Die innere Stimme

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flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die innere Stimme

Peter wurde wach. Seine Blase drückte. Missmutig drehte er sich aus dem Bett und schlurfte zur Toilette. Sein Blick streifte den Spiegel. „Mann, wie du wieder aussiehst!“
Hatte er das gedacht oder hatte er es gehört? Sein Schädel brummte. Der letzte Schluck aus der Pulle gestern Abend war wahrscheinlich schlecht. Oder der davor. Oder vielleicht schon der erste? Peter grinste, dann zog er die Spülung.
Um wieder klar im Kopf zu werden, steckte er ihn unter den Wasserhahn und ließ das kalte Wasser laufen. Das tat gut! Nur das kleine Rinnsal nicht, das ihm den Rücken hinab lief. Er drehte den Hahn zu und griff zum Handtuch. „Nicht so schnell“, meldete sich die Stimme wieder. „Zieh mal erst das Hemd aus. Die Hose auch, sie ist nass geworden.“
Mechanisch folgte er. Noch einmal fiel sein Blick in den Spiegel. Den zerknitterten Mann an der Wand da kannte er gar nicht. „Soll das wirklich ich sein?“, fragte er sich.
Er schüttelte den Kopf und ging in die Dusche. Eine ganze Weile drehte und wendete er sich unter dem heißen Wasserstrahl, bis ihm richtig wohlig wurde. Beim Abtrocknen hätte er beinahe zu pfeifen begonnen!
Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. „Mann, wat is heut bloß für n Tach?“ Kaum zu Ende gedacht, fiel es ihm ein: „Heut is Heilichahmd.“
Sein Gesicht wurde grau und seine Bewegungen langsamer. Weihnachten . . .
Ja, damals, als seine Frau noch lebte, da hatte es viele schöne Weihnachten gegeben. Einen großen, wunderschön geschmückten Baum, Geschenke für Mutter, Vater, Frau und Tochter, gutes Essen und sie hatten Weihnachtslieder gesungen.
„Und jetzt sinkst du immer tiefer. Wirst bald noch brummen müssen.“, meldete sich die innere Stimme.
„Wat?“, fauchte Peter zurück. „Wieso soll ick brumm müssen?“
„Na, hast du nicht an fast jedem Monatsende deinen Schnaps, den du doch angeblich sooo nötig brauchst, im Supermarkt geklaut?“
„Na, wenn doch det Jeld so knapp is.“, verteidigte er sich schwach. Dabei dachte er daran, dass der Kühlschrank leer ist und er, um den heutigen Abend durchzustehen, noch eine große Flasche brauchen würde. Woher nehmen ohne Geld?
„Siehst du, es ist erst der vierundzwanzigste, und du bist schon pleite!“, tönte die Stimme dicht an seinem Herzen.
„Und, warum bin ick pleite?“, erboste Peter sich. „Weil ick Jeschenke jekooft hab for meine Enkel! Dabei besuchen die Jörn mir nich mal.“
„Und, warum besuchen sie dich nicht? Weil du immer besoffen bist, jeden Tag, den der Herrgott werden lässt!“
„Bäh!“
„Ja, bäh du nur. Aber halte deine Hand ruhig, du schneidest dich sonst beim Rasieren.“
Konzentriert führte Peter die scharfe Klinge über seine Wangen und das Kinn. Nachdem er den Schaum abgespült hatte, gefiel ihm sein Aussehen besser.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm die elfte Stunde. Als er wieder vor dem Spiegel stand, hatte er seinen guten Anzug an und war dabei, sich einen Schlips umzubinden.
