schmurr
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Oma und Opa Lüthje (meist Lüütsche ausgesprochen, von einigen auch Lüttsche) gehörten zum engsten Familienkreis: Wir besuchten sie oft in Flensburg, und wenn sie zu uns kamen, stürmten wir drei immer zur Garageneinfahrt, um sie zu begrüßen. (Aber das taten wir bei allen Besuchern, weil nämlich alle uns etwas zum Naschen mitbrachten.) Manchmal schlief einer von uns eine Woche auf ihrem Sofa; dann hielt Opa jeden Abend die Kuckucksuhr, die wir bewunderten, an und brachte sie am nächsten Morgen durch emsiges Drehen des Zeigers, was Dutzende Kuckucksrufe zur Folge hatte, auf den neuesten Stand. Omanopa hüteten unser Haus, wenn wir im Urlaub waren, und erstatteten uns während dieser drei Wochen regelmäßig per Brief Bericht über den Gesundheitszustand unserer Meerschweinchen.
Aber das Tollste an Omanopa war Opas Angelhütte am Sankelmarker See. Heute führt ein Wanderweg rundherum und es gibt Parkplätze, damals jedoch war alles Wildnis. Beireis‘ Hütte, die hellgrün vom gegenüberliegenden Ufer herüberleuchtete, erreichte man am besten auf dem Wasserweg.
Wir parkten an einem Bauernhof und pirschten uns auf schmalem Sandweg an den See heran und dann an ihm entlang. Manchmal war Hochwasser und der See reichte, statt in sicherer Entfernung vor sich her zu dümpeln, fast bis an den Weg heran. Das schockierte mich, und viele Jahre lang hatte ich Alpträume von Überschwemmungen, zumal auch der Schulhof meines Gymnasiums zuweilen von der Schlei überflutet war und ich nicht schwimmen konnte, wohingegen meine Mitschüler in den Pausen auf dem Schulhof fröhlich umherschwammen.
Wenn wir dann glücklich an Kasper vorbeigekommen waren, einem Hund, der mich mindestens einmal ansprang – guten Willens, und es war nur ein Dackel, aber ich war klein und fühlte mich in Gefahr – , standen wir vor der Hütte. Es gab eine Petroleumlampe, und Wasser musste man von der Pumpe holen. Abseits stand ein Plumpsklo, das unerquicklich roch und in dem etliche Spinnen hausten; besonders nachts war es für uns Kinder eine Mutprobe, dorthin zu gehen. Wir waren so brav, dass ich gar nicht auf die Idee kam, einfach hinter die Hütte zu pinkeln.
Aber das alles wurde aufgewogen von der Gemütlichkeit der Hütte und der Liebe zu unseren Großeltern. Opa Lüthje repräsentierte den Humor in unserer Familie; der meines Vaters beschränkte sich auf Schüttelreime („Gibt es Schauerböen, findet das der Bauer schön“), für die meine Schwester in der Schule verhöhnt wurde, sowie saloppe Skatfloskeln: „Du kommst schon noch in meinen Jardin“ / “Kurz vorm Lokus in die Hose“.
Opa dagegen war jederzeit lustig. Er erzählte zwar immer dieselben Witze, und wir merkten das wohl, aber wir amüsierten uns trotzdem. Wenn Oma sagte: „Heini, du bis‘ man ‘n Dösbaddel!“, antwortete er: „Wenn du man nich‘ selbs‘ ‘n Dösbaddel bis‘!“ Wollte Oma etwas machen, wogegen er nichts einzuwenden hatte, sagte er: „Tu, was du nicht lassen kannst!“https://www.leselupe.de/#_edn1 Wenn sie von uns nach Hause aufbrachen, fuhr er die hundert Meter bis zur Kreuzung im ersten Gang, so dass sein Fiat 600 aufheulte. Einmal hörten wir Hammerschläge aus ihrer Küche: Opa versuchte, den letzten Rest Zahnpasta aus der Tube herauszupressen.[ii]
Auch Oma, wenn ich an sie zurückdenke, erscheint mir immer mit einem Lächeln. Warum hatten so liebenswerte Eltern eine Tochter, die ihre Liebe nicht ausdrücken konnte? Wahr ist, dass weder Oma noch Opa mich je nennenswert gestreichelt haben, soweit ich mich erinnern kann. Vielleicht hatten sie ja doch das fatale Haarer-Buch im Regal stehen und befolgt und es bei meiner Geburt ihrer Tochter in die Hand gedrückt mit den Worten: „So haben wir dich auch erzogen!“ Oder Mutti litt unter Kriegserinnerungen[iii]; sie war 1945 dreizehn Jahre alt, aber in Flensburg merkte man vom Krieg wenig, und ebensowenig danach von den Besatzungstruppen.
