Die Hutnadel

Irina, die freilich nicht wirklich so hieß, sondern Schrödingers Anweisung folgend für heute diesen Namen angenommen hatte, lag mit im Nacken verschränkten Armen auf dem bei der kleinsten Bewegung laut knarzenden Bett und starrte auf den schmutziggelben, sich vermutlich schon seit vielen Jahren in konzentrischen Kreisen ausbreitenden Wasserflecken an der Zimmerdecke direkt über ihr; immer wieder neue Formen und sonderbare, schemenhafte Gestalten darin gewahrend, die allerlei unwillkommene Erinnerungen an längst vergessen gewähnte Begebenheiten in ihr zuoberst kehrten. Die verschlissene himmelblaue Kunstfaserdecke unter ihr war kratzig, fühlte sich aber zugleich auch irgendwie klebrig und feucht an. Ihr war kalt, sie hatte Hunger und sie war des Spiels, das er mit ihr trieb, überdrüssig.
Sie hob den Kopf an und sah zu Schrödinger hinunter, der sich, rittlings über ihren lang ausgestreckten, fest aneinander gepressten Beinen kniend, in Höhe ihres Bauchnabels an ihrem wie erstarrt daliegenden Leib zu schaffen machte. Was er da genau tat, sie sah es nicht, da er mit seinem ganzen Oberkörper unter das formlose, weite Unterkleid, das sie eigens für ihn hatte anlegen müssen, gekrochen war. Allerdings war es aber auch keineswegs so, dass sie sehr daran interessiert gewesen wäre, mehr darüber zu wissen.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie das Bild, das sie soeben abgaben, auf sie wirken würde, wäre sie an seinem Zustandekommen unbeteiligt, und kam zu dem Schluss, dass es ihr sicher über alle Maßen lächerlich vorkäme. Trotzdem war ihr nicht im Mindesten nach Lachen zumute, denn dazu war ihre Lage viel zu unbehaglich und verworren.
Da er von ihr nie etwas anderes erwartete, als sein närrisches Treiben ohne jede eigene Regung über sich ergehen zu lassen, ließ sie ihren Blick durch die winzige Dachgeschosskammer schweifen. Es war einfach nicht zu glauben, wie er es immer wieder fertig brachte, die zu seinen von Mal zu Mal verrückteren Vorstellungen passenden Räumlichkeiten ausfindig zu machen. Wäre sie nicht gar so wirklichkeitsbezogen, hätte sich ihr aufgrund des allerorten abblätternden Verputzes, der großenteils lose an den schrägen Wänden herunterhängenden, hier und da einfach mit greller, grüner Farbe überstrichenen Tapeten, der verblichenen, schlicht mit einer Holzleiste an die Wand genagelten Gardinen, der offenliegenden, teils mit verrottetem Blech, teils mit geteertem Stoff ummantelten elektrischen Leitungen sowie dem spärlichen, stark abgestoßenen Mobiliar, von dem kein Stück zum anderen passte, schon der Eindruck aufdrängen können, mit Hilfe irgendeines geheimnisvollen Verfahrens in einen dieser verlorenen und von jeder Entwicklung abgekoppelten Landstriche irgendwo tief im Osten versetzt worden zu sein.
Es war jedoch nicht nur die verlotterte Absteige, die erstaunlich genau dem Umfeld entsprach, das er, warum auch immer, zu seiner heutigen Zufriedenstellung zu benötigen schien; selbst das offensichtlich einst von der Schwerindustrie beherrschte, nun aber dem Verfall preisgegebene Viertel, wenn nicht sogar die ganze Stadt, deren Namen sie nie zuvor vernommen hatte, passte haarklein ins Bild.

