Die Hunde wittern Blut

Jao zog mit eingefallenen Wangen an seinem Joint, inhalierte den Rauch und hielt für einen Moment den Atem an. Der Rausch schwappte wie eine Dunstwelle in seinen Kopf, verbreitete eine angenehme Müdigkeit und überzog sein Gesicht mit einem Grinsen. Die Marktstraße vor ihm quoll über vor Lebendigkeit. Wie in Trance blickte er auf die Fußgänger, Fahrräder und Handkarren, die in lebhafter Bewegung an ihm vorbeiglitten. Stände und Shops reihten sich aneinander, dazwischen lagen Kneipen, nach außen offen und klein wie eine Garage. Unter Markisen und Sonnenschirmen stapelte sich Obst in hölzernen Kisten. Die Luft duftete nach Ananas, Papaya und Mango. Launiges Geschwätz, lautstarkes Feilschen, umherspringende Kinder, Moto-Taxis, die sich behäbig zwischen den Menschen hindurchschoben, das Leben in der Favela pulsierte und blühte, trotz der Armut.
Auf den offiziellen Stadtkarten existierte das Viertel nicht. Morro stand darauf und zu sehen war ein grüner Hügel. Die engen Gassen hatten keine Namen, die Behausungen keine Nummern. Hier glitzerte die Sonne nicht im Meer, sondern brannte auf Regentonnen und schiefe Ziegelhütten.

Warmer Wind strich über Jaos Gesicht. Ohne das Gefühl seiner Waffe zwischen Gürtel und Wirbelsäule fühlte er sich nackt und angreifbar, doch auf dem Marktplatz durften sich nur die Soldaten der Gang bewaffnet aufhalten.
„Wenn hier jeder Idiot mit einer Knarre herumfuchtelt“, sagte Diego, sein Befehlshaber, ein stämmiger Mann mit breitem Gesicht, „laufen die Geschäfte so gut wie ein Krüppel ohne Krücken. Eher hacke ich euch allen die Köpfe ab.“
Er sagte es ohne eine Spur von Humor in der Stimme und Jao war sich sicher, dass Diego es ernst meinte. Als ehemaliger Guerillero war er ein gefürchteter Mann. Im Dienste der Gang sollte er bereits neun Menschen getötet haben.
Jaos Aufgabe war es, Prostituierte und Anreißerinnen vor Übergriffen zu schützen. Sollte es zu lautstarken Auseinandersetzungen oder Handgreiflichkeiten kommen, waren von den Aufpassern bedrohliches Auftreten und, falls erforderlich oder unvermeidlich, der skrupellose Einsatz von Körperkraft gefragt. Er schaute hinüber zu den geschminkten Lockvögeln, welche die Männer ködern und zum Anbeißen verleiten sollten. Die Frauen trugen Miniröcke oder Hotpants und kreisten ihre Hintern. In der Hand hielten sie Plastikbecher mit Bier oder Wodka. Drogen, Mädchen, Jungen? Kein Vertreter des männlichen Geschlechts, der sie passierte und ihre Blicke erwiderte, war vor ihnen sicher.

Ramires tauchte neben ihm auf und schlug ihm mit dem Handrücken auf den Oberarm.
„Willst du den alleine rauchen, Marabunta?“ fragte er. Mit der schmalen Sonnenbrille über seiner Nase und den wulstigen Lippen wirkte er auf eine vulgäre Art brutal. Schon der Anblick seines Gesichtes und des muskelbepackten Körpers verschaffte ihm einen Respekt, von dem Jao mit seiner schmächtigen Erscheinung und den kantigen, schmalen Gesichtszügen nur träumen konnte. Er bemühte sich, ausgebufft und verschlagen aufzutreten, doch die Älteren Gangmitglieder quittierten es nur mit einem wissenden Lächeln. Manchmal zogen sie ihn sogar auf.
Mit gerade einmal vierzehn Jahren war Jao vom Helfer zum Aufpasser aufgestiegen. Seine Tageseinnahmen, an guten Tagen 400 Real, hatten sich verzehnfacht. Er fühlte sich wie ein kleiner König in der Favela. Ein kleiner König mit einem Fadenkreuz auf der Brust, dachte er manchmal. Zwei Freunde, so alt wie er, starben bereits bei Schusswechseln. Das verrückte Leben hatte seine Vorteile, aber auch seine Schattenseiten. Dennoch fühlte er sich auf sonderbare Weise unantastbar. Seine Mutter, schwanger mit ihm, wurde auf dem Weg zum Markt angeschossen und er kam per Kaiserschnitt zur Welt. Zwei Kugeln hatten die Plazenta durchschlagen und er wurde an Lungen und Brustwirbeln verletzt. Das menschliche Leben war zerbrechlich, aber über ihm schien eine schützende Hand zu schweben.

