Ante vergrub sein Gesicht in den Händen und murmelte:
„Es ist gut, Erik. Er hatte Informationen vom März. Und im März war hier noch eitel Sonnenschein.“
Er nahm die Hände vom Gesicht, richtete sich auf und schaute mich traurig an.
„Weißt du, wo wir heute von 11:00 Uhr an waren?“
Ich schüttelte langsam meinen Kopf.
„Wir waren in Lütgendortmund“, fuhr er schleppend und tonlos fort, „weil wir heute mit Autoputzen dran waren, … die Autos des Königs. Von innen und außen. Alle 14 Tage samstags, normalerweise von 11:00 bis 13:00 Uhr. Wir mussten wie üblich jeder einen weißen Mercedes 600 reinigen. Aber heute sind Erik und ich bei der Qualitätskontrolle durchgefallen. Unsere Autos waren den Beamten nicht sauber genug. Also haben sie Dreck auf die Autos gekippt und Aschenbecher in den Wagen ausgeleert. „Sind noch dreckig!“ hat es geheißen. „Macht das gefälligst gründlich!“ Heute gab es nur Dreck, meistens gibt es Prügel. Was denkst du, woher Dario seine krumme Nase hat? Wir waren heute erst um 15:00 Uhr fertig, und das auch nur, weil Dario uns geholfen hat.“
„Genau!“ fauchte Erik dazwischen, der sich kein bisschen beruhigt hatte. „Und ich bin heute früh um 9:00 Uhr noch über den Wochenmarkt gehetzt, um vorher etwas für meine Familie einzukaufen. Meine Frau ist krank und muss unser viertes Kind stillen! Zweimal wurde ich von Typen, die ich nicht kenne, angehalten und auf Serbisch gefragt, was ich auf dem Markt noch zu suchen hätte. Ich sollte mal lieber zusehen, dass ich um elf Uhr in der Zentrale bin!“
Ante berührte Erik am Arm, damit er Ruhe gab.
„Seit der Säuberung und dem Aufstand der Wirte und Krämer ist die serbische Schabe der Meinung, dass sein Volk zu viel Tagesfreizeit hat und deswegen auf krumme Gedanken kommt. Er hat am ersten Juni angefangen, alle Jugos zu registrieren. Im Grunde ist er damit durch, und vielleicht bist du der Einzige im Großraum Dortmund, den er noch nicht kennt. Vielleicht. Wenn uns auf dem Weg hierher keiner beobachtet hat. Also tu dir selbst einen Gefallen und fahre dorthin zurück, wo du hergekommen bist. Dort ist es allemal besser als hier.“
Ante hatte wohl einen Vogel! Ich wollte und konnte nicht nach Mostar zurück! Und ich hatte nicht den weiten Weg auf mich genommen, um mir hier von irgendeinem Kakerlakenkönig auf den Kopf kacken zu lassen!
„Und was ist, wenn ich hierbleiben will?“
Das Trio starrte mich entgeistert an.
„Dann …“, sagte Erik lachend, der sich als erster gefangen hatte, „… dann putzen wir nächste Woche zu viert die Autos! Aber sag mal …“, sprach er ernst weiter, „… tust du nur so, da bist du wirklich so…“
„Ich bin genauso, wie ich tue!“ unterbrach ich ihn barsch und richtete mich auf meinem Stuhl wieder zu voller Größe auf. „Ich bin nicht balla-balla und werde es auch nie werden! Eher hau ich mir eine Axt ins Bein! Und überhaupt kann es hier nicht so schlimm sein, wie ihr tut! Ihr sitzt hier in einem öffentlichen Lokal und redet ohne Angst über die Schabe und euer beschissenes Leben unter der serbischen Schabe. Ich dachte, die Wände haben hier Ohren!“
Dario stupste mich an und pochte mit dem Zeigefinger auf die gebrauchte Servierte, die neben mir lag. Ich verstand nicht.