Allein um herzukommen, war fast der halbe Tag draufgegangen, obwohl sie das Auto genommen hatte und nicht den Zug, wie es ihr in seinen bis in jede Einzelheit ausgetüftelten Anordnungen vorgeschrieben war. Denn darüber, wie sie anschließend wieder nach Hause käme, hatte er sich, doch das war auch noch nie anders gewesen, keinerlei Gedanken gemacht; selbst die dem üblichen Paket beigefügte Bahnfahrkarte hatte nur für eine Richtung Gültigkeit besessen. War es ihr dank ihres aufgrund seiner abartigen Inszenierungen mittlerweile recht umfassenden Kartenmaterials noch ohne allzu große Mühe gelungen, die Stadt selber und auch die mehr als nur abgelegene Straße aufzufinden, war sie bei der Suche nach dem genannten Haus beinahe verrückt geworden und mehrmals die sich endlos hinziehende, trostlose Straße, in der der Wind zerfetzte Supermarktprospekte und Plastiktüten um die Ecken wehte, auf und ab gelaufen, bis ein von ihr befragter Passant ihr gezeigt hatte, dass das in einem verschachtelten Hinterhof gelegene Gebäude nur durch den Torbogen eines anderen zu erreichen war.
Sie hatte mehrere Male eine durch einen ins Hausinnere führenden Zugdraht zu bedienende Schelle betätigen müssen, ehe ihr von einem nicht gerade vertrauenerweckenden älteren Mann geöffnet wurde, der nicht nur der beiden beim Sprechen befremdlich aufblitzenden stählernen Schneidezähne wegen so aussah, als habe man ihn eben erst aus der tiefsten sibirischen Provinz herbeigeschafft. Er war unrasiert, trug eine nachlässig aufgesetzte Schiebermütze, unter der strubbeliges Haar hervorquoll, und einen fleckigen Trainingsanzug, dessen Jacke weit offen stand und den Blick auf seine dichte, graue Brustbehaarung freigab, unter der sich eine reichlich obszöne Tätowierung abzeichnete.
Zwar mochte es durchaus so sein, dass er der deutschen Sprache nicht mächtig war, doch weitaus wahrscheinlicher schien ihr, dass er aufgrund ihrer bizarren Aufmachung mit der platinblonden Perücke, dem wie in den sechziger Jahren geblümten Kleid und den hohen, knallroten Stöckelschuhen der Ansicht gewesen war, sie käme geradeso wie er selber aus einem der Länder der in Auflösung geratenen Sowjetunion; denn er hatte wie besessen in einer ihr vollkommen unbekannten Sprache, von der sie annahm, es sei Russisch, auf sie eingeredet. Sie hatte nicht eingesehen, warum sie seinen Irrtum hätte aufklären sollen, und die ganze Zeit über gelächelt und mit dem Kopf genickt, als verstünde sie jedes Wort, das er sagte. Zugleich hatte sie sich innerlich darauf vorbereitet, dass Schrödingers Planung auch dieses Mal wieder alles Vorangegangene in den Schatten stellen würde.
Während sie sich von dem ihr voran schlurfenden Mann durch ein Gewirr unzähliger und nur unzulänglich beleuchteter Stiegen und Gänge in das Dachgeschoss hatte hochführen lassen, war ihr auf einmal der beklemmende Gedanke in den Kopf geraten, es könnte womöglich das letzte Mal sein, das Schrödinger sein absonderliches Spiel mit ihr zu spielen gedachte; denn bei allem, womit er sie im Lauf der Zeit schon überrascht hatte, verfügte sie nach wie vor über keinerlei sicheren Anhaltspunkt, der Aufschluss darüber gegeben hätte, wie weit zu gehen er in seinen befremdlichen Leidenschaften bereit wäre. Und die verlorene Bruchbude, in die sie sich währenddessen immer tiefer hineinbegeben hatte, schien ihr für jede Art, ihr Gewalt anzutun, hervorragend geeignet zu sein.

Einstweilen vermittelte Schrödinger allerdings kaum Eindruck, als beabsichtige er etwas, das über das hinausgehen sollte, was das beschämende Abkommen, zu dem er sie genötigt hatte, vorsah. Die Art, in der er sich, mittlerweile fast vollständig unter ihrem Unterkleid verborgen, langsam zu ihrem Busen hoch arbeitete, ließ eher vermuten, dass er, wie bisher noch jedes Mal, alsbald seinen Kopf zwischen ihre Brüsten betten und für ein paar Minuten still dort verharren würde. Woraufhin er dann in der Regel sehr hastig aufstand und sich ankleidete, ihr die zuvor bereits unterzeichnete Quittung für die durch ihre soeben erbrachte Dienstleistung abgegoltene Ladenmiete überreichte und veschwand, ohne auch nur einziges Wort an sie zu richten.