Er reichte Ramires den Joint und schielte verstohlen zu den jungen Prostituierten hinüber, die stupsend und rempelnd auf einem Bordstein saßen. Eines der Mädchen trug weiße Overknee-Strümpfe und ein kurzes schwarzes Kleid, durch das an einigen Stellen ihre Haut schimmerte. Ihre Augen zogen seine Blicke magisch an. Sie musste in seinem Alter sein, vielleicht ein wenig jünger. Es war ihm noch nicht gelungen, ein Gespräch mit ihr zu beginnen und während der Arbeitszeit waren persönliche Kontakte tabu. Eines der ungeschriebenen Gesetzte und wer eines davon brach, wurde drakonisch bestraft. Prügel und Verstümmelung waren das Mindestmaß an Disziplinierung. Und vielleicht würde es sogar Ramires sein, der die Strafaktion vollstreckte. Jao schluckte trocken. Er musste ungeduldig auf einen passenden Moment warten. Er hörte Ramires kräftig ein- und nach einem langen Augenblick geräuschvoll ausatmen.
„Wir sollen was erledigen", sagte Ramires, reichte den Joint zurück und grinste breit. Seine geweiteten Pupillen schluckten fast die gesamte Iris in seinen Augen.
„Was Angenehmes?“ Jao nahm einen weiteren Zug und lies die aufgerauchte Tüte zu Boden fallen. Eine übergewichtige Frau mit rosa Pullover und türkisem Rock schob einen Handwagen mit einer Gasflasche an ihm vorbei. In ihrem Mundwinkel steckte eine Zigarette. Hinter ihr folgte ein dürrer, kleiner Mann mit zwei Kindern auf einem klapperigen Motorrad.
„Mussten wir jemals was Angenehmes durchziehen?“ Ramires schaute ihn an, als würde er einen Verrückten betrachten. Jao schüttelte den Kopf.
„Nein.“ Von seinem ersten Tag an drehte sich alles um Drogen und Gewalt. Es war wie ein Sog, der ihn mitgerissen hatte und vielleicht irgendwann einmal verschlingen würde. Und nach jeder Gewalttat blieb etwas in ihm zurück, das er vergessen wollte. Eine nebelhafte Beklommenheit wurde zu seinem ständigen Begleiter. Er drängte sie in seinem Kopf ganz nach hinten und der Drogenrausch hielt sie von ihm fern, erst recht, wenn seine Stimmung einem Nullpunkt entgegensteuerte.
„Da oben liegt ein Junkie“, fuhr Ramires fort. „Wir sollen ihn wegschaffen. Diego sagt, er stört die Geschäfte.“ Ramires deutete auf eine Eckkneipe, vor der ihr Befehlshaber stand und mit einer grauhaarigen Frau sprach. Er fuhr sich mit der Hand über den kahlgeschorenem Schädel und schien zu ihnen hinüber zu blicken.

Wie mochte es sein, ein Leben auszulöschen? Oft dachte Jao darüber nach und fragte sich, ob er damit ein Grenze überschreiten würde, an der etwas in ihm endgültig zerbrechen würde. Bislang musste er mit seiner Waffe nur drohen. Diese Einschüchterung reichte aus, denn niemand mit einem Funken an Verstand in diesem Viertel legte sich mit den Marabunta an. Geschossen hatte er nur auf Bierflaschen und allerlei Gegenstände, die ein reizvolles Ziel abgaben, wenn sie berauscht durch die Gassen zogen. Manchmal bewunderte er Diego für seine Abgebrühtheit, wie ein kleiner Junge einen Helden, dann wieder bedauerte er die Grausamkeit seiner eigenen Taten und wollte am liebsten aus der Gang aussteigen. Zur Schule gehen, eine Arbeit finden, diese Vorstellung gefiel ihm. Aber wie? Für jemanden aus den Favelas war es schwer, einen anständigen Beruf zu ergreifen.
„Danach sollst du dich bei Alvares melden“, sagte Ramires. „ Ist wohl eine Lieferung für die Touristen fällig.“ Er drückte einen Finger unter die Nase und schniefte. „So ein fettes Päckchen hätte ich auch gerne mal“, schmunzelte er.
„Kommt noch, warte ab“, sagte Jao und wischte seine Bedenken beiseite. „Wenn ich Chef des Drogenverkaufs bin, fällt für dich garantiert was ab.“
Jao erntete ein ungläubiges Lachen.
„Dann bin ich schon lange der Boss von all dem hier.“ Ramires machte eine ausholende Handbewegung. Er schien dieses Leben und seine Bedingungen bedenkenlos verinnerlicht zu haben. Ramires Gesicht wurde ernst.
„Warum werde ich nicht als Kurier eingeteilt?“ fragte er. „Ich könnte das Geld gebrauchen.“
„Woher soll ich das wissen? Vielleicht bist du zu hübsch für den Job. Du fällst ja gleich jedem Dieb ins Auge.“
„Du könntest bei Alvares ein Wort für mich einlegen.“
Auf Jaos Stirn bildeten sich tiefe Furchen.
„Ich bin doch nicht irre. Er wird schon wissen, was er tut.“
„Hat er mich mal erwähnt?“
„Dich?“
„Ja.“
„Nein.Wo steckt denn der Junkie?“ beendete Jao das Thema. Die Männer über ihm waren reißende Bestien, denen man besser nicht zu nahe kam.
Ramires lief los, ohne ihm zu antworten. Sie folgten ein paar Männern, die Bierpaletten die Straße hinaufschleppten und erreichten eine in lehmfarben verputze Hütte. Vor der Wand lag ein Crack-Abhängiger mit geöffnetem Mund in der gleißenden Sonne und schlief seinen Rausch aus. Ramires stupste dem ausgezehrten Körper mit dem Fuß in die Rippen.
"Hey, aufstehen, Alter". Der Junkie stöhnte und blickte schlaftrunken zu ihnen auf.
"Scheiße, der macht es auch nicht mehr lange", sagte Ramires beim Anblick des eingefallenen Gesichtes.
Jao trat erschrocken einen Schritt zurück und biss sich auf die Lippen. Die schwarze Iris des Junkies füllte nahezu die gesamten Augen. Es waren die gleichen, eigenartigen Augen, die ihm seit Tagen in seinen Träumen erschienen und seinen Schlaf zu einer Qual machten.