„Siehst du nicht, worauf er tippt?“ fragte Ante.
Dario tippte immer wieder auf die italienische Flagge über dem Schriftzug der Pizzeria. Ich verstand immer noch nicht.
Erik lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du bist noch viel blöder als ich dachte!“ knurrte er verächtlich und klärte mich dann mit deutlichen und gedehnten Worten auf:
„Dies ist italienischer, besser gesagt sizilianischer Boden! Hier hat ein Serbe wenig und eine Schabe überhaupt nichts zu melden. Wir sind quasi außer Landes! Capito?“
„Ich erkläre es einmal anders“, meinte Ante. „Mit der Mafia will sich Ljubiša Petrovic nicht anlegen. Darum hat er hier keine Augen und keine Ohren. Willst du als Jugo und unter Jugos frei reden, dann gehst du in eine Pizzeria oder Gelateria.“ Er hob den Zeigefinger. „Du darfst dich bloß sich dabei erwischen lassen! Das sind die kleinen Freiheiten, die wir haben. Aber registriert sind wir trotzdem. Und es wird überhaupt nicht gerne gesehen, wenn wir statt Cevapcici Pizza essen gehen. Apropos ,gehen‘ …“ Ante trank sein Bier aus. „Wir gehen gleich, und zwar getrennt. Wir geben dir jetzt noch ein paar Informationen über den König und seine Truppe mit auf den Weg, weil du unser Landsmann bist. Und dann hoffen wir, dich nie wieder zu sehen, weil du vielleicht klug genug bist, Deutschland zu verlassen. Du kannst das noch. Wir müssen hier versauern!“
*
Ernüchtert saß ich im Regionalbus zurück nach Selm. Ich hatte mir die heimatlichen Gespräche und so weiter etwas anders vorgestellt. Im Geiste ging ich durch, was Ante und Erik noch von der Schabe und ihren Schergen zum Besten gegeben hatten. Was die beiden erzählten, dauerte übrigens ein weiteres Bier, das die drei irgendwie versöhnt dann doch von mir annahmen.
Der König liebte schwarze Anzüge, Zweireiher, mit schmaler schwarzer Krawatte und blütenweißem Hemd. Er war ein schmächtiges Kerlchen von etwa Einsfünfundsechzig, das sein langes blauschwarzes Haar streng nach hinten gebunden trug. Ohne diesen Schopf konnte er auch als Bestatter durchgehen. Wie passend! Aber im Grunde nebensächlich. Nicht nebensächlich war, dass er gelegentlich anonyme Bestattungen vornehmen ließ. Jugoslawische Malocher, die nach der Nachtschicht nicht schlafen konnten, weil die Brut der Nachbarn draußen lärmte, rissen die Fenster auf und brüllten raus: „Wenn ihr nicht augenblicklich still seid, holt euch der Ljubsiša!“ Die Kleinen rannten dann heulend zur Mama. Ein Kinderschreck, der Betonschuhe anpasst! Einfach eklig!
In der Masse konnte man Ljubiša Petrovic mangels physischer Größe nicht erkennen. Man konnte ihn aber an seiner Elite ausmachen, an den serbischen Schränken mit der Glatze: Zweimaleinmeter, kahlgeschoren und in schwarze Anzüge eingenäht. Da sie sich zum Verwechseln ähnlich sahen, hatte die Schabe ihnen ihre Namen im Nacken eintätowiert. I, II und III. Sehr einfallsreich! Sie begleiteten den König auf Schritt und Tritt, hielten ihm den Rücken frei und fingen, wenn es sein musste auch Kugeln ab. Dafür verdienten sie gut und hatten als obere Führungsebene im Schabenreich quasi Narrenfreiheit.
