Frank fand nur mühsam aus dem Schlaf. Erst konnte er das Geräusch nicht zuordnen, aber dann erkannte er es. Die Türklingel. Welcher Idiot klingelt um- wie spät war es eigentlich? Er suchte im Dunkeln verschlafen die Leuchtziffern des Weckers. Halb vier. Er tastete im Bett neben sich nach Ida, aber der Platz war leer. Ach ja, Ida war bei Stefan und Dörte auf dem Geburtstag. War wohl nett, wenn sie um halb vier noch nicht zu Hause war. Er stieg aus dem Bett und lief nach unten. Hendrik jammerte leise im Kinderzimmer, der Kleine war vom Klang der Türglocke aufgewacht. Na warte, du Arschloch, dachte er und riss die Haustür auf, bereit, den Störenfried anzubrüllen. Draußen standen zwei Polizisten und eine Frau im Wintermantel. Die beiden Männer waren kaum älter als zwanzig, ihre Uniformmützen wirkten zu groß für die jugendlichen Gesichter. Die Frau war Mitte vierzig, stark geschminkt, trug rot gefärbte Haare und eine schwarze Hornbrille. Der eine der beiden Polizisten sah ihn verlegen an.
„Herr Kramer, entschuldigen Sie bitte die Störung, dürfen wir einen Moment hereinkommen?“
Ida hatte keine Schuld getroffen. Sie war auf dem Rückweg von der Party frontal mit einem BMW zusammengestoßen. Der Fahrer hatte getrunken, und war mit über 120 auf die Gegenfahrbahn geraten. Er und seine Frau waren mit Knochenbrüchen und leichten Schnittverletzungen davongekommen. Ida war sofort tot gewesen. Und Frank wäre wahrscheinlich auch tot, wenn er nicht einen Migräneanfall bekommen und Ida allein zur Party geschickt hätte. Später erinnerte sich Frank nur noch mühsam an diese Nacht und die Wochen danach. Die Psychologin, deren Namen er vergessen hatte, hatte ihm ein Beruhigungsmittel verabreicht und Susanne angerufen, die sich um die Kinder kümmern sollte.
Hendrik hatte es gut genommen, aber er hatte lange gebraucht, bis er es richtig verstanden hatte. Bei Timo war es schwieriger, er hatte die Wochen vor Idas Tod im Dauerstreit mit ihr gelegen und suchte die Schuld bei sich. Er zog sich in sich zurück, verbrachte viel Zeit alleine auf seinem Zimmer und vergrub sich in alten Familienalben voller Fotos von seiner Mutter. Zwei Tage nach Idas Beerdigung war, wie aus dem Nichts, die Katze aufgetaucht. Weder schien sie jemandem aus der Nachbarschaft zu gehören, noch hatte man sie vorher in dieser Gegend gesehen. Hendrik mochte sie auf Anhieb, wegen ihrer grauen Augen, er redete immer davon, sie sei seine geheime Zwillingsschwester. Das Tier erschien immer dann auf der Terrasse, wenn die Familie, oder was davon noch übrig war, am Esstisch Platz nahm. Sie ließ sich nicht füttern, aber sie saß stundenlang dort, bis niemand mehr im Wohnzimmer war. Frank hätte nicht sagen können, wohin sie dann ging, er hatte sie auch niemals auf der Straße beobachtet. Man konnte fast das Gefühl bekommen, die Katze bewache sie, aber eigentlich machte sie gar nichts, außer eben da zu sitzen und hineinzuglotzen. Hendrik hatte einmal versucht, sie ins Haus zu locken, aber sie war stur dort draußen sitzen geblieben, als wenn sie das Gefühl hatte, nicht dazuzugehören. Das ging seit Jahren so, morgens, abends, im Sommer wie im Winter. Susanne hatte einmal eine Andeutung gemacht, ob zwischen dem Auftauchen des Tieres und Idas Tod ein Zusammenhang bestünde, aber Frank hatte sie angeschnauzt, sie solle so einen Mist bloß nicht vor den Kindern erzählen. Aber in seinen Augen hatte sie etwas anderes gesehen. Als ob er sich ertappt fühlte.