Mit trommelndem Herzen rannte er im Zwielicht zwischen flackernden Feuern umher, verfolgt von einem Rudel hundeartiger Tiere, die er immer nur als Schatten wahrnahm. Knurrend trieben sie ihn auf eine Gestalt zu, die weit vor ihm in den Flammen eines Feuers stand und zu ihm hinüber starrte. Doch kurz bevor er sie erreichte, brach der Traum ab und die Hetzjagd begann erneut.
Seine Mutter erzählte ihm als Kind solche gespenstischen Geschichten. Höllenhunde, die Todgeweihte auf einen Dämonen zutrieben, der sie in die Unterwelt begleitete. Schaudernd hörte er ihr zu und klammerte sich beklommen um ihren Hals. Oft schaute sie ihn amüsiert an, aber manchmal schien sie auch ein wenig zu schluchzen.
Wenn sie dir begegnen, sagte sie, neigt sich dein Leben dem Ende zu. Sie lassen nicht von dir ab, bis sie dich deiner Bestimmung zugetrieben haben. Dein Vater hat sie auch gesehen und am nächsten Tag ist er gestorben.

Jao kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, um die aufwühlende Erinnerung zu verdrängen.
„Los, pack an.“ Ramires fasste den Junkie an einem Arm und zog seinen Oberkörper hoch. Jao griff unter die Achsel des vielleicht Zwanzigjährigen. Ein lähmendes Gefühl kroch in ihn hinein und überfiel ihn mit einer schlagartigen Müdigkeit. Er ließ den Junkie los und starrte ihn verdutzt an. Ramires stolperte nach vorn und fluchte.
„Was soll denn das, Mann?“ blaffte er.
Jao zuckte mit den Schultern. Er verstand es selbst nicht.
„Hab mir einen Muskel gezerrt“, log er und fasste erneut unter die Achselhöhle. Wieder spürte er diese dumpfe Leere, die ihn mit Müdigkeit überschwemmte und biss die Zähne zusammen.
Sie schleppten den Junkie eine angrenzende Gasse hinauf. Der Geruch von Fäkalien schlug ihnen entgegen. Mit verkniffenen Augen nahm Jao kurze Atemzüge durch den Mund und atmete mit gespitzten Lippen aus. Sie warfen den schlaffen Leib auf einen Abfallberg vor einer Hauswand und scheuchten einen Pulk grüner Fliegen auf, die über dem Junkie summend zu tanzen begannen. Das auslaugende Gefühl wich aus Jao. Mit blassem Gesicht schaute er zu Ramires, der den Mund angewidert verzogen hatte, dann zu dem schlappen Leib, der mit hängenden Gliedmaßen den gewölbten Bauch auf die Sonne richtete. Nahezu zwanzig der fetten Brummer krabbelten auf dem Gesicht des Junkies umher, der nur leise stöhnte. Jao konnte seinen Blick nur mit Mühe von dem gesprenkelten Gesicht reißen.
"Ich gehe zu Alvares", sagte er schließlich. „Ich werde dich bei ihm empfehlen.“
„Ja?“ Ramires schien die ekelhafte Szene schlagartig zu vergessen, nahm die Sonnenbrille ab und schaute ihn blinzelnd an.