Jeder, der zwei Beine und einen Schwanz hatte und zum König wollte, musste an ihnen vorbei. Wollten oder sollten menschliche Wesen ohne Schwanz zum König, wurden sie von den Schränken nicht nur auf Waffen, sondern auch auf Geschlechtskrankheiten gecheckt. Und was die Schränke sonst noch taten, wollte laut Ante niemand wissen. Zu ihrer sonstigen Arbeit nur so viel: Wenn sie irgendwo im weißen Pullmann vorfuhren, bekreuzigten sich die Großmütterchen.
Die mittlere Führungsebene wurde quasi komplett nach Jugoslawien zurückgejagt. Blieb nur das Fußvolk: Ein Trupp ehemaliger Bullen, Söldner und ähnlichem Pack, der den König nie zu Gesicht bekamen. Sie erhielten ihre Aufträge ausschließlich von den Glatzen, und ihr Job war es, Ljubišas Volk auszuspionieren und jugoslawische Geschäftsleute vor Brandstiftung, Vandalismus, Erpressungen und Schutzgeldforderungen zu „beschützen“. Die Informationen, die sie über die Jugos sammelten, wurden von den Schabenschränken geprüft, gefiltert, korrigiert und katalogisiert. Angeblich erfuhr Ljubiša nur, was wirklich von Belang war. Weil den König aber chronisches Misstrauen zersetzte, ließ er auch das archivieren, was die Glatzen schon aussortiert hatten.
Ich hatte ins Klo gegriffen und war auf lauter gequirlte Scheiße gestoßen. Noch während der Fahrt fasste ich einen Entschluss: Die Schabe würde mich nie als Jugo zu Gesicht bekommen!
*
Abends zurück in Selm schleppte ich mich zum Hof. Karl saß auf der Veranda und soff Bier.
„Großer Gott, siehst du schlecht aus!“ grölte er mir entgegen. Als ich näherkam, fragte er lallend:
„Sag mal, wie heißt du eigentlich und wo kommst du her?“
Ich schaute ihn müde an und murmelte:
„Ich heiße Falko, signore, und ich komme aus Italien.“
Er überlegte kurz und bellte dann:
„Italien? Und woher kannst du dann so gut Deutsch?“
„Weil ich aus Tirol bin.“
*
Es war kurz nach 22 Uhr an einem gepflegten Tisch in der hintersten Ecke eines neu eröffneten Balkanrestaurants. Wir zockten, was Karten und Geldbeutel hergaben. Wir, das waren zwei Deutsche, ein Mazedonier, zwei Slowenen, ein Kroate und ich, ein bosnischer Kroate.
Ich saß mit dem Rücken zur Tür, was nicht gut ist. Das Spiel lief für mich allerdings von Anfang an nicht schlecht, und das ungute Gefühl, das mich vor der Tür noch gequält hatte, war längst vergessen, als plötzlich wer hinter mir krähte:
„????? ??!“ (Serbisch: „Ich spiele mit!“)
Ich drehte mich um und erkannte ihn sofort: der blaublütige Schädling in Begleitung seiner Glatzen. „Die Runde ist voll. Der kann nicht mitspielen!“ dachte ich. Die beiden Slowenen schauten sich kurz an. Sie dachten weiter und räumten wortlos das Feld. Sie boten dem König huldvoll ihre Plätze an, und ein Schelm, der hier an Böses denkt … Die zwei wussten einfach nur, was sie an diesem Tisch erwarten würde und zogen sich geschickt aus der Affäre, ohne den König zu verärgern. In einer kleineren Runde wäre ihnen nichts anderes übriggeblieben als brav sitzen zu bleiben und mit dem König zu spielen. So wie der Mazedonier und der Kroaten, die nicht pfiffig genug waren. Ich war sowieso am Arsch, weil ich gerade das Buch hatte und dachte nur: „So´n Scheiß!‘
Während ich mit meinem Schicksal haderte, wandte Ljubiša sich an die erstaunten Deutschen:
„Dies ist serbischer Boden, und ich spiele jetzt mit. Wenn ihr damit ein Problem habt, dann verzieht euch!“
Die Deutschen waren muskelbepackte tumbe Malocher und kannten unseren König nicht, sonst hätten sie sein Angebot dankend angenommen. Stattdessen beobachteten sie den Serben neugierig, wie er da vor dem Tisch stand und warfen sich belustigte und skeptische Blicke zu. Die hatten wirklich keinen blassen Schimmer! Im Hintergrund hörte man eilige Schritte und das Zuschlagen der Tür. Die beiden Slowenen.
