„Sch! Sch!“ gab Ante in Richtung des Wirts von sich und bat ihn wortlos und gestenreich flehend, nicht zu telefonieren. Die Geräusche hinter mir verstummten sofort.
„So, Ante, jetzt tauschen wir beiden ganz ruhig und brav die Plätze, und dann erzählt ihr mir, was hier eigentlich los ist!“
Als Ante mit dem Rücken zur Theke saß, schob ich Darios Messer in meinem linken Stiefel und setze mich ebenfalls hin. Der Wirt bekam einen Blick, der so etwas wie „Halt die Hufen still, alles in Ordnung!“ bedeutete, mit einem anderen Blick gab ich Ante zu verstehen, dass ich auf Erklärungen wartete.
Der nahm seine beschlagene Brille ab, tupfte sich mit der Serviette den Schweiß von der Stirn und stammelte:
„Ja, äh, du … hmh … möchtest ja nicht so gerne … äh … Fragen hören, sondern Antworten haben, nicht wahr?“
Weil ich ihn nur streng anschaute, stammelte er weiter.
„Also, ja … äh, wenn ich dir, wie soll ich … äh … sagen, wenigstens eine Frage stellen dürfte, hmh … ja … äh, und du, sagen wir, du wärst bereit, sie … äh … zu beantworten, das wäre für den Verlauf unseres … Gesprächs sehr hilfreich.“
Erik nickte zustimmend, Dario tropfend. So als wüssten sie, wo der Dicke drauf hinauswollte.
„O. k.“, sagte ich und hob beschwichtigend die Hände. „Tut mir leid, wenn ich gerade ein bisschen überreagiert habe.“ Ich wandte mich an Dario: „Und das mit der Nase tut mir auch leid. Die sah vorher schon Scheiße aus. Hier …“ Ich zog ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und reicht es ihm. „Und wenn ich euch verlasse, kriegst du auch dein Messer wieder.“
Dann schaute ich Ante an: „Stell deine Frage, aber hör´, wenn es eben geht, mit dem dämlichen Gestammel auf!“
Für meine Begriffe hatte ich damit mit allen Frieden geschlossen und besiegelte den Friedensschluss, indem ich dem Wirt vier Finger zeigte. Der tippte fragend auf ein leeres Bierglas, und ich nickte freundlich.
Die Kellnerin stellte scheu die Biere vor uns ab und verschwand so schnell sie konnte wieder hinter die Theke.
„Also“, setzte Ante an, „was weißt du über diese Gegend und unseren König?“
Das war eine Frage zu viel, aber ich sah es ihm nach und erzählte dem Trio alles, was ich über Ljubiša Petrovi? und sein Reich wusste. Danach herrschte am Tisch betretenes Schweigen.
Ante räusperte sich und sah besorgt drein.
„In den letzten Monaten“, meinte er, „hat sich hier einiges geändert. Wie frisch sind deine Informationen? Und wie lange dauert es gewöhnlich, bis die Informationen von hier in Mostar angekommen sind?“
In meinem Gesicht konnte er lesen, dass mir diese Fragen zu persönlich waren. Er fing erneut an zu schwitzen und schaute weg. Ich atmete tief durch, fest entschlossen, nicht erneut die Tisch- und Nasennummer abzuziehen und dachte über meine letzte Zeit in Mostar nach, auch wenn es weh tat.
„Wenn ich das so überschlage“, überlegte ich laut und kratzte mich am Hinterkopf, „dann habe ich das letzte über Petrovi? im Mai gehört. Und es kann schon sein, dass es einen Monat dauert, bis etwas von hier bis nach Mostar durchsickert. Nun ja, wir haben jetzt Ende Juli. Recht frische Informationen also, nicht wahr?“ Ich schaute ihn fragend an.
Ante nickte wissend.
„Dann kannst das alles ja gar nicht wissen.“
„Was?“ fragte ich.