Beruhigt, dass es bislang keinerlei Abweichung von seinem üblichen Verhalten gab, dessen Rätsel sie seit langem schon aufgegeben hatte ergründen zu wollen, wich die ärgste Anspannung von ihr ab; sie ließ ihren Kopf wieder auf das Kissen zurück sinken, schloss die Augen und hoffte inständig, dass er sich beeilte.
Er war ja nun gewiss nicht der Erste oder Einzige, der im Laufe ihres Erwachsenenlebens mit zweifelhaften Vorlieben oder nicht gerade alltäglichen Wünschen an sie herangetreten war, jedoch insofern mit den anderen nicht zu vergleichen, als er stets peinlich zu vermeiden suchte dorthin vorzudringen, wohin alle anderen nicht schnell genug hatten gelangen können. Auch wenn seine nicht eben gebräuchliche Form, in der er ihrem Körper Genuss abgewann, sie bisweilen noch ziemlich verwirrte und, es fiel ihr keinesfalls leicht, sich das einzugestehen, anfangs mitunter auch in ihrer Eitelkeit gekränkt hatte, war ihr der Vorteil zu Eigen, dass es ihm ausschließlich auf die Rolle, die sie während des jeweiligen Treffens zu spielen hatte, ankam, nicht aber darauf, dass sie ihm in irgendeiner Weise Gefühle vorgaukelte. Nach dem, was in ihr vorging, hatte er sie bisher noch nicht ein einziges Mal gefragt.
Es war die wohl größte Dummheit, die sie je begangen hatte, sich auf das anstößige Geschäft mit ihm überhaupt eingelassen zu haben; zumal sie obendrein auch noch zugeben musste, dass sie selbst es gewesen war, die den ersten Schritt zu ihrer näheren Bekanntschaft unternommen hatte. Zu jener Zeit war sie allen Bemühungen zum Trotz wieder einmal nicht in der Lage gewesen, den nicht unerheblichen Mietzins für ihren Schreibwarenladen, der einfach nicht so laufen wollte, wie ihr das von ihren Vorgängern vor der Übernahme zugesichert worden war, aufbringen zu können, und daher auf die aberwitzige Eingebung verfallen, dass es doch den Versuch wert wäre, sich dieser Verpflichtung in anderer Weise zu entledigen; zumal Schrödinger, dem das Haus gehörte, in dem sie ihren Laden betrieb, außer über Vermögen auch noch über Bildung und Manieren verfügte, vom Alter her noch einigermaßen zu verkraften war, und gar nicht so schlecht und überdies so aussah, als wüsche er sich regelmäßig.
Nicht das Geringste hatte seinerzeit darauf hingedeutet, welcher Art Gepflogenheiten ihm zu Eigen waren. Und nachdem es heraus war, hätte sie nur noch um den Preis des sofortigen finanziellen Ruins den Rückzug antreten können, denn er hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass er sie umgehend aus dem Laden hinauswürfe, käme sie auf die Idee, die mit ihm getroffene Vereinbarung einseitig aufzukündigen. Sie hatte seine Worte nicht in Zweifel gezogen, denn wenn ihr eines an ihm aufgefallen war, dann das, dass er nicht die geringste Vorstellung davon hatte, was der Begriff Anstand besagen könnte.
Zu feige, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, hatte sie sich damit abgefunden, alle paar Wochen von einem seiner dicken Pakete überrascht zu werden, die er stets außerhalb ihrer Geschäftszeiten vor der Tür ihres Lagerraums zu deponieren pflegte. Sie enthielten die jeweiligen aus seiner Sicht unerlässlichen Requisiten und ein sorgfältig durchdachtes Drehbuch für die nächste Zusammenkunft, zu der sie, obwohl der innere Ablauf ihrer Treffen letzten Endes stets der gleiche blieb, jeweils einen anderen Frauentyp zu verkörpern hatte. Und diesmal war es offenbar eine Russin, an der sich zu erbauen gedachte.