Ljubiša nahm mir gegenüber mit königlicher Eleganz Platz. Einer der Schränke schob ihm so hochachtungsvoll den Stuhl zurecht, dass den Deutschen das Grinsen verging. Sie rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her und schauten mich verstohlen an. Ich mimte unbekümmert den Talkmaster:
„Der Grundeinsatz beträgt …“
„?????? ? ?????!“ (Serbisch: „Halt die Klappe und misch!“) unterbrach er mich böse.
„Er weiß, dass ich ein Jugo bin!“ dachte ich und wurde fahrig. Woher? Hatte der sowas wie einen sechsten Sinn? Die Mühen der letzten Jahre … alles für die Katz! Hätte ich mich zu Anfang, in sowas wie einer Testphase bloß mal vor einem Jugo als Italiener ausgegeben! War mein Leben schon in einem serbischen Aktenordner abgelegt, und war der einzige, der davon nichts wusste? Nein, das war unmöglich!
Ich gab mir drei Tage, bis die Schergen des Serben alles über mich wussten! Wer ich war, woher ich kam, wer zu meiner Familie gehörte … einfach alles! Warum hatte ich nicht auf meine innere Stimme gehört, die rief und schrie und brüllte: „Geh da nicht rein!“
Ich unterdrückte einen Seufzer.
Ljubsiša schaute in die Runde, streifte die Malocher mit einem verächtlichen Blick und knurrte auf Deutsch:
„Fangen wir an!“
Gewöhnlich sprach der blaublütige Schädling nur Serbisch, obwohl er wie alle Jugos die meisten jugoslawischen Sprachen beherrschte. Und er erwartete, dass jeder Jugo ihm auf Serbisch antwortete. Selbst eine Antwort auf Kroatisch empfand die Landplage als Affront (Kroatisch und Serbisch sind im Laut nahezu identisch).
„???? ?? ??????“ (Serbisch: „Wie heißt du?“)
Er kannte mich also nicht. Noch nicht. Ich entspannte mich, weil nun sowieso alles egal war und schaute ihm in die wässrigen Augen:
„Das tut nichts zur Sache. Wenn du einen Namen brauchst, dann nenn' mich Walter.“ antwortete ich auf Deutsch.
Das Gesicht der Schabe zog sich sauer zusammen. Angewidert wandte er sich an einen der Schränke hinter sich, der sofort den Kopf zu ihm neigte. Er flüsterte seinem Lakaien etwas zu und zeigte unverhohlen mit dem Finger auf mich. Der Schrank tuschelte zurück, und ich wolle gar nicht wissen, was die beiden besprachen. Ich wusste nur eins: „Wenn ich in dieser Nacht heile nach Hause komme, dann packe ich meine Sachen!“.
Den Deutschen wurde es zu bunt.
„Was soll denn der Scheiß?“ schimpfte einer von ihnen. „Dreht euren Film doch alleine!“ Dann standen beide auf, nahmen ihre Jacken und zogen ab. Der König strafte sie mit Nichtbeachtung.
„?????, ???? ??? ???? ?????. ?? ????? ??????? ?? ????, ‚??????‘!“ (Serbisch: „So, jetzt sind wir unter uns. Fang endlich an zu mischen, 'Walter'!“ ) Er spie das „Walter“ regelrecht aus.
Ich gab mein Bestes, und dieser Zock sollte Geschichte schreiben.