„Das können dir Dario oder Erik viel besser erzählen als ich. Die beiden haben bis vor kurzem in Lütgendortmund gewohnt. Ich wohne seit jeher in Eving und war dummerweise nur zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Er nickte den beiden auffordernd zu.
„Noll Enik mach´n!“ nuschelte Dario, der nur durch den Mund atmen konnte.
Erik reckte sich. Sein Gesicht fing an aufzuleben und seine matten Augen kriegten ein Blitzen, als wäre er ganz in seinem Element.
„Erik war in seinem letzten Leben Dozent für Politikwissenschaften, musst du wissen, und für Deutsche Literatur“, schob Ante noch schnell ein, bevor der verwandelte Lulatsch loslegte.
„Hör zu, brate!“ fing Erik an: „Ljubiša Petrovi?´ Hofstaat wurde, und das ist amtlich, ab Januar dieses Jahres vom LKA unterwandert. Das LKA, falls du es nicht weißt, ist so eine Art Geheimpolizei des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Spitzel erfuhren aber keine wichtigen Sachen, nichts, was den König hätte hinter Gitter bringen können …“
Erik war bestimmt mal ein guter Dozent gewesen. Er suchte immer wieder meine Augen und redete mit sonorer Stimme und einer Lebendigkeit, die mich packte. Das Faszinierendste aber war, dass sein überkandideltes und völlig überzogen korrektes Hochdeutsch gespickt war mit Kraftausdrücken. Letztere verstand ich sofort und von seinen grammatikalischen Kopfgeburten zumindest das Wichtigste. Ich hing förmlich ihm an den Lippen.
„… dummerweise probte zeitgleich sein Volk in einigen Stadtteilen den Aufstand. Die Gastronomen und Händler in Hörde, Kirchhörde, Schanze und Aplerbeck zeigten ihm den Arsch und teilten ihm schriftlich mit, dass sie zukünftig keine ‚Verwaltungspauschale‘ mehr abführen würden. Sie hätten genug Fotos, Schriftstücke und Telefonmitschnitte gesammelt und diese bei einem Gewährsmann hinterlegt. Wenn er sie nicht in Ruhe ließe und wenn nur einem von ihnen ein Haar gekrümmt würde oder wenn zufällig ein Lokal in Flammen aufginge, würde das Material umgehend der Polizei zugespielt. Von der Unterwanderung durch das LKA wussten sie nichts, und sie erwischten den König mit ihrem Schreiben echt auf dem falschen Fuß. Das war so, als hätten sie es mit einem angeschossenen Keiler zu tun gekriegt…“
„Moment mal!“ Ich beugte mich vor und hakte ein: „Hat der König gemerkt, dass er es mit Ratten zu tun hatte? Haben die Schnüffler das Ding gegen die Wand gefahren?“
„Also, unser König, brate …“, Erik grinste mich schelmisch an, „… unser König hatte einen Spitzel beim LKA und wusste von Anfang an, was läuft. Da bist du platt, was?“
Ich lehnte mich zurück. Ja, platt war ich schon, aber ich fragte mich, was das jetzt mit mir und der Paranoia meiner Landsleute zu tun hatte. Erik schien meine Gedanken zu erraten.
„Seitdem sind wir alle ein bisschen balla-balla. Weil der König auch balla-balla ist. Und wenn du dich noch länger hier aufhältst, bist du‘s auch! Aber zurück zu Ljubiša Petrovic: Er plante noch während der verdeckten Ermittlungen eine Säuberung und schlug Ende letzten Monats gnadenlos zu. Durch seinen Spitzel wusste er, wer aus den eigenen Reihen mit den Bullen zusammenarbeitete und verpasse demjenigen Betonschuhe. Der ging dann in irgendeinem Gewässer hier in der Gegend baden und tauchte nie wieder auf. Und alle Jugos aus den oberen Führungsebenen, an deren Loyalität der König auch nur den geringsten Zweifel hatte, wurden – und jetzt halt dich fest! – DES LANDES VERWIESEN!!! Raus aus Westdeutschland! Zurück in die Heimat! Die anderen Könige in Deutschland haben Schwarze Listen erhalten mit der Bitte um Amtshilfe. Wenn sich einer der Geschassten erneut oder immer noch in Westdeutschland aufhält und das Ljubiša gesteckt wird, dann geht der auch baden!