Seine Bewegungen wurden immer träger, und es schien sich der Zeitpunkt zu nähern, auf den es ihm am meisten ankam. Es könnte demnach nicht mehr lange dauern, bis er für einige Minuten auf ihr einschliefe und, er gab sich große Mühe, sie das nicht merken zu lassen, dabei an seinem in den Mund geschobenen Daumen sog.
Für sie waren diese langen und zähen Minuten der unangenehmste Teil des Arrangements, weil dann sein ganzes, nicht unerhebliches Gewicht auf ihr lastete, er aber überaus ungehalten reagierte, wenn sie sich unter ihm regte und ihn dadurch in seiner Wonne störte. Da konnte er richtig laut und giftig werden, was sie nach den paar Malen, die sie einfach nicht mehr länger hatte stillhalten können und auf das Übelste ausgeschimpft worden war, nicht wenig zu fürchten gelernt hatte.
Da es ihr heute sowieso nicht gut ging, und ihr ganz und gar nicht danach zumute war, sich auch noch anschreien zu lassen, zwang sie sich, ihre Körperempfindungen so weit als möglich zu reduzieren, wodurch es ihr erfahrungsgemäß viel leichter fiel, still liegen zu bleiben, nahm der Drang, ihn von sich herunterzukippen, um endlich wieder frei durchatmen zu können, immer mehr zu.
Vor langem schon hatte sie herausgefunden, dass die zuverlässigste Methode sich abzulenken, darin bestand, die Gedanken mit Angelegenheiten zu beschäftigen, die mit dem, was gerade mit ihr geschah, nichts zu tun hatten. Daher begann sie, jeden Schritt der Buchhaltungsarbeiten, die sie vorgestern Abend erledigt hatte, noch einmal nachzuvollziehen. Spaß bereitete ihr das keinen, denn ganz gleich, wie sie auch rechnete, die Zahlen sahen diesmal noch kläglicher aus als in den Monaten zuvor. Geschähe nicht bald ein Wunder, könnte sie den Laden sowieso zusperren, und hätte einmal mehr alles eingebüßt, wofür sie jahrelang gespart und allerhand Ungemach auf sich genommen hatte. Das Ärgste wäre jedoch, dass voraussichtlich auch noch jede Menge Schulden an ihr hängen bleiben würden, denn das großenteils auf Pump beschaffte Sortiment besäße nurmehr einen Bruchteil seines Wertes, müsste sie es auf einen Schlag verramschen. Eigentlich, zog sie ernüchtert Bilanz, war die Sache ohnehin bereits verloren, und demnach auch nicht wert, ihretwegen noch länger unter Schrödingers abartigen Neigungen zu leiden.
Während sie sich mit ihren finanziellen Problemen beschäftigte, wanderten ihre Hände ziellos, und doch vorsichtig genug, dass er davon nichts bemerkte, unter dem Kopfkissen und zwischen dem nur ungenügend festgezurrten Laken und dem verrutschten Unterbett hin und her. Als ihre Finger unvermutet auf einen länglichen, kühlen und harten Gegenstand stießen, erwachte ihre Neugier, da es ihr durch Abtasten nicht gelingen wollte herauszufinden, um was es sich handeln könnte. Sie fingerte das geheimnisvolle Ding behutsam hervor, und hielt es sich schließlich dicht vor die Augen. Es war eine Hutnadel, nichts als eine ganz gewöhnliche, altmodische Hutnadel von vielleicht fünfundzwanzig Zentimetern Länge. Beim näheren Anblick zeigte sich, dass sie von eher seltsamer, ihr jedenfalls bislang unbekannter Art war, nämlich aus federndem Stahl und offensichtlich in Handarbeit angefertigt, sowie an einem Ende mit einem ungewöhnlich breitem Kopf versehen. Sie legte sie beiseite; vor dem Verlassen dieser Kammer würde sie sie einstecken.

Endlich, es schien soweit zu sein; Schrödinger begann sich zu rühren. Es wurde auch wirklich Zeit, dachte sie voll ärgerlicher Ungeduld, denn ihre Hüftgelenke hatten bereits arg zu schmerzen angefangen, und sie sehnte sich danach, wieder auf die Beine zu kommen.