„Es ist gut, Erik. Er hatte Informationen vom März. Und im März war hier noch eitel Sonnenschein.“
Er nahm die Hände vom Gesicht, richtete sich auf und schaute mich traurig an.
„Weißt du, wo wir heute von 11:00 Uhr an waren?“
Ich schüttelte langsam meinen Kopf.
„Wir waren in Lütgendortmund“, fuhr er schleppend und tonlos fort, „weil wir heute mit Autoputzen dran waren, … die Autos des Königs. Von innen und außen. Alle 14 Tage samstags, normalerweise von 11:00 bis 13:00 Uhr. Wir mussten wie üblich jeder einen weißen Mercedes 600 reinigen. Aber heute sind Erik und ich bei der Qualitätskontrolle durchgefallen. Unsere Autos waren den Beamten nicht sauber genug. Also haben sie Dreck auf die Autos gekippt und Aschenbecher in den Wagen ausgeleert. „Sind noch dreckig!“ hat es geheißen. „Macht das gefälligst gründlich!“ Heute gab es nur Dreck, meistens gibt es Prügel. Was denkst du, woher Dario seine krumme Nase hat? Wir waren heute erst um 15:00 Uhr fertig, und das auch nur, weil Dario uns geholfen hat.“
„Genau!“ fauchte Erik dazwischen, der sich kein bisschen beruhigt hatte. „Und ich bin heute früh um 9:00 Uhr noch über den Wochenmarkt gehetzt, um vorher etwas für meine Familie einzukaufen. Meine Frau ist krank und muss unser viertes Kind stillen! Zweimal wurde ich von Typen, die ich nicht kenne, angehalten und auf Serbisch gefragt, was ich auf dem Markt noch zu suchen hätte. Ich sollte mal lieber zusehen, dass ich um elf Uhr in der Zentrale bin!“
Ante berührte Erik am Arm, damit er Ruhe gab.
„Seit der Säuberung und dem Aufstand der Wirte und Krämer ist die serbische Schabe der Meinung, dass sein Volk zu viel Tagesfreizeit hat und deswegen auf krumme Gedanken kommt. Er hat am ersten Juni angefangen, alle Jugos zu registrieren. Im Grunde ist er damit durch, und vielleicht bist du der Einzige im Großraum Dortmund, den er noch nicht kennt. Vielleicht. Wenn uns auf dem Weg hierher keiner beobachtet hat. Also tu dir selbst einen Gefallen und fahre dorthin zurück, wo du hergekommen bist. Dort ist es allemal besser als hier.“
Ante hatte wohl einen Vogel! Ich wollte und konnte nicht nach Mostar zurück! Und ich hatte nicht den weiten Weg auf mich genommen, um mir hier von irgendeinem Kakerlakenkönig auf den Kopf kacken zu lassen!
„Und was ist, wenn ich hierbleiben will?“
Das Trio starrte mich entgeistert an.
„Dann …“, sagte Erik lachend, der sich als erster gefangen hatte, „… dann putzen wir nächste Woche zu viert die Autos! Aber sag mal …“, sprach er ernst weiter, „… tust du nur so, da bist du wirklich so…“
„Ich bin genauso, wie ich tue!“ unterbrach ich ihn barsch und richtete mich auf meinem Stuhl wieder zu voller Größe auf. „Ich bin nicht balla-balla und werde es auch nie werden! Eher hau ich mir eine Axt ins Bein! Und überhaupt kann es hier nicht so schlimm sein, wie ihr tut! Ihr sitzt hier in einem öffentlichen Lokal und redet ohne Angst über die Schabe und euer beschissenes Leben unter der serbischen Schabe. Ich dachte, die Wände haben hier Ohren!“
Dario stupste mich an und pochte mit dem Zeigefinger auf die gebrauchte Servierte, die neben mir lag. Ich verstand nicht.