Nun zum LKA: Während die Schnüffler, übrigens alles Männer mit jugoslawischen Wurzeln und einer einwandfreien Legende, ‚auf der Arbeit‘ waren, knöpften sich Ljubišas Leute deren Familien vor. Ebenfalls Ende April. An nur einem Tag wurden ihre Ehefrauen bedroht und sexuell gedemütigt. Ihre Kinder wurden nach der Schule von einem ‚Onkel‘ abgeholt, den sie noch nie gesehen hatten und in ihrem Leben auch nie wiedersehen möchten. Und in den nächsten drei Tagen wurden mehrere Tanten, Mütter oder Schwestern plötzlich von Autos angefahren und zum Teil schwer verletzt. Fahrerflucht, Täter nicht ermittelbar. Als das schwerfällige LKA merkte, woher der Wind pfiff, war es schon zu spät. Die vier oder fünf eingeschleusten Agenten meldeten sich nach und nach krank. Und das LKA musste die ganze Aktion noch Anfang Mai abblasen und einstampfen.“
Erik legte, ganz der Dozent, eine Pause ein, damit ich die neuen
Erkenntnisse verdauen und Fragen stellen konnte.
„Phhh!“ Ich machte dicke Backen. Eigentlich hatte ich nur eine Frage: Betraf diese ganze Scheiße auch mich?
Erik konnte offenbar Gedanken lesen.
„Ja, unbekannter brate, das betrifft auch dich! Aber ich lege Wert auf Chronologie. Was bedeutet, dass wir zu deiner beschissenen Zukunft in dieser verschissenen Gegend ganz zum Schluss kommen!“
Mein Dozent starrte grimmig an die Decke, schüttelte den Kopf und rümpfte die Nase. Ich und überhaupt mein ganzes Leben endete für ihn hier in einer Mülltonne!
„Nun zu den Gastwirten und Händlern: Ich verglich den König vorhin mit einem angeschossenen Keiler. Also: Weil diese Leute blöd genug waren und andeuteten, dass das kompromittierende Material bei einem Gewährsmann hinterlegt worden sei, war es nur eine Frage von Tagen, bis Ljubiša Petrovic einen den Jugos nahestehenden Rechtsanwalt am Kanthaken hatte. Und wenn ich ‚Kanthaken‘ sage, dann meine ich einen richtig großen und ekeligen, rostigen Haken! Ljubišas Getreue haben aus dem armen Kerl alle Informationen herausgeprügelt einschließlich seiner Safe-Kombination und ihn dann an besagtem Haken ausbluten lassen. Und zwar recht professionell, ohne Spuren zu hinterlassen. Hätte die Sache nicht einen Haken gehabt, wäre die Polizei von einem Selbstmord ausgegangen. Und am Abend desselben Tages waren die chirurgischen Notaufnahmen in Hörde, Kirchhörde, Aplerbeck und Schanze mit Jugos und Griechen überlaufen, die offene Frakturen an beiden Unterarmen versorgen lassen mussten. Warum auch immer waren alle beim Fahrradfahren über den Lenker geflogen. Zwei bis drei Wochen Klinikaufenthalt mit dem üblichen Verdienstausfall war nur ein Teil der entstandenen Kosten. Denn neben der normalen ‚Verwaltungspauschale‘, die ab jetzt wieder brav gezahlt oder gnadenlos bei der Ehefrau eingetrieben wurde, kamen noch ‚Kosten für sonstigen Verwaltungsaufwand‘ hinzu. Die Geschäftsleute mussten für den Job bezahlen, der sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Bei Zahlungsunfähigkeit gewährte der König Kredite mit horrenden Zinsen und Zinseszins. Die Dortmunder Polizei steht heute noch Kopf und kopflos da, weil die Betroffenen schweigen wie ein Massengrab. Und das LKA …, vergiss es einfach!“
Erik machte wieder eine Pause, weil er sah, dass ich sie brauchte. Er schaute mich geradewegs und kopfschüttelnd an, während ich ungläubig ins Leere starrte. Wo war ich bloß gelandet? Gab es Ljubiša Petrovic auch in Selm? Mir fiel auf, dass Ante und Dario mich die ganze Zeit über mitleidig angestarrt hatten.