Jao wandte sich schmunzelnd ab und sah die zusammengepressten Lippen und den erhobenen Mittelfinger von Ramires nicht mehr, konnte es aber fast spüren. Er tauchte ein in ein Labyrinth aus schmalen Gassen und langen Treppen, die den Berg hinauf führten. Er musste zunächst seine Waffe und den Gürtel mit der Transporttasche aus seiner Hütte holen.
Der von Wind und Wetter angefressene Beton unter seinen Füßen war rissig und wies faustgroße Löcher auf. Über ihm schnitt ein Gewirr aus Stromkabeln den Himmel in mosaikartige Stücke. Ein paar Kinder wühlten in einem Abfallberg, der die Gasse beinahe vollständig versperrte. Mülltüten stapelten sich auf Holzkisten, Holzkisten auf Pappkartons, Pappkartons auf Mülltüten. Dazwischen ein Sessel, ein Stapel alter Matratzen, Bretter, zwei verbogene Ventilatoren, Glasflaschen und Plastikbecher. Jao schlängelte sich an einer Ziegelhütte mit vernagelter Tür an dem Müllhaufen vorbei und setzte seinen Weg fort. Er hatte seine Hütte fast erreicht, als er ein kehliges Knurren hinter sich vernahm. Er verharrte und wandte den Kopf langsam um. Ein langbeiniger Schakal stand neben einem verwitterten Bretterverschlag. Er hatte die Größe eines Kalbes und ein rötliches, stumpfes Fell. Die Augen saßen tief in dem schwarzen Gesicht und blickten ihn tückisch an.
Jao atmete schneller und drehte sich langsam herum. Ein Zittern im Nacken jagte ihm einen kribbelnden Schauer den Rücken hinab und fuhr ihm kalt in die Beine. Er starrte auf das riesige Vieh, das den Kopf senkte, die Haare sträubte und schnaubte. Jao presste sich an eine Ziegelwand, ohne den Blick von dem Tier abzuwenden. Er wagte nicht einmal zu blinzeln. Langsam schob er sich an der Mauer entlang von ihm weg. Der Schakal schritt ihm nach, zog die Lefzen zurück und entblößte gewaltige Reißzähne. Blitzartig schnellte er auf Jao zu, sprang an ihm vorbei und verschwand in einer Lücke zwischen zwei Hütten.

Jao schlug den Kopf in den Nacken und rang nach Luft. Er spürte sein hämmerndes Herz im Brustkorb und schloss die Augen, riss sie aber sofort wieder auf und stierte auf die Spalte, durch die der Schakal verschwunden war. Jao warf einen hastigen Blick zu seiner Hütte und fasste nach seinem Schlüssel, der sich in der Hosentasche verhakte. Fahrig zerrte er daran und riss ihn schließlich mit einem Ruck aus dem Stoff heraus.
Er blickte auf die schmale Spalte, die zwischen ihm und seiner Hütte lag und seine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Es waren gut dreißig Meter bis zur Tür, nur dreißig Meter, doch er konnte seinen Blick nicht abwenden und sich von der Wand lösen. Er biss sich auf die Lippen. Der Schmerz schien ihm einen Impuls zu geben. Mit weichen Knien hetzte er los. In der Spalte regte sich nichts, als er an ihr vorbeirannte und seine Knie einzuknicken schienen. Jao hastet weiter. Die Sekunden dehnten sich ins Endlose. Dann prallte er auf die Tür und riss den Kopf herum. Der Schakal war nicht zu sehen. Der zitternde Schlüssel in Jaos Fingern fuhr schabend über das Schlüsselloch hinweg. Beim zweiten Versuch glitt er hinein und Jao öffnete das Schloss. Er riss die Tür auf, knallte sie hinter sich zu und schlug den Riegel vor. Jao sprang zu dem kleinen Fenster neben der Tür und spähte die Gasse hinunter, doch das Tier war nicht zu entdecken.