„Siehst du nicht, worauf er tippt?“ fragte Ante.
Dario tippte immer wieder auf die italienische Flagge über dem Schriftzug der Pizzeria. Ich verstand immer noch nicht.
Erik lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du bist noch viel blöder als ich dachte!“ knurrte er verächtlich und klärte mich dann mit deutlichen und gedehnten Worten auf:
„Dies ist italienischer, besser gesagt sizilianischer Boden! Hier hat ein Serbe wenig und eine Schabe überhaupt nichts zu melden. Wir sind quasi außer Landes! Capito?“
„Ich erkläre es einmal anders“, meinte Ante. „Mit der Mafia will sich Ljubiša Petrovic nicht anlegen. Darum hat er hier keine Augen und keine Ohren. Willst du als Jugo und unter Jugos frei reden, dann gehst du in eine Pizzeria oder Gelateria.“ Er hob den Zeigefinger. „Du darfst dich bloß sich dabei erwischen lassen! Das sind die kleinen Freiheiten, die wir haben. Aber registriert sind wir trotzdem. Und es wird überhaupt nicht gerne gesehen, wenn wir statt Cevapcici Pizza essen gehen. Apropos ,gehen‘ …“ Ante trank sein Bier aus. „Wir gehen gleich, und zwar getrennt. Wir geben dir jetzt noch ein paar Informationen über den König und seine Truppe mit auf den Weg, weil du unser Landsmann bist. Und dann hoffen wir, dich nie wieder zu sehen, weil du vielleicht klug genug bist, Deutschland zu verlassen. Du kannst das noch. Wir müssen hier versauern!“
*
Ernüchtert saß ich im Regionalbus zurück nach Selm. Ich hatte mir die heimatlichen Gespräche und so weiter etwas anders vorgestellt. Im Geiste ging ich durch, was Ante und Erik noch von der Schabe und ihren Schergen zum Besten gegeben hatten. Was die beiden erzählten, dauerte übrigens ein weiteres Bier, das die drei irgendwie versöhnt dann doch von mir annahmen.
Der König liebte schwarze Anzüge, Zweireiher, mit schmaler schwarzer Krawatte und blütenweißem Hemd. Er war ein schmächtiges Kerlchen von etwa Einsfünfundsechzig, das sein langes blauschwarzes Haar streng nach hinten gebunden trug. Ohne diesen Schopf konnte er auch als Bestatter durchgehen. Wie passend! Aber im Grunde nebensächlich. Nicht nebensächlich war, dass er gelegentlich anonyme Bestattungen vornehmen ließ. Jugoslawische Malocher, die nach der Nachtschicht nicht schlafen konnten, weil die Brut der Nachbarn draußen lärmte, rissen die Fenster auf und brüllten raus: „Wenn ihr nicht augenblicklich still seid, holt euch der Ljubsiša!“ Die Kleinen rannten dann heulend zur Mama. Ein Kinderschreck, der Betonschuhe anpasst! Einfach eklig!
In der Masse konnte man Ljubiša Petrovic mangels physischer Größe nicht erkennen. Man konnte ihn aber an seiner Elite ausmachen, an den serbischen Schränken mit der Glatze: Zweimaleinmeter, kahlgeschoren und in schwarze Anzüge eingenäht. Da sie sich zum Verwechseln ähnlich sahen, hatte die Schabe ihnen ihre Namen im Nacken eintätowiert. I, II und III. Sehr einfallsreich! Sie begleiteten den König auf Schritt und Tritt, hielten ihm den Rücken frei und fingen, wenn es sein musste auch Kugeln ab. Dafür verdienten sie gut und hatten als obere Führungsebene im Schabenreich quasi Narrenfreiheit.