„Und damit kommen wir zu uns, den kleinen Leuten und auch zu dir, brate.“
Konnte es noch schlimmer kommen?
„Oh ja, es kommt noch schlimmer! Hallo?!“ Erik rüttelte an meinem Arm. „Hör mir genau zu, denn jetzt geht es um deinen muskulösen Arsch!“
„Nur eine Frage noch“, warf ich müde ein. „Woher weißt du das alles?“
„Dario und ich können ein Lied davon singen, weil wir bis Anfang des Monats in Lütgendortmund gewohnt haben. Dort, wo alle Angestellten wohnen müssen. Wir waren keine Angestellten, ganz bestimmt nicht! Wir hatten dort schon gelebt, ehe Ljubiša sich zum König krönte. Aber weil die Angestellten dort wohnen mussten, auch die angestellten Spitzel, habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie sowohl eine 80-jährige als auch eine schwangere 20-jährige über die Kühlerhaube eines Fahrzeugs ohne Kennzeichen flogen. Und ich habe abends Kinder mit Schulranzen verstört schreiend und heulend die Straße entlanglaufen sehen, nach denen die Eltern stundenlang vergeblich schreiend und heulend gesucht hatten. Dario hat noch ganz andere Dinge gesehen und redet seitdem nur noch, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Es war für uns kein Problem, eins und eins zusammen zu zählen, und wenn dann noch nach und nach etwas aus der Zentrale der serbischen Schabe herausdringt … Dario und ich waren jedenfalls froh, dass wir in Eving Großmütter, alte Mütterchen hatten, und somit einen Grund, beim König beziehungsweise seinen Beamten einen Umzug von Lütgendortmund nach hier zu beantragen. Denn …“ - Er schaute mich todernst an – „… ohne begründeten Antrag kannst du hier nicht einmal mehr aufs Klo gehen!“
Ich zählte meinerseits auch eins und eins zusammen.
„Ihr lebt also nicht mehr im unmittelbaren Dunstkreis des Königs, aber ihr seid …“
„… registriert!“ führte Erik meinen Satz zu Ende. „Richtig. Registriert. Du lernst schnell! Der König hat überall Augen, und auf dem Weg hierher haben wir nach den Augen Ausschau gehalten.“
Er stützte seine Arme auf den Tisch und beugte sich zischend zu mir rüber:
„Wir haben unser Leben und das unserer Familien für dich riskiert, du Arschloch! Und du bedrohst uns mit einem Messer, das dir nicht einmal gehört! Unter normalen Umständen wäre ich mit dir fertig! Aber ich sehe, dass du viel zu blöd bist für die Welt, in der wir leben müssen. Darum bin ich nachsichtig.“
Ich sackte auf meinem Stuhl in mich zusammen. Das war einfach zu viel. Ich machte mit meinen Händen ein T-Zeichen, dann zeigte ich
dem Wirt vier Finger
„Weißt du was, Mister X?“ fauchte Erik. „Dein Bier kannst du dir sonst wo hingießen! Das hier ist nicht mal eben so vergeben und vergessen! Dario hat mehr verdient als dein beschissenes Taschentuch! Und überhaupt haben wir drei haben mehr verdient, als
du je wirst bezahlen können!“
Ehe ich etwas erwidern konnte, schaltete sich Dario ein:
„Nass steck´n, Enik. Ich nab das Messer nezog´n!“ Er versuchte, mich freundlich und um Entschuldigung bittend und anzulächeln. Das klappte aber nicht, weil es zu weh tat.