„Verdammte Scheiße“, flüsterte er und lehnte schwer atmend die Stirn gegen die Wand neben dem Fenster. „Okay, okay“, sagte er nach einigen Sekunden, richtete sich auf, ging zum Bett und zog die AMT unter der Matratze hervor. Die neun Millimeter mit dem kurzen Lauf lag schwer in der Hand. Ein Gefühl von Sicherheit keimte in Jao auf. Das Klicken des Metalls beim Durchladen beruhigte ihn. Jao entsicherte die Automatik und wollte sie in den Gürtel an seinem Rücken schieben, doch sein Blick fiel auf die abschüssige Gasse hinter der Scheibe. Er entschloss sich, die Waffe unter dem Shirt in der Hand zu halten. Jao zog den Transportgürtel von einem Nagel in der Wand. Mit der Waffe in der Hand schnallte er ihn um die Hüfte und zog das Shirt darüber. Leise entriegelte er die Tür, zog sie einen Spalt weit zurück und blickte durch die Öffnung in die Gasse hinaus. Zwei nackte Kinder rollten einen Autoreifen vor sich her und kicherten. Sein Blick fiel auf das tätowierte, von Schlangen umwundene M auf seinem Unterarm. Er war ein Marabunta, redete er sich ein. Warum sollte er sich vor einem dahergelaufenen Köter, und sei er noch so groß, mehr fürchten als vor einem Mitglied einer anderen Gang?

Er verließ er die Hütte, blickte in die angrenzenden Gassen, die an seiner Hütte zusammentrafen und verschloss die Tür. Bis zu Alvares war es nicht weit. Langsam lief er über den lehmigen, mit Steinen durchsetzten Untergrund und beobachtete jede Vertiefung, jede Lücke zwischen den Hütten. Manchmal blieb er stehen und wartete ab, ob eine Bewegung darin zu erkennen war. Ein plötzliches Rascheln schreckte ihn auf. Der Wind blies eine Chipstüte über den Boden. An einer Biegung stieg muffiger Gestank in Jaos Nase. Das offenen Rohr eines Abwasserkanals ragte aus einer Wand. Es hatte etwa dreißig Zentimeter Durchmesser und war in einem industriellen grün lackiert gewesen, das jetzt abgeblättert und rostfleckig war. Ein kniehoher Hügel schmieriger Kleidungsstücke lag davor, daneben streckte eine tote Katze ihre Gliedmaßen in einer Wasserlache von sich. Sie hatte bernsteinfarbene Augen und ein schwarzes Fell, abgesehen von einem weißen Fleck unter einem ihrer Ohren. Eine glitschige Ratte, groß wie ein Goldhase, hatte sich in sie verbissen und zerrte mit ruckendem Kopf an den blutigen Eingeweiden, die aus ihrem Bauch quollen. Die Ratte blickte mit geröteten Augen zu ihm auf. Speichel tropfte aus ihrem Mund, der nackte Schwanz schlug zuckend durch die Lache und peitschte das schwarze Wasser auf. Dann fauchte sie, machte einen Riesensprung in die Pfütze und tauchte in der Schwärze des Abwasserrohrs unter.
Jao lief weiter und erreichte den alten Bahnhof, neben dem einige verrostete Eisenbahnwagons mit verhängten Scheiben standen. Er schob die Waffe in den Hosenbund und klopfte an die Tür von Alvares, als ein Schatten über die Wand glitt. Jao zuckte zusammen und warf sich herum. Zwei Schakale, brusthoch, wie das Tier vor seiner Hütte, liefen an einer jungen Frau vorbei, die vor einem der Wagons ihr Kind in einem Plastikeimer wusch. Sie schien die Tiere nicht einmal zu bemerken.

„Jao. Haben wir Probleme?“
Alvares hatte die Tür geöffnet und musterte die Umgebung. Der Drogenkoordinator war ein dunkelhäutiger Mann mit gedrungenem Hals. Seine Wangen wurden von zwei Durchschussnarben verunstaltet. Jao wandte sich ihm zu.
„Zwei riesige Hunde“, hauchte er. „Einer ist mir vorhin schon einmal begegnet.“
„Hunde?“ Alvares verzog den Mund und schaute ihn skeptisch an. „Sie werden dich schon nicht fressen. Komm rein.“
Eine plötzliche Hitze schoss in Jaos Gesicht. Er kam sich feige vor, aber Alvares hatte die Tiere nicht gesehen. Doch wagte er auch nicht, ihn noch einmal darauf anzusprechen. Er folgte ihm, wie jedes Mal, mit einem unbehaglichen Gefühl in den engen Raum mit dem zerkratzten Tisch und den zwei wackeligen Stühlen.
„Warte einen Moment“, sagte Alvares und verließ den winzigen Verschlag. Jao nickte und schaute aus dem kleinen Fenster. Die junge Frau band ihre Haare zu einem Knoten zusammen, hob das Kind aus dem Eimer und wickelte es in ein Tuch.
Alvares erschien mit einem handgroßen, braunen Plastikpäckchen, auf dem, wie jedes Mal, die Zahl 500 stand. Er schaute Jao einen Moment an und überreichte es ihm.
„Setz dich“, sagte Alvares und deutete auf einen der Stühle. Mit einem geübten Handgriff verstaute Jao die Lieferung in der Tasche seines Gürtels, zog das Shirt darüber und folgte der Aufforderung. Unsicher schaute er auf Alvares. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Nähe. Eine unterschwellige Bedrohung ging von ihm aus, die Jao nicht erfassen und der er sich nicht entziehen konnte.
„Noch diese Lieferung und wir machen dich zum Soldaten“, sagte Alvares mit einem unergründlichen Lächeln. „Big Shoot braucht einen zuverlässigen Mann.“ Er machte eine kurze Pause und schaute Jao prüfend an. „Aber du wirst dafür noch eine Aufgabe erfüllen müssen. Du weißt, wir brauchen richtige Männer und es wird dir angenehme Vorteile verschaffen.“