Jeder, der zwei Beine und einen Schwanz hatte und zum König wollte, musste an ihnen vorbei. Wollten oder sollten menschliche Wesen ohne Schwanz zum König, wurden sie von den Schränken nicht nur auf Waffen, sondern auch auf Geschlechtskrankheiten gecheckt. Und was die Schränke sonst noch taten, wollte laut Ante niemand wissen. Zu ihrer sonstigen Arbeit nur so viel: Wenn sie irgendwo im weißen Pullmann vorfuhren, bekreuzigten sich die Großmütterchen.
Die mittlere Führungsebene wurde quasi komplett nach Jugoslawien zurückgejagt. Blieb nur das Fußvolk: Ein Trupp ehemaliger Bullen, Söldner und ähnlichem Pack, der den König nie zu Gesicht bekamen. Sie erhielten ihre Aufträge ausschließlich von den Glatzen, und ihr Job war es, Ljubišas Volk auszuspionieren und jugoslawische Geschäftsleute vor Brandstiftung, Vandalismus, Erpressungen und Schutzgeldforderungen zu „beschützen“. Die Informationen, die sie über die Jugos sammelten, wurden von den Schabenschränken geprüft, gefiltert, korrigiert und katalogisiert. Angeblich erfuhr Ljubiša nur, was wirklich von Belang war. Weil den König aber chronisches Misstrauen zersetzte, ließ er auch das archivieren, was die Glatzen schon aussortiert hatten.
Ich hatte ins Klo gegriffen und war auf lauter gequirlte Scheiße gestoßen. Noch während der Fahrt fasste ich einen Entschluss: Die Schabe würde mich nie als Jugo zu Gesicht bekommen!
*
Abends zurück in Selm schleppte ich mich zum Hof. Karl saß auf der Veranda und soff Bier.
„Großer Gott, siehst du schlecht aus!“ grölte er mir entgegen. Als ich näherkam, fragte er lallend:
„Sag mal, wie heißt du eigentlich und wo kommst du her?“
Ich schaute ihn müde an und murmelte:
„Ich heiße Falko, signore, und ich komme aus Italien.“
Er überlegte kurz und bellte dann:
„Italien? Und woher kannst du dann so gut Deutsch?“
„Weil ich aus Tirol bin.“
*
Es war kurz nach 22 Uhr an einem gepflegten Tisch in der hintersten Ecke eines neu eröffneten Balkanrestaurants. Wir zockten, was Karten und Geldbeutel hergaben. Wir, das waren zwei Deutsche, ein Mazedonier, zwei Slowenen, ein Kroate und ich, ein bosnischer Kroate.
Ich saß mit dem Rücken zur Tür, was nicht gut ist. Das Spiel lief für mich allerdings von Anfang an nicht schlecht, und das ungute Gefühl, das mich vor der Tür noch gequält hatte, war längst vergessen, als plötzlich wer hinter mir krähte:
„????? ??!“ (Serbisch: „Ich spiele mit!“)
Ich drehte mich um und erkannte ihn sofort: der blaublütige Schädling in Begleitung seiner Glatzen. „Die Runde ist voll. Der kann nicht mitspielen!“ dachte ich. Die beiden Slowenen schauten sich kurz an. Sie dachten weiter und räumten wortlos das Feld. Sie boten dem König huldvoll ihre Plätze an, und ein Schelm, der hier an Böses denkt … Die zwei wussten einfach nur, was sie an diesem Tisch erwarten würde und zogen sich geschickt aus der Affäre, ohne den König zu verärgern. In einer kleineren Runde wäre ihnen nichts anderes übriggeblieben als brav sitzen zu bleiben und mit dem König zu spielen. So wie der Mazedonier und der Kroaten, die nicht pfiffig genug waren. Ich war sowieso am Arsch, weil ich gerade das Buch hatte und dachte nur: „So´n Scheiß!‘
Während ich mit meinem Schicksal haderte, wandte Ljubiša sich an die erstaunten Deutschen:
„Dies ist serbischer Boden, und ich spiele jetzt mit. Wenn ihr damit ein Problem habt, dann verzieht euch!“
Die Deutschen waren muskelbepackte tumbe Malocher und kannten unseren König nicht, sonst hätten sie sein Angebot dankend angenommen. Stattdessen beobachteten sie den Serben neugierig, wie er da vor dem Tisch stand und warfen sich belustigte und skeptische Blicke zu. Die hatten wirklich keinen blassen Schimmer! Im Hintergrund hörte man eilige Schritte und das Zuschlagen der Tür. Die beiden Slowenen.