Nun aber geschah etwas, was vollkommen neu, und demnach sehr wohl ein Anlass zur Unruhe war. Schrödinger kroch unter ihrem Unterkleid hervor, glitt zu ihr herauf, bis sein Kopf neben dem ihren lag, schmiegte sich, geradeso wie sie auf dem Rücken liegend, eng an ihren Körper an und starrte, wie sie nach einem vorsichtigen Seitenblick gewahren musste, hochroten Kopfs zur Decke hin. Voller Argwohn wartete sie darauf, dass sich herausstellte, was er vorhatte.
Es dauerte einige Zeit, bis er endlich zu reden begann, und es fiel ihm offenbar sehr schwer, die erforderlichen Worte zu finden. Anfangs verstand sie gar nicht, was er eigentlich wollte, bis ihr schließlich aufging, dass er ihr antrug, sich nicht weiter in der bisherigen Weise mit ihm zu treffen, sondern sich auf immer mit ihm zusammen zu tun. Die Entwicklung hätte sich schon seit längerem abgezeichnet, fuhr er dann stockend fort, aber er sei bis heute einfach nicht sicher genug gewesen, davon zu sprechen. Es wäre nämlich so, dass er sie zu lieben begonnen hätte, und sich nichts sehnlicher wünsche, als dass auch sie lerne, ihn zu lieben. Die Liebe, flüsterte er dann mit rauer, belegter Stimme, sie wäre es doch, die sich hinter seinem Tun verberge, sähe es auch auf den ersten Blick nicht unbedingt so aus. Um ihrer Liebe die Chance zu geben, sich zu entwickeln, habe er die Entscheidung getroffen, dass sie ohne weiteren Aufschub zu ihm in die Wohnung zöge, was ohnehin für sie von Vorteil wäre, wohnte sie dann doch nur zwei Stockwerke oberhalb ihres Ladens, von dem man allerdings noch gesondert zu sprechen habe, da dieser doch wohl kaum etwas anderes wäre, als eine Einrichtung, nicht um Geld zu verdienen, sondern um es vernichten.
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da fühlte sie sich, als hätte sich unversehens ein Abgrund neben ihr aufgetan; ihre Atmung begann zu stocken und der Verstand drohte ihr stehen zu bleiben. Alles hätte sie erwartet, nur nicht das. Anscheinend war es ihm jetzt endlich gelungen, seine letzte Verbindung zur Wirklichkeit zu kappen. Sie mit einem derartigen Ansinnen zu bedrängen, obwohl er doch ganz genau wusste, dass sie ihm ausschließlich des Geldes wegen zu Gefallen war und sich darüber hinaus keinerlei Beziehung zu ihm vorstellen konnte. Das, was sie bislang von ihm mitbekommen hatte, reichte mehr als genug, um zu wissen, dass mit ihm zu leben das Letzte wäre, was sie sich je antun würde; selbst dann, stünde ihr der Sturz in den sozialen Abgrund unmittelbar bevor.
Allein bei dem Gedanken, ihm morgens beim Frühstück gegenüber sitzen zu müssen und ihm Brot, Butter oder Marmelade über den Tisch zu reichen, schüttelte es sie. Doch am abscheulichsten wäre es, allabendlich zu ihm ins Ehebett zu steigen und darauf zu warten, dass er sich mit verzücktem Grinsen den Daumen in den Mund schob. Ganz zu schweigen von dem, was ihm womöglich noch alles einfiele, wähnte er sich ihrer sicher.

„Jetzt bist du wohl vollends übergeschnappt“, schrie sie, innerhalb weniger Sekunden völlig aus der Fassung geraten auf, „nichts von alledem kommt in Frage. Der einzige Wandel, den unser Verbindung noch erfahren wird, wird darin bestehen, dass wir uns heute das letzte Mal getroffen haben. Ich halte die Demütigung, dir bei deinen peinlichen, unappetitlichen Gelüsten zu Diensten zu sein, ohnehin keinen Tag länger aus. Such dir doch eine andere, die am besten noch ein wenig einfältiger ist, als ich es bin; nein, bis heute gewesen war. Noch besser wäre aber, du suchtest einen Therapeuten auf; leisten kannst du dir ihn ja, und bitter nötig hättest du ihn auch. Es ist Schluss jetzt mit all dem Irrwitz; ein für alle Mal!“
Sie richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett, war mit dem Aufstehen aber nicht schnell genug; denn er fiel sie hinterrücks an, umklammerte sie und zog sie wieder in die vorangegangene Lage zurück, ganz dicht an sich heran. Sie strampelte, stieß mit den angewinkelten Ellenbogen nach ihm und hieb ihm mit dem Hinterkopf ein paar Mal kräftig ins Gesicht; doch er hielt sie weiterhin eisern umschlungen. Als sie für einen Moment innehielt, weil sie eingesehen hatte, dass sie auf diese Weise wohl kaum frei käme, hörte sie, dass er schluchzte.