Jao nickte stumm. Er wusste, was das hieß. Ein walk up. Auf eine Person zuschreiten, ein Mitglied einer anderen Gang, dessen Gebietsüberschreitung mit dem Tode bestraft wurde, ein Verwandter eines Schuldners oder ein verhasster Polizist, die Waffe hochreißen und dem Gegenüber in das Gesicht schießen.
Das schaurige Ergebnis eines solchen Angriffes war ihm eindrücklich in Erinnerung geblieben. Sie entdeckten den leblosen Körper eines Marabunta im Grenzgebiet zum Kommando 59. Der erste Anblick war ein Schock. Aus der hässlichen, weit aufgerissenen Eintrittswunde ragten die zerfaserten Reste der Wangenknochen hervor. Darunter waren zersplitterte Zähne zu sehen, die dem kümmerlichen Überbleibsel des Gesichtes eine Grimasse verliehen, als hätte der Niedergestreckte immer noch Schmerzen.
Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in Jaos Magen aus. Er hatte gewusst, dass es auf ihn zukommen würde, doch nun spürte er nur noch eine zermürbende Unentschlossenheit, die sich wie ein Schatten über sein Herz legte.
Als er in die Gang aufgenommen wurde, erschien ihm alles so einfach. Ahnungslos war er gewesen und leichtgläubig. Er hatte davon geträumt, der Führer eines Straßenzuges zu werden, ohne die bittere Realität hinter der Fassade sehen. Als Soldat konnte er eine hohe Stellung erreichen. Prestige und Macht hingen von der Zahl der Tötungen im Interesse der Gang ab. Alle Annehmlichkeiten in der Favela würden in greifbare Nähe rücken. Ein großes Haus, Schmuck, die schönsten Frauen, er dachte an das reizende Mädchen, deren Namen er nicht einmal kannte. Auch sie würde für ihn empfänglich sein. Sein Vater und sein Großvater waren für diese Privilegien gestorben. Doch nun erschien es ihm wie ein verlockendes Trugbild, wie ein Traum, der sich verflüchtigte und auflöste wie Schaum auf einer Welle. Es fiel ihm schwer, es sich einzugestehen, aber er hatte Angst. Doch es gab kein Zurück. Niemand stieg aus der Gang aus und überlebte es. Es war Verrat an der verschworenen Gemeinschaft und man würde ihn als Abtrünnigen und als Sicherheitsrisiko betrachten.
„Bist du bereit, Jao?"
Jao nickte mit verkniffenen Lippen.
„Okay“, presste er leise hervor.
Alvares registrierte es mit einem merkwürdigen, nachdenklichen Lächeln.
„Du wirst deine Bewährungsprobe bestehen, davon bin ich überzeugt. Es wird dir Respekt und eine Fülle von unschätzbaren Vorteilen einbringen, Soldat.“ Er stand auf und lief zur Haustür im Nebenraum. Jao trottete ihm hinterher wie ein geprügelter Hund. Alvares öffnete die Tür und nickte ihm zu.