Oma benutzte Ausdrücke aus der Flensburger Petuhtanten-Sprache[iv], z. B. sagte sie, wenn ihr jemand leid tat, “Sünde!“ mit scharfem “s“ oder “Armer Stakkel!“. Beide Ausdrücke sind dänisch, der letztere Ausruf ist doppelt gemoppelt. Das “j“ in “Jäger“ sprach sie als weiches “sch“. Für „unartig“ sagte sie „eisch“.
Zurück zur Hütte: Opa hatte auch ein Boot! Abends ruderte er mit mir mitten auf den See hinaus und versenkte dort Schnüre mit Haken und Ködern daran in Gestalt von Regenwürmern (was angeblich nicht erlaubt ist), und am Morgen ging es wieder dorthin, um sie herauszuziehen; eine Boje zeigte, wo sie waren. Oft hingen Aale daran, die er in seinem Räucherhäuschen räucherte. Kein Italiener wird je erfahren, was für eine Köstlichkeit geräucherter Aal ist![v] (Preis 2017 in Hamburg: 100 g 8 Euro. Leider haben meine Hamburger Schwester und ihr Mann wegen des hohen Preises einen Aal-Boykott für alle Zeiten verhängt.)
Meine Mutter und ihre Schwester schwammen als Kinder auch gern im See, aber wir drei hatten das leider noch nicht gelernt...
In der Hütte habe ich auch zum ersten Mal (und zum letzten Mal, bis gegen Ende der Studentenzeit) eine nackte Frau gesehen: meine Oma. Sie zog sich vor dem Sofa aus, auf dem ich zu schlafen schien, weil es neben ihrem Etagenbett so eng war.
Im Speiseschrank stand eine Blechdose mit Süßigkeiten für uns. Und es gab ein Bücherregal, in dem ich einige “Geheimbriefe“ versteckte. Das ist alles beim Brand der Hütte vernichtet worden. Geheimbriefe schrieb ich in verschiedenen Geheimschriften; am schwersten zu entziffern war die letzte.
Opa baute eine neue, sehr simple. Eines Abends rief er bei uns an: er brauchte anwaltlichen Rat, denn die Stadt Flensburg hatte ihm mitgeteilt, alle Hütten am See seien illegal und müssten abgerissen werden. Mein Vater riet ihm, abzuwarten, und tatsächlich ist Opa zu seinen Lebzeiten deswegen nicht mehr belangt worden.
Noch heute denke ich, wenn ich hohe Bäume im Wind rauschen höre, an den See und die Ruhe dort zurück.
https://www.leselupe.de/#_ednref1
Aus „Emilia Galotti“ von Lessing. Gerüchte, denenzufolge „Wenn du man nich‘ selbs‘ ‘n Dösbaddel bis‘“ von Goethe stammen soll, kann ich nicht bestätigen.
[ii] In Wirklichkeit waren nur meine Eltern Zeugen dieses Vorfalls. Mein Vater berichtete darüber in einem Brief, den er mir nach Heidelberg schickte. Als ich das neulich meiner Schwester sagte, rief sie: „Was? Papa hat dir Briefe geschrieben?“ Ja, er schrieb mir mehrere, in seiner zackigen Anwaltsschrift, mit dem Briefkopf „Rechtsanwälte Schmurr & Thomsen“.
