom Boden pickend folgte ihm sein Huhn. Das hätte es besser nicht tun sollen, denn kaum das die Hexe des Huhns ansichtig geworden war, hackte sie ihm den Kopf ab, rupfte es und nahm es aus; - konnte sie doch keine Tiere mehr leiden, die ein Federkleid trugen.

Während der ‘Schwarze Herman‘ seine Habseligkeiten ins Haus schaffte und seine Werkzeuge auf dem Tisch ausbreitete, feuerte ‘Martha die Hexe‘ ihren Herd erneut an und schob das Huhn in die Bratröhre.

Zweimal am Tage Fleisch!

Der ‘Schwarze Herman‘ konnte sein Glück nicht fassen, zumal ihm ‘Martha die Hexe‘ in der folgenden Nacht die Beiwohnung gestattete.

Doch ‘Martha die Hexe‘ verließ die Bettstatt vor dem ersten Hahnenschrei blümerant in der Herzgegend, hatte sie sich doch mehr von dieser Nacht versprochen.

Sie ging in den Wald, entsann sich der Rezepte ihrer Großmutter und kehrte mit Fasaneneiern zurück, die sie zusammen mit wilden Erdäpfeln zu einem wohlschmeckenden Frühstück auf den Tisch brachte. Saubrot hatte sie gemörsert, sieben Mal mit dem vierten Finger ihrer linken Hand umgerührt und hinzugefügt, ebenso Hauslauch, der auf ihren Dachziegeln gewachsen war, und Immergrün von der Schattenseite ihres Häuschens.

‚Es stärkt die Kraft des Mannes, der dir zu Füßen lag‘, hatte ihre Großmutter ihr dereinst verraten, ‚gib es ihm in die Speise des Morgens und ihr werdet in ewiger Liebe verbrennen wenn sich der Mond drei Mal gerundet hat!‘
 



 
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