„So, Ante, jetzt tauschen wir beiden ganz ruhig und brav die Plätze, und dann erzählt ihr mir, was hier eigentlich los ist!“
Als Ante mit dem Rücken zur Theke saß, schob ich Darios Messer in meinem linken Stiefel und setze mich ebenfalls hin. Der Wirt bekam einen Blick, der so etwas wie „Halt die Hufen still, alles in Ordnung!“ bedeutete, mit einem anderen Blick gab ich Ante zu verstehen, dass ich auf Erklärungen wartete.
Der nahm seine beschlagene Brille ab, tupfte sich mit der Serviette den Schweiß von der Stirn und stammelte:
„Ja, äh, du … hmh … möchtest ja nicht so gerne … äh … Fragen hören, sondern Antworten haben, nicht wahr?“
Weil ich ihn nur streng anschaute, stammelte er weiter.
„Also, ja … äh, wenn ich dir, wie soll ich … äh … sagen, wenigstens eine Frage stellen dürfte, hmh … ja … äh, und du, sagen wir, du wärst bereit, sie … äh … zu beantworten, das wäre für den Verlauf unseres … Gesprächs sehr hilfreich.“
Erik nickte zustimmend, Dario tropfend. So als wüssten sie, wo der Dicke drauf hinauswollte.
„O. k.“, sagte ich und hob beschwichtigend die Hände. „Tut mir leid, wenn ich gerade ein bisschen überreagiert habe.“ Ich wandte mich an Dario: „Und das mit der Nase tut mir auch leid. Die sah vorher schon Scheiße aus. Hier …“ Ich zog ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und reicht es ihm. „Und wenn ich euch verlasse, kriegst du auch dein Messer wieder.“
Dann schaute ich Ante an: „Stell deine Frage, aber hör´, wenn es eben geht, mit dem dämlichen Gestammel auf!“
Für meine Begriffe hatte ich damit mit allen Frieden geschlossen und besiegelte den Friedensschluss, indem ich dem Wirt vier Finger zeigte. Der tippte fragend auf ein leeres Bierglas, und ich nickte freundlich.
Die Kellnerin stellte scheu die Biere vor uns ab und verschwand so schnell sie konnte wieder hinter die Theke.
„Also“, setzte Ante an, „was weißt du über diese Gegend und unseren König?“
Das war eine Frage zu viel, aber ich sah es ihm nach und erzählte dem Trio alles, was ich über Ljubiša Petrovi? und sein Reich wusste. Danach herrschte am Tisch betretenes Schweigen.
Ante räusperte sich und sah besorgt drein.
„In den letzten Monaten“, meinte er, „hat sich hier einiges geändert. Wie frisch sind deine Informationen? Und wie lange dauert es gewöhnlich, bis die Informationen von hier in Mostar angekommen sind?“
In meinem Gesicht konnte er lesen, dass mir diese Fragen zu persönlich waren. Er fing erneut an zu schwitzen und schaute weg. Ich atmete tief durch, fest entschlossen, nicht erneut die Tisch- und Nasennummer abzuziehen und dachte über meine letzte Zeit in Mostar nach, auch wenn es weh tat.
„Wenn ich das so überschlage“, überlegte ich laut und kratzte mich am Hinterkopf, „dann habe ich das letzte über Petrovi? im Mai gehört. Und es kann schon sein, dass es einen Monat dauert, bis etwas von hier bis nach Mostar durchsickert. Nun ja, wir haben jetzt Ende Juli. Recht frische Informationen also, nicht wahr?“ Ich schaute ihn fragend an.
Ante nickte wissend.
„Dann kannst das alles ja gar nicht wissen.“
„Was?“ fragte ich.
„Das können dir Dario oder Erik viel besser erzählen als ich. Die beiden haben bis vor kurzem in Lütgendortmund gewohnt. Ich wohne seit jeher in Eving und war dummerweise nur zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Er nickte den beiden auffordernd zu.