Jao trat aus der Kühle des Bahnhofgebäudes hinaus in die sengende Mittagssonne. Er hob eine Hand, um seine Augen zu beschatten. Der von Gras überwucherte Platz mit den Wagons war menschenleer. Er stapfte über verrostete Schienen und groben Schotter und tauchte ein in das Gewirr der Gassen. Sein Weg führte ihn aus der Favela hinaus in die Touristenviertel. Jao fühlte keine Angst, doch spürte er eine deutlich ansteigende Erregung.
Über einer zerfaserten Leine vor einem Bretterverschlag hingen Kleidungsstücke, deren feuchter Geruch ihm im Vorbeigehen in der Nase kitzelte. Er passierte zwei pralle Frauen in knappen Tops und Hot Pants, die sich auf einem verschlissenen Sofa rekelten. Sein Blick verweilte auf ihren Brüsten und sie flüsterten sich lachend etwas zu. Rotes Mauerwerk folgte auf Wellblech, Presspappe auf Eisengitter, als er eine Treppe aus zerfallenen Stufen herablief.
„Jao, was geht ab, Mann?“ Zwei Gangmitglieder mit tätowierten Gesichtern liefen gutgelaunt an ihm vorbei und streckten drei gespreizte Finger nach unten. Jao lachte hell und erwiderte die Geste. Die Grenze der Favela zur asphaltierten Stadt war bald erreicht. Auf einem der Dächer erkannte er einen neun- oder zehnjährigen Jungen mit einem Walkie-Talkie in einer Hand, als aus einer Seitengasse einer der Schakale hervorsprang. Er verharrte, blickte Jao an, fletschte knurrend die Zähne und stellte Nacken- und Rückenhaare auf.
Jao blieb wie angewurzelt stehen, gefangen zwischen einem Fluchtimpuls und dem Drang, sich zu verteidigen. Dann gewann er seine Fassung zurück, schob langsam eine Hand unter das Shirt und griff um den Kolben seiner Waffe. Der Schakal knickte mit den Vorderläufen ein, sprang schlagartig auf und rannte davon in die gegenüberliegenden Gasse.
Jaos Kopf pulsierte im raschen Beben seines Herzens. Er hörte seine keuchenden Atemzüge und blickte auf die Kante der aus Brettern zusammengezimmerte Hütte an der Ecke der Gasse. Im Hintergrund sah er eine verlassene, asphaltierte Straße, an der die Favela endete. Mit einem glucksenden Schlucken trat Jao einen Schritt vor und beuge sich nach vorn, um die Gasse tiefer einsehen zu können. Dann noch einen kleinen Schritt. Und noch einen. Eine fette Frau saß auf einem Plastikstuhl vor Regalen mit Colaflaschen und Videos. Jao atmete stöhnend aus und nahm die Hand von der Waffe. Erleichtert hastete er weiter und blickte immer wieder mit einem flauen Gefühl im Magen hinter sich.

Die Favela lag keine fünfzig Schritte hinter ihm, als ein gedrungener Mann mit dem schiefen Grinsen eines Verrückten aus einem Hauseingang hervortrat und in der Mitte der Straße mit krummen Beinen auf Jao zulief. Die wenigen Fußgänger auf der Straße schienen für ihn keine Bedeutung zu haben. Mit glitzernden Augen stierte er Jao unablässig an. Jao blieb unentschlossen stehen und betrachtete den Entgegenkommenden, der keine drei Meter von ihm entfernt stehenblieb und weitergrinste. Seine Gliedmaßen waren kurz. Der muskelbepackte Oberkörper ließ das knappe T-Shirt beinahe platzen. Auf seiner Stirn hafteten schweißverklebte, wellige Strähnen. Die Brutalität sprang ihm regelrecht aus dem Gesicht.
„Hast du was für mich, Puta?“ fragte er mit heiserer Stimme. Er zog die Brauen hoch, wackelte mit dem Kopf und zeigte seine leeren Hände.
Jao blickte ihn unruhig an. Wusste der schräge Kerl, dass er ein Kurier war oder war er nur ein Straßendieb und wollte seine Habseligkeiten? Und warum war er nicht bewaffnet? Jao griff unter sein Shirt und schreckte zusammen. Ein Schakal hatte ihn im Vorbeilaufen gestreift. Ein zweites Tier folgte ihm. Dann noch ein drittes. Sie passierten den scheinbar Verrückten, der sie nicht einmal anblickte und wandten sich um. Jao zog die Waffe hervor, spannte den Hahn und hielt sie neben seinen Oberschenkel, als es hinter ihm ohrenbetäubend knallte. Das Schussgeräusch hallte hohl von den Hauswänden zurück, wie aus der Tiefe eines Brunnens. Ein Schleier fiel über Jaos Augen. Stocksteif stand er da, von einer vollständigen Lähmung ergriffen. Die Waffe entglitt seinem Griff und fiel klackend zu Boden. Wie ein gefällter Baum kippte er um und schlug mit dem Hinterkopf auf den Asphalt. Über sich sah er den wolkenlosen, blauen Himmel und eine Straßenlaterne, die an einem Kabel sanft im Wind schaukelte. Ein zierlicher Junge, vielleicht gerade einmal zwölf Jahre alt, trat in sein Blickfeld. In seiner Hand hielt er einen rostigen Trommelrevolver. Mit aufgerissenen Augen schaute das Kind zu ihm hinunter, hob den Kopf und blickte zu dem Irren, der sich über Jao beugte. Auf seinen Hals war das Gangzeichen der Trucha tätowiert.
„Gut gemacht, Nuno“, raunte er mit zuckenden Augenwinkeln. Sein Grinsen wurde noch breiter und entblößte fleckige Zähne. In seinen Augen funkelte etwas erschreckend Sadistisches. Das fahle Gesicht des Kindes lächelte unsicher.
Eine schlanke Klinge erschien über Jaos Gesicht. Er wollte das glänzende Metall zur Seite schlagen, doch seine Arme wollten ihm nicht gehorchen. Schlaff und gefühllos verharrten sie neben seinem Körper, so sehr er sich auch bemühte, sie hochzureißen. Jaos Augen folgten der Klinge, als sie sich seinem Bauch näherte. Der Trucha riss ihm das Shirt nach oben, packte den Gurt mit dem Kokaintäschchen und zerschnitt das Leder mit einem kräftigen Ruck. Dann zerrte er den Gurt unter Jaos Rücken hervor und öffnete die Tasche. Der Anblick trieb ihm ein Glitzern in die Augen. Nuno schaute den Trucha erleichtert an und lächelte, als wäre ihm eine schwere Last von der Seele gefallen, dann kniete er sich nieder und nahm die AMT an sich. Er steckte sie in eine grüne Plastiktüte mit verblasstem grünen Aufdruck und durchwühlte Jaos Hosentaschen.
„Ist das alles, du Pisser? Nur ne scheiß Knarre?“, fluchte er mit heller Stimme.
Die Spitze der Klinge strich über Jaos Gesicht und wurde unter einen Nasenflügel geschoben. Belustigt schaute der Trucha ihn an und spuckte ihm ins Gesicht. Er lachte kehlig.
„Puta“, zischte er und riss das Messer hoch. „Grüß deine Mutter von mir.“