„Großer Gott“, stöhnte sie angewidert auf, „ist es denn wahr? Was haben sie mit dir bloß angestellt, dass du dermaßen verkorkst bist?“
Kaum dass sie ihn das gefragt hatte, greinte er noch ärger los, gab sie aber noch immer nicht frei.
Allmählich ernsthaft in Rage geraten fuhr sie ihn an, dass, möge er auch noch so sehr unter seiner fehlgeschlagenen Erziehung leiden, er damit aber noch lange nicht über das Recht verfüge, ausgerechnet sie dafür büßen zu lassen. Sie sei nun wirklich die Letzte, die für sein abartiges Innenleben verantwortlich zu machen wäre, und darum habe er sie sofort loszulassen, da er ansonsten einmal sehen könne, zu was sie alles fähig wäre, bedränge man sie dermaßen übel, wie er sich das gerade erlaube.
Während sie so auf ihn einschimpfte, ließ der Druck, mit dem er sie festhielt, etwas nach, und er sagte, er zöge seine Arme zurück und ließe sie los, hörte sie ihm nur noch eine Minute lang zu. Danach ließe er sie unbehelligt gehen.
Ohne ihm sonderlich viel Glauben zu schenken, gleichwohl aber in der Hoffnung, die Sache damit vielleicht etwas abkürzen zu können, bedeutete sie ihm, dass sie einverstanden wäre. Doch er brachte nichts heraus, sondern lag wie erstarrt neben ihr und schwieg beharrlich. Als sie darum erneut Anstalten machte aufzustehen, begann er plötzlich mit weinerlicher Stimme loszuplärren, er wolle nur noch einmal, ein einziges Mal nur ihren Leib spüren, und für einen klitzekleinen Moment auf ihr liegen und ruhen. Ein allerletztes Mal nur, das könne sie ihm doch nicht abschlagen.
„Oh doch, und wie ich das kann“, entgegnete sie ihm, und bemühte sich, alle Schärfe, die sie aufbringen konnte, in ihre Worte zu legen, „niemals wieder habe ich dir soeben gesagt, und dabei bleibt es auch.“
Sie versuchte nun zum dritten Mal, aus dem Bett herauszukommen. Diesmal gelang es ihm, einen ihrer Arme zu erwischen und sie daran wieder zu sich zurückzureißen. Er hätte das besser unterlassen, da sie daraufhin von blindem Zorn übermannt wurde, und alles, was sich im Lauf der Zeit in ihr aufgestaut hatte, auf Entladung zu drängen begann. Aufgebracht warf sie sich herum und über ihn, kniete sich mit ihrem ganzen Gewicht auf seine Oberarme und starrte ihn mit derart hasserfülltem Blick an, dass er augenblicklich allen Mut verlor und wie welk in sich zusammen sank.
„Ach bitte“, verlegte er sich nun aufs Kriechen, „nur noch ein einziges, ein allerletztes Mal.“ Offenbar merkte er selber, wie widerlich sein Verhalten war, denn er stierte währenddessen verschämt in die gegenüberliegende Zimmerecke.