[iii] Der Begriff Kriegskinder wurde von Sabine Bode erfunden, und sie hat darüber geschrieben, wie auch über Kriegsenkel. Inzwischen gibt es viele Bücher über dieses Thema.
[iv] http://rostra.dk/pt/
[v] In Comacchio, das großen Rummel um seine Aale macht (Konditorwaren in Form von Aalen u.v.a.m.), sagte man mir, die Tiere seien schon im Rohzustand sehr teuer, und veredelt würde niemand sie sich leisten können. Trotzdem ist Comacchio eine Reise wert.
Aber das Tollste an Omanopa war Opas Angelhütte am Sankelmarker See. Heute führt ein Wanderweg rundherum und es gibt Parkplätze, damals jedoch war alles Wildnis. Beireis‘ Hütte, die hellgrün vom gegenüberliegenden Ufer herüberleuchtete, erreichte man am besten auf dem Wasserweg.
Wir parkten an einem Bauernhof und pirschten uns auf schmalem Sandweg an den See heran und dann an ihm entlang. Manchmal war Hochwasser und der See reichte, statt in sicherer Entfernung vor sich her zu dümpeln, fast bis an den Weg heran. Das schockierte mich, und viele Jahre lang hatte ich Alpträume von Überschwemmungen, zumal auch der Schulhof meines Gymnasiums zuweilen von der Schlei überflutet war und ich nicht schwimmen konnte, wohingegen meine Mitschüler in den Pausen auf dem Schulhof fröhlich umherschwammen.
Wenn wir dann glücklich an Kasper vorbeigekommen waren, einem Hund, der mich mindestens einmal ansprang – guten Willens, und es war nur ein Dackel, aber ich war klein und fühlte mich in Gefahr – , standen wir vor der Hütte. Es gab eine Petroleumlampe, und Wasser musste man von der Pumpe holen. Abseits stand ein Plumpsklo, das unerquicklich roch und in dem etliche Spinnen hausten; besonders nachts war es für uns Kinder eine Mutprobe, dorthin zu gehen. Wir waren so brav, dass ich gar nicht auf die Idee kam, einfach hinter die Hütte zu pinkeln.
Aber das alles wurde aufgewogen von der Gemütlichkeit der Hütte und der Liebe zu unseren Großeltern. Opa Lüthje repräsentierte den Humor in unserer Familie; der meines Vaters beschränkte sich auf Schüttelreime („Gibt es Schauerböen, findet das der Bauer schön“), für die meine Schwester in der Schule verhöhnt wurde, sowie saloppe Skatfloskeln: „Du kommst schon noch in meinen Jardin“ / “Kurz vorm Lokus in die Hose“.
Opa dagegen war jederzeit lustig. Er erzählte zwar immer dieselben Witze, und wir merkten das wohl, aber wir amüsierten uns trotzdem. Wenn Oma sagte: „Heini, du bis‘ man ‘n Dösbaddel!“, antwortete er: „Wenn du man nich‘ selbs‘ ‘n Dösbaddel bis‘!“ Wollte Oma etwas machen, wogegen er nichts einzuwenden hatte, sagte er: „Tu, was du nicht lassen kannst!“https://www.leselupe.de/#_edn1 Wenn sie von uns nach Hause aufbrachen, fuhr er die hundert Meter bis zur Kreuzung im ersten Gang, so dass sein Fiat 600 aufheulte. Einmal hörten wir Hammerschläge aus ihrer Küche: Opa versuchte, den letzten Rest Zahnpasta aus der Tube herauszupressen.[ii]
Auch Oma, wenn ich an sie zurückdenke, erscheint mir immer mit einem Lächeln. Warum hatten so liebenswerte Eltern eine Tochter, die ihre Liebe nicht ausdrücken konnte? Wahr ist, dass weder Oma noch Opa mich je nennenswert gestreichelt haben, soweit ich mich erinnern kann. Vielleicht hatten sie ja doch das fatale Haarer-Buch im Regal stehen und befolgt und es bei meiner Geburt ihrer Tochter in die Hand gedrückt mit den Worten: „So haben wir dich auch erzogen!“ Oder Mutti litt unter Kriegserinnerungen[iii]; sie war 1945 dreizehn Jahre alt, aber in Flensburg merkte man vom Krieg wenig, und ebensowenig danach von den Besatzungstruppen.