Ljubiša nahm mir gegenüber mit königlicher Eleganz Platz. Einer der Schränke schob ihm so hochachtungsvoll den Stuhl zurecht, dass den Deutschen das Grinsen verging. Sie rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her und schauten mich verstohlen an. Ich mimte unbekümmert den Talkmaster:
„Der Grundeinsatz beträgt …“
„?????? ? ?????!“ (Serbisch: „Halt die Klappe und misch!“) unterbrach er mich böse.
„Er weiß, dass ich ein Jugo bin!“ dachte ich und wurde fahrig. Woher? Hatte der sowas wie einen sechsten Sinn? Die Mühen der letzten Jahre … alles für die Katz! Hätte ich mich zu Anfang, in sowas wie einer Testphase bloß mal vor einem Jugo als Italiener ausgegeben! War mein Leben schon in einem serbischen Aktenordner abgelegt, und war der einzige, der davon nichts wusste? Nein, das war unmöglich!
Ich gab mir drei Tage, bis die Schergen des Serben alles über mich wussten! Wer ich war, woher ich kam, wer zu meiner Familie gehörte … einfach alles! Warum hatte ich nicht auf meine innere Stimme gehört, die rief und schrie und brüllte: „Geh da nicht rein!“
Ich unterdrückte einen Seufzer.
Ljubsiša schaute in die Runde, streifte die Malocher mit einem verächtlichen Blick und knurrte auf Deutsch:
„Fangen wir an!“
Gewöhnlich sprach der blaublütige Schädling nur Serbisch, obwohl er wie alle Jugos die meisten jugoslawischen Sprachen beherrschte. Und er erwartete, dass jeder Jugo ihm auf Serbisch antwortete. Selbst eine Antwort auf Kroatisch empfand die Landplage als Affront (Kroatisch und Serbisch sind im Laut nahezu identisch).
„???? ?? ??????“ (Serbisch: „Wie heißt du?“)
Er kannte mich also nicht. Noch nicht. Ich entspannte mich, weil nun sowieso alles egal war und schaute ihm in die wässrigen Augen:
„Das tut nichts zur Sache. Wenn du einen Namen brauchst, dann nenn' mich Walter.“ antwortete ich auf Deutsch.
Das Gesicht der Schabe zog sich sauer zusammen. Angewidert wandte er sich an einen der Schränke hinter sich, der sofort den Kopf zu ihm neigte. Er flüsterte seinem Lakaien etwas zu und zeigte unverhohlen mit dem Finger auf mich. Der Schrank tuschelte zurück, und ich wolle gar nicht wissen, was die beiden besprachen. Ich wusste nur eins: „Wenn ich in dieser Nacht heile nach Hause komme, dann packe ich meine Sachen!“.
Den Deutschen wurde es zu bunt.
„Was soll denn der Scheiß?“ schimpfte einer von ihnen. „Dreht euren Film doch alleine!“ Dann standen beide auf, nahmen ihre Jacken und zogen ab. Der König strafte sie mit Nichtbeachtung.
„?????, ???? ??? ???? ?????. ?? ????? ??????? ?? ????, ‚??????‘!“ (Serbisch: „So, jetzt sind wir unter uns. Fang endlich an zu mischen, 'Walter'!“ ) Er spie das „Walter“ regelrecht aus.
Ich gab mein Bestes, und dieser Zock sollte Geschichte schreiben.