Das war nun mehr, als sie ertragen konnte; erst gewalttätig, und als das nicht den angestrebten Erfolg erbrachte, dieses unterwürfige, haltlose Wehklagen. Es ekelte sie; auch vor ihr selber, dass sie so kreuzdumm gewesen war, sich auf ihn eingelassen zu haben. Weil das Ausmaß der Verachtung, dass sie für ihn empfand, mittlerweile zu groß war, um es noch in Worten ausdrücken zu können, saugte sie alle Spucke, derer sie habhaft werden konnte, in ihrem Mund zusammen, spie sie ihm ins Gesicht und setzte sich auf, darauf wartend, dass er versuchen würde, sie von sich zu wälzen, danach trachtend, es ihr heimzuzahlen. Doch er tat nichts davon, sondern nahm den Zeigefinger der rechten Hand, hielt ihn ihr erst mit einem verschlagenen Ausdruck in den Augen vors Gesicht, wischte sich dann damit den Speichelbatzen von der Wange, steckte ihn sich anschließend mitsamt dem widerwärtigen Zeug in den Mund und begann ihn sorgsam abzulutschen, ihr währenddessen unverwandt und mit verzücktem Grinsen in die Augen starrend.
Sie musste sich wegdrehen, sonst hätte sie sich übergeben. Von dem in ihrem Inneren aufbrodelnden Gemisch aus Abscheu und Erbitterung in eine Art rauschhaften Zustand versetzt, griff sie, ohne dass sie auch nur eine Sekunde lang die Folgen bedacht hätte, nach der unter dem Kissen versteckten Hutnadel und hielt ihr spitzes Ende mit einer Hand dicht vor sein linkes Ohr. Ehe er wusste, wie ihm geschah, schlug sie mit der anderen, zur Faust geballten Hand kräftig auf das flach gestauchte andere Ende, und trieb ihm die Nadel mit einem einzigen Schlag durch den Gehörgang tief den Kopf hinein.
Als sie mit einer gewissen Verzögerung wahrzunehmen begann, was sie da soeben angerichtet hatte, war sie eigentlich nur überrascht, wie einfach es vonstatten gegangen war, und dass sie bis auf ein einmaliges leises Knacken nichts gehört hatte.
Er bäumte sich kurz auf, und glotzte sie mit blöden, weit aus den Höhlen heraustretenden Augen an, offensichtlich war er noch immer im Unklaren darüber, was ihm widerfahren war. Doch dann entwich ihm ein ungläubiges, beinahe unirdisches Grunzen, und sein Körper zuckte ein paar Mal kraftlos hin und her. Gleich darauf verschleierte sich sein Blick, und dann begannen die weit aufgerissenen Augen auch schon zu erstarren. Es schien vorbei zu sein; denn er regte sich nicht mehr.
„Njet“, konnte sie nicht umhin, ihn zu verhöhnen, als sie begriff, dass es tatsächlich aus war mit ihm, „njet! Njet! Und noch einmal njet!“
Doch dann sprang sie, entsetzt über die ihr bislang unbekannt gebliebene eigene Mitleidlosigkeit, auf und lief eine Weile lang wild vor sich hin gestikulierend in dem Zimmerchen umher. Als sie schließlich begann, die möglichen Folgen ihrer Tat abzuwägen, musste sie jedoch zuerst einmal feststellen, dass ihr der Gedanke, sich niemals wieder unter Schrödingers Willen beugen zu müssen, trotz der Gefahr, in der sie sich nun plötzlich befand, auch eine gewisse Erleichterung verschaffte.

Viel zu aufgeregt, um entscheiden zu können, was vernünftigerweise zu tun wäre, näherte sie sich ihm argwöhnisch, immer darauf bedacht fortzuspringen, begänne er sich doch wieder zu rühren, betrachtete ihn neugierig und spürte, dass sie absolut nichts empfand. Als sie, sehr wohl von dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, durchdrungen, die Taschen seines wie immer in peinlicher Ordnung auf einem der Hocker zusammengelegten Anzugs durchsuchte, fand sie in einigen davon Geld. Überraschend viel Geld. Und in großen, neuen Scheinen. Es war also das erste Mal, dass sie von seiner krankhaften Aufschneiderei profitieren konnte. Mit dieser Summe würde sie sich eine Weile lang über Wasser halten können. Die bereits unterzeichnete Quittung für die Ladenmiete fand sie auch, und steckte sie mit dem Geld zusammen in ihre Handtasche. Dann riss sie sich das abscheuliche Unterhemd vom Leib und kleidete sich zügig an, nicht ohne ab und zu ihm hinüber zu schauen, ob er sich vielleicht doch wieder regte.