„Wat denn, wat denn, du willst doch man bloß in den Marcht, um dir ne Pulle Schluck zu holn, dafor brauchste dir doch nich so uff zu takeln.“, wunderte Peter sich.
„Am Heiligen Abend wird nicht geklaut. Oder willst du wirklich immer tiefer sinken und am Ende brummen?“
„Ick könnte vielleicht soja janz uffhörn mit det Jesaufe.“, brummelte Peter vor sich hin. Die Stimme schwieg.
„Det is nett, det de die Entscheidung mir übalässt.“, grinste Peter sein Spiegelbild an.
Vorsichtig packte er die Geschenke für seine Enkel ein und fuhr zu seiner Tochter.
Als sie die Tür öffnete und ihn erblickte, brauste sie auf: „Papa!“ Dann sah sie seine feine Aufmachung und die Päckchen und verschluckte, was sie zu sagen beabsichtigte: „Wenn du wieder besoffen bist, kannste jleich wieder jehn!“, sonder fuhr in sanftem Ton fort: „Du hast dir ja so schick jemacht.“
Sie bat ihn herein und er überreichte die Mitbringsel. Die Geschwister freuten sich zuerst, dann sagte das Mädchen: „Aber Opa, ick bin doch schon raus aus det Barbie-Alter.“
Peter entgegnete: „Da kannste mal sehen, wie lange wir schon nich mehr mitnnander jeschpielt ham.“ Darauf tröstete ihn das Mädchen: „Aber so ne hübsche Barbie hatte ick noch nie.“
Nun traute sich der Junge auch nicht mehr, gegen das Feuerwehrauto zu meckern, sondern tat so, als würde er immer noch mit solchem Kleinkinderkram spielen. Peter konstatierte traurig, wie groß die Kinder inzwischen geworden waren und wie viel Zeit er vertrödelt hatte.
Schweigend wurde das Festmahl eingenommen. Der seltene Gast machte Gespräche nahezu unmöglich. Keiner wollte sich den Feiertag verderben mit den Schatten der Vergangenheit.
Nach dem Essen wurde „Memory“ gespielt, ein Spiel, welches Peter einmal sehr mochte. Heute hatte er gegen seine Enkel keine Chance, zu gewinnen. Sogar der Schwiegersohn, der sich recht lustlos beteiligte, war ihm überlegen. Peter steckte das locker weg. Er sagte sich: „Pech im Spiel bedeutet Glück in der Liebe.“
Dann gab es Kaffee und Kuchen. Die Tochter hatte Baumkuchen gebacken, wie ihre Mutter damals. Peter bekam kaum einen Bissen hinunter, er hatte einen dicken Kloß im Hals. Aber er wollte nicht heulen. Das hatte er als Betrunkener oft genug getan. Genug um die Tote geweint. Jetzt wollte er sich den Lebenden zuwenden.
Nach der Bescherung, wo Peter sehen konnte, wofür sich seine Enkel interessieren, wurden Weihnachtslieder gesungen. Nachdem sie zu Ende waren, sagte der Junge bewundernd zum Opa: „Ick hab ja ja nich jewusst, det du so schön singen kannst!“
„Du weißt so manches nicht, mein Junge.“, sagte Peter sanft. Er zog den Jungen an sich und flüsterte ihm ins Ohr: „Weißt du überhaupt, dass ich dich ganz doll lieb hab?“
Der Junge fragte zurück: „Und die Mutti auch?“
„Ja.“, erwiderte Peter fest.
„Und meine Schwester?“
„Klar!“
„Und meinen Papa?“
„Den auch.“
„Dann kannste uns öfter besuchen!“
"Das werde ich. Ganz bestimmt."
 