„Noll Enik mach´n!“ nuschelte Dario, der nur durch den Mund atmen konnte.
Erik reckte sich. Sein Gesicht fing an aufzuleben und seine matten Augen kriegten ein Blitzen, als wäre er ganz in seinem Element.
„Erik war in seinem letzten Leben Dozent für Politikwissenschaften, musst du wissen, und für Deutsche Literatur“, schob Ante noch schnell ein, bevor der verwandelte Lulatsch loslegte.
„Hör zu, brate!“ fing Erik an: „Ljubiša Petrovi?´ Hofstaat wurde, und das ist amtlich, ab Januar dieses Jahres vom LKA unterwandert. Das LKA, falls du es nicht weißt, ist so eine Art Geheimpolizei des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Spitzel erfuhren aber keine wichtigen Sachen, nichts, was den König hätte hinter Gitter bringen können …“
Erik war bestimmt mal ein guter Dozent gewesen. Er suchte immer wieder meine Augen und redete mit sonorer Stimme und einer Lebendigkeit, die mich packte. Das Faszinierendste aber war, dass sein überkandideltes und völlig überzogen korrektes Hochdeutsch gespickt war mit Kraftausdrücken. Letztere verstand ich sofort und von seinen grammatikalischen Kopfgeburten zumindest das Wichtigste. Ich hing förmlich ihm an den Lippen.
„… dummerweise probte zeitgleich sein Volk in einigen Stadtteilen den Aufstand. Die Gastronomen und Händler in Hörde, Kirchhörde, Schanze und Aplerbeck zeigten ihm den Arsch und teilten ihm schriftlich mit, dass sie zukünftig keine ‚Verwaltungspauschale‘ mehr abführen würden. Sie hätten genug Fotos, Schriftstücke und Telefonmitschnitte gesammelt und diese bei einem Gewährsmann hinterlegt. Wenn er sie nicht in Ruhe ließe und wenn nur einem von ihnen ein Haar gekrümmt würde oder wenn zufällig ein Lokal in Flammen aufginge, würde das Material umgehend der Polizei zugespielt. Von der Unterwanderung durch das LKA wussten sie nichts, und sie erwischten den König mit ihrem Schreiben echt auf dem falschen Fuß. Das war so, als hätten sie es mit einem angeschossenen Keiler zu tun gekriegt…“
„Moment mal!“ Ich beugte mich vor und hakte ein: „Hat der König gemerkt, dass er es mit Ratten zu tun hatte? Haben die Schnüffler das Ding gegen die Wand gefahren?“
„Also, unser König, brate …“, Erik grinste mich schelmisch an, „… unser König hatte einen Spitzel beim LKA und wusste von Anfang an, was läuft. Da bist du platt, was?“
Ich lehnte mich zurück. Ja, platt war ich schon, aber ich fragte mich, was das jetzt mit mir und der Paranoia meiner Landsleute zu tun hatte. Erik schien meine Gedanken zu erraten.
„Seitdem sind wir alle ein bisschen balla-balla. Weil der König auch balla-balla ist. Und wenn du dich noch länger hier aufhältst, bist du‘s auch! Aber zurück zu Ljubiša Petrovic: Er plante noch während der verdeckten Ermittlungen eine Säuberung und schlug Ende letzten Monats gnadenlos zu. Durch seinen Spitzel wusste er, wer aus den eigenen Reihen mit den Bullen zusammenarbeitete und verpasse demjenigen Betonschuhe. Der ging dann in irgendeinem Gewässer hier in der Gegend baden und tauchte nie wieder auf. Und alle Jugos aus den oberen Führungsebenen, an deren Loyalität der König auch nur den geringsten Zweifel hatte, wurden – und jetzt halt dich fest! – DES LANDES VERWIESEN!!! Raus aus Westdeutschland! Zurück in die Heimat! Die anderen Könige in Deutschland haben Schwarze Listen erhalten mit der Bitte um Amtshilfe. Wenn sich einer der Geschassten erneut oder immer noch in Westdeutschland aufhält und das Ljubiša gesteckt wird, dann geht der auch baden!