Kaum dass sie sich äußerlich soweit wieder hergerichtet fühlte, dass man ihr auf der Straße nicht gleich ansehen würde, dass sie gerade eben einen Menschen gemeuchelt hatte, rang sie sich zu dem Entschluss durch, sämtliche Spuren, die auf ihre Anwesenheit hindeuten könnten, zu verwischen; denn wegen so einem wie Schrödinger ins Zuchthaus zu gehen, das musste nicht sein.
Nicht, dass es sie nicht gegraust hätte vor dem, was sie jetzt tun musste; trotzdem tat sie es mit Bedacht, auch wenn ihr die Hände dabei gehörig flatterten. Sie presste ein um die Hutnadel gewundenes Papiertaschentuch fest gegen seine bereits gelblich angelaufene Ohrmuschel, zog sie, wobei sie ein merkwürdiges, ihr eine Gänsehaut verursachendes Knirschen von sich gab, vorsichtig aus seinem Ohr heraus, wischte gewissenhaft das daran klebende Blut und die winzigen Gewebefetzen seines Gehirns ab, und verstaute alles zusammen in ihrer Tasche. Außer den paar kleinen Tropfen, die in seinem Gehörgang klebten, war kein an ihm Blut zu sehen. Sie wischte sie mit einem immer wieder mit Spucke benetztem Taschentuch sorgfältig fort. Die winzige Wunde, durch die ihm die Nadel ins Kopfinnere gedrungen war, lag sehr tief und war der kräftigen Haarbüschel wegen, die ihm aus den Ohren herauswuchsen, nur dann zu erkennen, wenn man um sie wusste oder aber gezielt nach ihr suchte.
Um seine Identifikation zu erschweren, zog sie ihm Strümpfe und Unterwäsche aus, deren er sich in ihrem Beisein niemals entledigt hatte, und zwängte sie mitsamt Anzug und allem anderen, was von ihm stammte, teils in ihre Tasche, teils zusammengefaltet unter ihre Kleidung. Anschließend riss sie die Decken unter ihm hervor, wälzte den jetzt sehr ungeschlachten, sperrigen Körper auf die rechte Seite herum, weil sie hoffte, dass die Wunde so nicht wieder zu bluten begänne, und bettete ihn so hin, dass er den Eindruck erweckte, fest zu schlafen. Von ihrer eigenen Niedertracht überrascht, ließ sie es sich nicht nehmen, ihm anschließend noch seinen abgewinkelten Daumen in den Mund zu schieben. Zu guter Letzt wischte sie alle Gegenstände ab, die sie erinnerte berührt zu haben, sah sich noch einmal um, ob sie etwas vergessen hätte, entriegelte die Tür und ging hinaus, sehr darauf bedacht, sich möglichst gelassen und unverdächtig zu verhalten.
Als sie aber auf der Suche nach dem Gebäudeausgang gleich mehre Male in die Irre ging, hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre doch noch in Panik geraten und blindlings drauflos gerannt. Doch sie schaffte es, sich zusammenzureißen, und fand sich nach einiger Zeit von niemandem behelligt auf der Straße wieder.

Auf dem Weg zu ihrem Auto begegnete ihr außer einem verloren dreinblickenden Hund, der verängstigt einen weiten Bogen um sie herum schlug, niemand. Sie zwang sich allerdings auch, stur geradeaus zu blicken und sich nicht umzuschauen; folgte man ihr, würde sie es früh genug erfahren. Nachdem sie ihr Auto aufgeschlossen und sich auf den Fahrersitz fallengelassen hatte, riss sie die auffällige Perücke herunter, wischte sich hastig die grausige Schminke aus dem Gesicht und zog ihre immer im Wagen bereit liegende Wanderjacke über das scheußliche Kleid. Schrödingers Sachen warf sie achtlos in den Fußraum auf der Beifahrerseite.

Nachdem sie etwa eine Minute lang still hinter dem Lenkrad verharrt und um Fassung gerungen hatte, startete sie den Motor, legte den ersten Gang ein, trat auf das Gaspedal und verließ eilends die Stadt, deren Namen zu vergessen sie sich jetzt schon bemühte.
 



 
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