P

Perle

Gast
Hallo flammarion,

ich habe die Geschichte gern gelesen, geht sehr zu Herzen.
Ein kleines Problem habe ich leider mit dem Schluss. Ein richtiger Trinker kann nicht so einfach aufhören. Vielleicht sollte die Geschichte ein wenig offen bleiben!?
Z:B: " Dann kannst du uns ja jetzt öfter besuchen!"
" Das werde ich, bestimmt!"

Liebe Grüße
Perle
 
E

Edgar Wibeau

Gast
Na, sare ma,

ick har ihm doch jesehn,
Zossna, Ecke Berchmann,
bein Birth issa rin,
jesoffm hatta.
Det würd nüscht mit die Besuche...

Gruß

Christian

PS: Warum spricht zum Schluss eigentlich niemand mehr Dialekt? Opa fasst einen guten Vorsatz, also wird ab jetzt auch anständig geredet?
 

sannasohn

Mitglied
hallo,

danke fürs lesen und kommentieren.
der dialekt fällt weg angesichts der feierlichen stunde. kannste bei anderen leuten auch beobachten.
ganz lieb grüßt
 

Esta

Mitglied
Keine Lust ...

Nein, überhaupt nicht. Keine Lust auf Textarbeit, was soll's. Bin eh kein Literat, oder wie immer sich Textarbeiter nennen mögen. Warum lese ich Geschichten? Weil ich meckern will, und kann, um zu zeigen, wie großartig ich mein Handwerk beherrsche und anzuwenden verstehe? Nö. Ich lese, weil ich nach Gefühlen und Geschichten suche, die mir in Erinnerung bleiben. Und diese Geschichten müssen nicht zwangsläufig großartige literarische Perlen sein ...

Deshalb keine Textarbeit und keine Bewertung. Ich maße mir nicht an, die Geschichten anderer Autoren zu beurteilen, wäre das nicht ein wenig eingebildet ... ?

Aber eins möchte ich dir sagen - du schreibst wunderschöne Geschichten, Hut ab. Du schaffst es problemlos, mich zu fesseln. Und mich zum Nachdenken anzuregen.
Hey, ich will offen sein, diese Geschichte hätte mich um ein Haar zum Weinen gebracht, ehrlich. Vielleicht lag der Grund darin nicht unbdingt in der Geschichte selbst, sondern viel eher in einer bösen Erinnerung, doch bleibt die Wirkun dieselbe, nicht wahr? Ich finde es wunderbar, wie du über die "Verstoßenen" der Gesellschaft schreibst.
Lob und weiter so.
Und keine Textarbeit.

Esta.
 

Axel B

Mitglied
Liebe Marion,

eine gute Geschichte. Den inneren Kampf eines Alkoholikers kenne ich nicht aus eigener Erfahrung, aber ich konnte mir das innere Zwiegespräch sehr gut vorstellen. Ich habe im näheren Umfeld mit Alkoholismus zu tun. Insofern muss ich sagen, dass die Passage, in der Du beschreibst, dass angesichts des seltenen Besuchers keine Gespräche aufkommen, für mich zu der wirklichkeitsnahesten Passage in Deinem Text gehört.

Eine marginale "Kritik" beziehungsweise einen Kommentar habe ich allerdings:
Insgesamt hätte ich es besser gefunden, den einsamen Kampf des Trinkers auch in der Einsamkeit zu belassen, da die Einbindung in das familäre Umfeld beinahe danach ruft, auch die Belastung eben dieses Umfeldes durch den Trinker sowie die Ko-Abhängigkeiten zu beleuchten. Sobald der Trinker seine Einsamkeit verlässt und sich in Gesellschaft begibt, insbesondere in den Familien- und Freundeskreis, beeinflusst ein schwerer Trinker mit seinen Ein- und Ausfällen sein Umfeld in besonderem Maße.

Danke für diese gute Geschichte.

Axel
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
oh,

vielen dank fürs lesen und kommentieren. da ich hoffnungslos blauäugig bin, dachte ich mir, jeder sieht, dass der trinker die sauferei nun aufgibt . . .
lg
 

Axel B

Mitglied
Nun ja, das hatte ich auch so verstanden. Allerdings kenne ich auch das Geflecht der in dem Moment der Formulierung ehrlichen Versprechen, vergeblichen Versuchen und Enttäuschungen. Allgemein sagt man, dass ein Trinker zuerst ganz unten sein muss, bevor er aufhören kann. Die Konsequenzen und Qualen des Trnkens müssen grösser werden, als die Sucht und die Sehnsucht, in den Alkohol zu fliehen. Leider schaffen das nur sehr wenige. Insofern habe ich das Ende als ernstgemeinten Versuch interpretiert, der aber aller Wahrscheinlichkeit nach zu scheitern verurteilt scheint.

Vielleciht bin ich auch durch zuviele schlechte Erfahrungen :-( zu vorbelastet, um ein Happy-End gelten zu lassen :).

Beste Grüße
Axel
 



 
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