Nun zum LKA: Während die Schnüffler, übrigens alles Männer mit jugoslawischen Wurzeln und einer einwandfreien Legende, ‚auf der Arbeit‘ waren, knöpften sich Ljubišas Leute deren Familien vor. Ebenfalls Ende April. An nur einem Tag wurden ihre Ehefrauen bedroht und sexuell gedemütigt. Ihre Kinder wurden nach der Schule von einem ‚Onkel‘ abgeholt, den sie noch nie gesehen hatten und in ihrem Leben auch nie wiedersehen möchten. Und in den nächsten drei Tagen wurden mehrere Tanten, Mütter oder Schwestern plötzlich von Autos angefahren und zum Teil schwer verletzt. Fahrerflucht, Täter nicht ermittelbar. Als das schwerfällige LKA merkte, woher der Wind pfiff, war es schon zu spät. Die vier oder fünf eingeschleusten Agenten meldeten sich nach und nach krank. Und das LKA musste die ganze Aktion noch Anfang Mai abblasen und einstampfen.“
Erik legte, ganz der Dozent, eine Pause ein, damit ich die neuen
Erkenntnisse verdauen und Fragen stellen konnte.
„Phhh!“ Ich machte dicke Backen. Eigentlich hatte ich nur eine Frage: Betraf diese ganze Scheiße auch mich?
Erik konnte offenbar Gedanken lesen.
„Ja, unbekannter brate, das betrifft auch dich! Aber ich lege Wert auf Chronologie. Was bedeutet, dass wir zu deiner beschissenen Zukunft in dieser verschissenen Gegend ganz zum Schluss kommen!“
Mein Dozent starrte grimmig an die Decke, schüttelte den Kopf und rümpfte die Nase. Ich und überhaupt mein ganzes Leben endete für ihn hier in einer Mülltonne!
„Nun zu den Gastwirten und Händlern: Ich verglich den König vorhin mit einem angeschossenen Keiler. Also: Weil diese Leute blöd genug waren und andeuteten, dass das kompromittierende Material bei einem Gewährsmann hinterlegt worden sei, war es nur eine Frage von Tagen, bis Ljubiša Petrovic einen den Jugos nahestehenden Rechtsanwalt am Kanthaken hatte. Und wenn ich ‚Kanthaken‘ sage, dann meine ich einen richtig großen und ekeligen, rostigen Haken! Ljubišas Getreue haben aus dem armen Kerl alle Informationen herausgeprügelt einschließlich seiner Safe-Kombination und ihn dann an besagtem Haken ausbluten lassen. Und zwar recht professionell, ohne Spuren zu hinterlassen. Hätte die Sache nicht einen Haken gehabt, wäre die Polizei von einem Selbstmord ausgegangen. Und am Abend desselben Tages waren die chirurgischen Notaufnahmen in Hörde, Kirchhörde, Aplerbeck und Schanze mit Jugos und Griechen überlaufen, die offene Frakturen an beiden Unterarmen versorgen lassen mussten. Warum auch immer waren alle beim Fahrradfahren über den Lenker geflogen. Zwei bis drei Wochen Klinikaufenthalt mit dem üblichen Verdienstausfall war nur ein Teil der entstandenen Kosten. Denn neben der normalen ‚Verwaltungspauschale‘, die ab jetzt wieder brav gezahlt oder gnadenlos bei der Ehefrau eingetrieben wurde, kamen noch ‚Kosten für sonstigen Verwaltungsaufwand‘ hinzu. Die Geschäftsleute mussten für den Job bezahlen, der sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Bei Zahlungsunfähigkeit gewährte der König Kredite mit horrenden Zinsen und Zinseszins. Die Dortmunder Polizei steht heute noch Kopf und kopflos da, weil die Betroffenen schweigen wie ein Massengrab. Und das LKA …, vergiss es einfach!“
Erik machte wieder eine Pause, weil er sah, dass ich sie brauchte. Er schaute mich geradewegs und kopfschüttelnd an, während ich ungläubig ins Leere starrte. Wo war ich bloß gelandet? Gab es Ljubiša Petrovic auch in Selm? Mir fiel auf, dass Ante und Dario mich die ganze Zeit über mitleidig angestarrt hatten.