Oma benutzte Ausdrücke aus der Flensburger Petuhtanten-Sprache[iv], z. B. sagte sie, wenn ihr jemand leid tat, “Sünde!“ mit scharfem “s“ oder “Armer Stakkel!“. Beide Ausdrücke sind dänisch, der letztere Ausruf ist doppelt gemoppelt. Das “j“ in “Jäger“ sprach sie als weiches “sch“. Für „unartig“ sagte sie „eisch“.
Zurück zur Hütte: Opa hatte auch ein Boot! Abends ruderte er mit mir mitten auf den See hinaus und versenkte dort Schnüre mit Haken und Ködern daran in Gestalt von Regenwürmern (was angeblich nicht erlaubt ist), und am Morgen ging es wieder dorthin, um sie herauszuziehen; eine Boje zeigte, wo sie waren. Oft hingen Aale daran, die er in seinem Räucherhäuschen räucherte. Kein Italiener wird je erfahren, was für eine Köstlichkeit geräucherter Aal ist![v] (Preis 2017 in Hamburg: 100 g 8 Euro. Leider haben meine Hamburger Schwester und ihr Mann wegen des hohen Preises einen Aal-Boykott für alle Zeiten verhängt.)
Meine Mutter und ihre Schwester schwammen als Kinder auch gern im See, aber wir drei hatten das leider noch nicht gelernt...
In der Hütte habe ich auch zum ersten Mal (und zum letzten Mal, bis gegen Ende der Studentenzeit) eine nackte Frau gesehen: meine Oma. Sie zog sich vor dem Sofa aus, auf dem ich zu schlafen schien, weil es neben ihrem Etagenbett so eng war.
Im Speiseschrank stand eine Blechdose mit Süßigkeiten für uns. Und es gab ein Bücherregal, in dem ich einige “Geheimbriefe“ versteckte. Das ist alles beim Brand der Hütte vernichtet worden. Geheimbriefe schrieb ich in verschiedenen Geheimschriften; am schwersten zu entziffern war die letzte.
Opa baute eine neue, sehr simple. Eines Abends rief er bei uns an: er brauchte anwaltlichen Rat, denn die Stadt Flensburg hatte ihm mitgeteilt, alle Hütten am See seien illegal und müssten abgerissen werden. Mein Vater riet ihm, abzuwarten, und tatsächlich ist Opa zu seinen Lebzeiten deswegen nicht mehr belangt worden.
Noch heute denke ich, wenn ich hohe Bäume im Wind rauschen höre, an den See und die Ruhe dort zurück.
https://www.leselupe.de/#_ednref1
Aus „Emilia Galotti“ von Lessing. Gerüchte, denenzufolge „Wenn du man nich‘ selbs‘ ‘n Dösbaddel bis‘“ von Goethe stammen soll, kann ich nicht bestätigen.
[ii] In Wirklichkeit waren nur meine Eltern Zeugen dieses Vorfalls. Mein Vater berichtete darüber in einem Brief, den er mir nach Heidelberg schickte. Als ich das neulich meiner Schwester sagte, rief sie: „Was? Papa hat dir Briefe geschrieben?“ Ja, er schrieb mir mehrere, in seiner zackigen Anwaltsschrift, mit dem Briefkopf „Rechtsanwälte Schmurr & Thomsen“.
[iii] Der Begriff Kriegskinder wurde von Sabine Bode erfunden, und sie hat darüber geschrieben, wie auch über Kriegsenkel. Inzwischen gibt es viele Bücher über dieses Thema.
[iv] http://rostra.dk/pt/
[v] In Comacchio, das großen Rummel um seine Aale macht (Konditorwaren in Form von Aalen u.v.a.m.), sagte man mir, die Tiere seien schon im Rohzustand sehr teuer, und veredelt würde niemand sie sich leisten können. Trotzdem ist Comacchio eine Reise wert.
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