Schmerzstöße pulsierten in Jaos Gesicht und stachen glühend in seine Knochen. Er wollte nach Luft schnappen, konnte aber seine Atmung nicht spüren. Panische Angst vor dem Ersticken durchfuhr ihn, doch sein Körper zuckte nicht einmal. Der Trucha erhob sich und verschwand mit dem Jungen aus seinem Sichtfeld.
Geisterhaft huschten Schatten und schemenhafte Gestalten an Jao vorbei. Er vernahm Schrittgeräusche, die wie Donnerschläge in seinen Ohren hallten und ein zermürbendes Knistern. Von Schrecken gepackt rollten seine Augen umher. In einem Augenwinkel erkannte er eine greise Frau, die neben ihm innehielt. Ihr Gesicht war durchfurcht von tiefen Runzeln. Weißes Haar lugte unter einem Kopftuch hervor. Sie zog einen goldenen Anhänger aus ihrem Ausschnitt hervor und küsste ihn. Eine schneeweiße Hand griff unter ihren Arm und zog sie fort.
„Hilf mir“, wollte Jao ihr nachrufen, doch nur ein leises Krächzen kam über seine blassen Lippen.

Milchige Schleier überzogen seine Sicht. Aus den vorbeigleitenden Mustern schälte sich einer der Schakale, der sich zwischen seine Beine stellte und ihn mit angespannter Muskulatur fixierte. Die Augen waren so groß, dass das Weiße in ihnen zu erkennen war. Er blinzelte, als würde er eine Beute angespannt beobachten.
Eine hochgeschossene, feingliedrige Gestalt erschien neben dem Tier. Sie hatte ein knappes Tuch um ihre Hüften gewunden, das so grau war, wie die runzelige Haut, die von langen Narben überzogen war. Der Mund zog sich schief hinauf bis zu einem der Wangenknochen. Die flache Nase schien mit der Oberlippe verwachsen zu sein. Stirn und Seitenkopf waren haarlos, darüber stand weicher, grauer Flaum. Aus pechschwarzen Augen stierte das Wesen auf Jao herab.
Jao blickte ihn ernüchtert an. Er kannte diese Augen. Sie verfolgten ihn seit Tagen in seinen Träumen. Waren die schaurigen Geschichten seiner Mutter doch mehr als die Phantastereien einer verbitterten Frau? Still und ruhig wurde es in seinem Inneren.
„Wer … wer bist du?“ Stoßweise, halb gehaucht entflohen die Worte Jaos Lippen.
„Ich führe dich an den Ort deiner Bestimmung“, sagte er mit fester und unerwartet tiefer Stimme. Der Mund mit den dürren Lippen schien sich beim Sprechen kaum zu bewegen. Das Wesen kniete sich auf Jaos Brustkorb und blickte ihn gleichgültig an.
„Du warst gewarnt, aber du wolltest es nicht glauben“, sagte der Graue. Eine schlanke, dreigliedrige Hand umfasste Jaos Hals und presste ihm den Kehlkopf auf die Wirbelsäule. Jao hörte ein Knacken und seinen röchelnden Atem.
„Dein Vater, der Vater deines Vaters, auch sie wussten es nicht besser.“ Der Graue sprach wie in Trance. Seine Augen kamen näher an Jao heran, noch näher, bis er nur noch ihre Schwärze sah.
 



 
Oben Unten