„Und damit kommen wir zu uns, den kleinen Leuten und auch zu dir, brate.“
Konnte es noch schlimmer kommen?
„Oh ja, es kommt noch schlimmer! Hallo?!“ Erik rüttelte an meinem Arm. „Hör mir genau zu, denn jetzt geht es um deinen muskulösen Arsch!“
„Nur eine Frage noch“, warf ich müde ein. „Woher weißt du das alles?“
„Dario und ich können ein Lied davon singen, weil wir bis Anfang des Monats in Lütgendortmund gewohnt haben. Dort, wo alle Angestellten wohnen müssen. Wir waren keine Angestellten, ganz bestimmt nicht! Wir hatten dort schon gelebt, ehe Ljubiša sich zum König krönte. Aber weil die Angestellten dort wohnen mussten, auch die angestellten Spitzel, habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie sowohl eine 80-jährige als auch eine schwangere 20-jährige über die Kühlerhaube eines Fahrzeugs ohne Kennzeichen flogen. Und ich habe abends Kinder mit Schulranzen verstört schreiend und heulend die Straße entlanglaufen sehen, nach denen die Eltern stundenlang vergeblich schreiend und heulend gesucht hatten. Dario hat noch ganz andere Dinge gesehen und redet seitdem nur noch, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Es war für uns kein Problem, eins und eins zusammen zu zählen, und wenn dann noch nach und nach etwas aus der Zentrale der serbischen Schabe herausdringt … Dario und ich waren jedenfalls froh, dass wir in Eving Großmütter, alte Mütterchen hatten, und somit einen Grund, beim König beziehungsweise seinen Beamten einen Umzug von Lütgendortmund nach hier zu beantragen. Denn …“ - Er schaute mich todernst an – „… ohne begründeten Antrag kannst du hier nicht einmal mehr aufs Klo gehen!“
Ich zählte meinerseits auch eins und eins zusammen.
„Ihr lebt also nicht mehr im unmittelbaren Dunstkreis des Königs, aber ihr seid …“
„… registriert!“ führte Erik meinen Satz zu Ende. „Richtig. Registriert. Du lernst schnell! Der König hat überall Augen, und auf dem Weg hierher haben wir nach den Augen Ausschau gehalten.“
Er stützte seine Arme auf den Tisch und beugte sich zischend zu mir rüber:
„Wir haben unser Leben und das unserer Familien für dich riskiert, du Arschloch! Und du bedrohst uns mit einem Messer, das dir nicht einmal gehört! Unter normalen Umständen wäre ich mit dir fertig! Aber ich sehe, dass du viel zu blöd bist für die Welt, in der wir leben müssen. Darum bin ich nachsichtig.“
Ich sackte auf meinem Stuhl in mich zusammen. Das war einfach zu viel. Ich machte mit meinen Händen ein T-Zeichen, dann zeigte ich
dem Wirt vier Finger
„Weißt du was, Mister X?“ fauchte Erik. „Dein Bier kannst du dir sonst wo hingießen! Das hier ist nicht mal eben so vergeben und vergessen! Dario hat mehr verdient als dein beschissenes Taschentuch! Und überhaupt haben wir drei haben mehr verdient, als
du je wirst bezahlen können!“
Ehe ich etwas erwidern konnte, schaltete sich Dario ein:
„Nass steck´n, Enik. Ich nab das Messer nezog´n!“ Er versuchte, mich freundlich und um Entschuldigung bittend und anzulächeln. Das klappte aber nicht, weil es zu weh tat.