Die Kammer in der Kammer

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Er fuhr mit der U-Bahn zum Gericht, seine Terminsvollmacht in der Aktentasche. Sie schickten ihn zum ersten Mal dorthin. Der Fall konnte nur gewonnen werden. Sie hatten ihn so instruiert: Und wenn die Vorsitzende sagt: Die Beklagte beantragt ... und Sie dabei anschaut, dann sagen Sie: ... die Klage abzuweisen. Sonst nichts. Er war niemals vorher zu Gericht gegangen, auch nicht in eigener Sache.

Gott, was für ein hässliches Gebäude! Erbaut 1848, sagte eine Inschrift neben dem Eingang. Auch mit preußischer Schlichtheit kann man es übertreiben. Diese langen Flure, das hohe Treppenhaus: alles grau, karg, schmucklos. Könnte eine Kaserne gewesen sein; war es aber nicht. Er fand die Tür zum Sitzungssaal. Sein Termin war als letzter für heute angeschlagen: Josefine Streitbauer, Klägerin, gegen sie, die Beklagte. Er huschte durch die offene Tür hinein.

Drinnen war kein Mensch. War der Termin davor so schnell zu Ende gegangen? Es roch muffig und staubig nach alten Akten und blassen Büromenschen. War das überhaupt ein Gerichtssaal? Er zweifelte stark. Es sah eher wie die Gemeinschaftsküche in einer Notunterkunft aus und war auch nicht viel größer. Nein, ein Saal war das nicht. Vielleicht lag er hinter der offen stehenden Tür an der Stirnseite des Raumes? Er durchschritt sie ...

... und geriet in einen schmalen Durchgang. Da war am Ende noch eine offene Tür. Weibliche Stimmen drangen heraus. "Meine Liebe", hörte er sagen, "haben Sie Doktor Pfundshammer wieder einmal gesehen?" - "Aber ja, und dick ist er geworden, unglaublich!" Er ging hinein. Da saßen drei Damen an einem länglichen Tisch. Er sah gleich, dies musste die Spruchkammer sein - die Vorsitzende mit den zwei Beisitzerinnen. Also würde hier demnächst verhandelt werden. Aber klein war auch dieser Raum, noch kleiner als der erste. Er grüßte und tat unbefangen und setzte sich mangels weiterer Sitzgelegenheit zu ihnen an den Tisch. Sie grüßten zerstreut zurück.

Die eine verriet gerade ein Kochrezept: "Koriander, unbedingt. Vielleicht auch Nelken ..." - "Einen Moment, bitte", sagte die Vorsitzende. Sie wandte sich ihm nun zu und fragte sanft: "Kommen Sie für die Beklagte? Hier können Sie nicht warten." Und sie führte ihn zurück in den "Saal". Trottel, zischte er sich selbst und unhörbar für sie zu. Das hat es noch nie gegeben: Der Vertreter der Beklagten zieht sich vor der Verhandlung mit den Richterinnen ins Beratungszimmer zurück - so serviert man Befangenheit auf dem Silbertablett. Zum Glück waren Frau Streitbauer und ihr Anwalt noch nicht da.

Alles Weitere verlief programmgemäß. Wortlos reichte er die Vollmacht hinüber. Er hielt den Mund, bis die Vorsitzende mit dem Finger in seine Richtung schnippte: "Die Beklagte beantragt ..." - "... die Klage abzuweisen", fiel er ihr geradezu ins Wort. Übereifrig, wie meistens.
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Arno,
musste beim Lesen sehr stark an Kafka denken: was eigentlich Sache ist, ist kaum bestimmbar / nicht lokalisierbar / schwer zu verorten. So vermittelt dein Text erfolgreich eine große Unsicherheit und vorgeschädigten Lesern kann er vielleicht sogar Angst und Verstörung zuführen.

lg wüstenrose
 
Danke, Wüstenrose, für die freundliche Reaktion. Du eröffnest mir da eine neue Perspektive auf den dargestellten Ablauf. Wo für mich die Tumbheit des Terminsvertreters im Vordergrund stand, die zum Amüsement des Lesers hätte führen sollen, muss ich mich nun unter Umständen für "Angst und Verstörung" des Letzteren rechtfertigen ... Und wenn ich's noch mal durchgehe - es kann ja tatsächlich auch als bedrückend empfunden werden.

Schönen Gruß
Arno Abendschön
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Mysteriös, dunkel, offenes Ende. Gut zu lesen, leicht geschrieben.
Trotzdem bleibt ein leichtes Unbehagen bezüglich der Intention. Kafakesk kam mir auch in den Sinn.
LG Doc
 
Danke auch an dich, DocSchneider, für den geäußerten Eindruck. Du hast mir damit, wie schon Wüstenrose zuvor, einen Fingerzeig gegeben, wie Kafkaeskes erreicht werden könnte, sofern man das beabsichtigt. Hier lag die Sache aber anders. Meine banale Intention hinter dem Mysteriösen: authentische Bezüge zu verwischen.

Schönen Morgengruß
Arno Abendschön
 



 
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