Die junge Königin

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Eine spielerische Replik auf Rilkes Gedicht "Der König"

Die junge Herrscherin betritt den Raum
gerade sechzehn Jahre alt
Die Schleppe Gold und Gold der Saum
Das Kleid mit Abendlicht bemalt,

das durch die Fenster herbstlich strahlt,
den großen Thronsaal kleidet
Der Körper jung, die Seele alt
Der stolze Gang zerschneidet

die Spannung, die im Raume steht
Das Hoffen und das Bangen
Und ob sie Volkes Not versteht
Blutrot funkeln die Spangen

Im schwarzen Haar roter Saphir
Das Dekret in den Händen
Die Unschuld eines Sagentiers
in ihren schlanken Lenden

Die noch nichts wissen von der Welt,
von den Begehrlichkeiten
Und als die Hand nach vorne schnellt,
die sie ergreift im Schreiten

der Dolch sie trifft, sie nieder fällt,
die Todesschleier breiten,
sie still wird und bis fünfe zählt,
schon vier und fünf entgleiten,

entreißt der Mörder das Dekret,
des toten Königs Schreiben
In dem sicher Befehl ergeht
die Schuldner zu enteignen

Die Kleine stürzt in dunkle Nacht,
die Sinne ihr entfliehen
Der Mörder dolcht erneut und lacht,
den Dolch der Brust entziehend

Im dunklen Blut ertrinkt ihr Kleid
Im Schmerz ertrinkt das Treiben,
als man entdeckt der toten Maid
Schriftzug im Königsschreiben

Verschwunden war das eine Wort
enteignen ausgestrichen
Ersetzt vor diesem feigen Mord
durch: Alles
ausgeglichen
 
Zuletzt bearbeitet:

Tula

Mitglied
Hallo Dio
Das Rilke-Original und deine Version passen beide gut zu Portugals Geschichte. São Sebastiäo wurde mit 14 König, d.h. eigentlich schon viel früher, aber dann übernahm er das Zepter. Er ließ sich sehr schlecht von seinen Adligen am Hof zu einem Feldzug gegen die Mauren überreden und verschwand dann im Nebel der Schlacht mit nur 24.

Inês de Castro ist in Portugal eine Legende. Geliebte von D. Pedro I., dem Prinzen und Thronfolger, mit dem sie 4 Kinder hatte, sollte sie eigentlich Königin werden. Pedro's Vater und sicher anderen am Hof passte das nicht und ließ sie feige ermorden, als D. Pedro mal kurz abwesend war. Sie wurde von D. Pedro postum zur Königin erklärt und zwang die noblen Verräter die Hand der bereits verwesenden Dame zu küssen.

Ich habe das auch irgendwann mal verdichtet, für mein Projekt, das sonst niemand liest ... : Gedicht am Tränenquell

Das hat sich wohl sehr oft abgespielt an den Höfen Europas und anderswo. Natürlich erinnert die Szene auch an Brutus und Cäsar ... jedenfalls hast du das sehr anschaulich verdichtet.

LG
Tula
 
hi @Tula

deine lyrische Portalerkundung ist toll. Die Verdichtung des Dramas um Ines ist sehr gelungen ! Mir hat auch sehr gefallen: " Land hinter dem Fluss":

dann lächelt jeder auf seine Weise

sie wissen um ihre Nächte
hier sind sie noch
sternenklar


Die Seite ist gemerkt ! Merci !

Die Szene selbst ist wie gesagt ein Spiel mit der Vorgabe von Rilke: Dort ein sechzehnjähriger König, der bis 70 zählt, bis er endlich das Todesurteil unterschreiben kann, während alle denken, er quält sich so sehr - hier eine sechzehnjährige Königin, die das Enteignnungsurteil ihres toten Vaters rückgängig machen will, obwohl jeder denkt, sie werde es nur vollstrecken.

mes compliments

Dio
 

sufnus

Mitglied
Hey Dio!

Ganz Im Unterschied zum Rilkegedicht ist Deines eher eine veritable Ballade im ganz klassischen Stil - schon die ganz unterschiedliche Länge der beiden Werke ist hier ein erster Hinweis auf den völlig verschiedenen poetologischen Angang.

Tatsächlich ist die Ballade ja eigentlich am Ende des 19. Jh. schwer aus der Mode gekommen und auch die (wie ich finde: bewundernswerten) Modernisierungsversuche durch Brecht haben daran nicht so viel geändert. Tatsächlich fiele mir jetzt so ganz spontan aus der Heutezeit des frühen 21. Jh. kein einziges literarisches, deutschsprachiges Gedicht ein, das ich so richtig als Ballade einordnen würde. Das ist ja fast schon eine Riesenmarktlücke! ;)

Wobei Deine Ballade, Dio, voller Respekt (um nicht zu sagen: Verehrung) ganz auf der Linie der Altmeister agiert; Literaturwissenschaftler, denen man das Gedicht vorlegen würde, datierten es (würde ich mal vermuten) in die zweite Hälfte des 19. Jh., vielleicht irgendwo zwischen Rückert und C. F. Meyer?
Deute ich damit jetzt den Vorwurf des Altmodischen an? Ersteres (Vorwurf) sicher nicht, Zweiteres (im spielerischen und literaturenthusiastischen Sinne) durchaus.
I like! :)

LG!
S.
 
Hi @sufnus

ich bedanke mich für die feingeistige Einordnung und Klassifizierung mit der ich ganz d´acccord bin (wobei ich mir wünschen würde bei allem noch so schöne Locken zu haben, wie Rückert ;-)

Merci
+
compliments

Dio
 



 
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