Ich stand am Westfalendamm. Keine Sau scherte sich um mich, und ich hatte mich selten so einsam gefühlt. In meiner Hand der Zettel, den der serbische Kleiderschrank mir gegeben hatte. Darauf stand, dass ich mal eben 500 Mark in bar und 2153,40 Mark auf Pump verzockt hatte. Kurz und gut: Es war der Zehnte, und der Monat war für mich gelaufen. Auf kyrillisch las ich, was ich wann und wie zu zahlen hatte:
398,01 DM monatlich bis einschl. Dezember 1986
verschlossener Briefumschlag
erste Rate: 15. März
Raten ab April: 1. Werktag des Monats
Treffpunkt: Alina, 18.00 Uhr
Den Rest des Jahres konnte ich getrost auch knicken. Ich kannte ja die Regeln. Und Lui und die 100 Eier? Es war wohl besser, wenn der mich vorerst nicht zu Gesicht bekam. Die 100 Mark machten ihn nicht arm. Da brannte nichts an. Ich hatte nun genug Stress und brauchte nicht obendrein noch einen Shitstorm der Entrüstung. Lui, wir werden uns irgendwann wiedersehen und über all das hier herzlich lachen!
*
Ich hatte die erste Rate irgendwie zusammengekratzt und mich mit der Kohle nach „Alina“ aufgemacht, der Stammkneipe der Schabe. Vor der Tür traf ich auf einen, der auch einem Briefumschlag in der Hand hielt. „Tach, Kollega!“ dachte ich. Kollega hielt mir mitfühlend die Tür auf. Wir betraten still die schummerige und verqualmte Bar.
In „Alina“ verkehrten nur die verkehrten Jugos. Ganoven und solche, die es werden wollten, Speichellecker und andere Widerlinge, die dem König treu ergeben waren. Der Barkeeper schaute eine der Glatzen an und nickte zu uns rüber. Der Kahlkopf löste sich von der Theke und führte uns an einen Tisch abseits des Tresens. Wortlos überreichten wir unsere Umschläge, wortlos kontrollierte er deren Inhalte und wortlos zeigte sein Daumen zur Tür. Verpisst euch! Vor der Tür trennten wir uns wortlos.
*
Für Ljubiša und seine Glatzen war „Alina“ immer geöffnet, selbst am Ruhetag. Fiel der Erste des Monats auf einen Dienstag, dann musste man klopfen. Ein Jugo, der Ljubiša etwas schuldig war, wusste das. Dummerweise hatte ich den zweiten Termin zur Ratenzahlung sausen lassen. Weil ich Schulden nicht leiden konnte. Und Schabenschulden bildeten da keine Ausnahme. Und ich hätte mich nicht damit rausreden können, dass der Laden ja Ruhetag hatte.
Ich hatte den 10. März 1986 mit all seinen Folgen einfach aus meinem Gedächtnis gelöscht. So war ich ehrlich überrascht, als Ljubiša mich noch am selben Abend auf die ihm eigene Weise einbestellte: Die drei Kleiderschränke fingen mich ab, als ich abends gegen acht Uhr das Haus verließ. Wortlos und diskret. Einer zeigte mit dem Kopf zum Pullmann, einer öffnete die Tür, einer schob mich rein. Nach hinten natürlich, wo ich dann mit meinem Talent saß, eingeklemmt zwischen zwei Glatzen wie eine Bulette im Brötchen.
Unter normalen Umständen bildete ich mir auf meine Statur was ein, und wer mich kannte, legte sich nicht mit mir an. Die Serbenschergen kannten mich noch nicht wirklich, aber ich dachte nicht im Traum daran, sie aufzuklären.
Während der Fahrt zur Kommandozentrale der Schabe nach Lütgendortmund sprachen die drei kein Wort. Sie redeten eh so gut wie nie, weil sie fürs Arbeiten und nicht fürs Reden bezahlt wurden. Das Büro, besser gesagt der Thronsaal der serbischen Landplage befand sich in einer Penthouse, zehn Etagen über Normalnull. Raus aus dem Auto, rein in den Bau. Ehe ich mich versah, flog ich in den Fahrstuhl, der schon auf uns wartete und fuhr rauf ins Dachgeschoss. Oben angekommen ging es ebenso schnell wieder raus. Schrank Nummer 1 schritt voran, Nummer 2 und 3 beschränkten mich hinten. Die Schrankwand schob mich gnadenlos durch einen protzig dekorierten Korridor. Vorbei an Türen, die wie Spiegel glänzten, mit Knäufen aus blank poliertem Messing. Die Leuchter an der Wand verbreiteten ein dezentes, warmes Licht, Textiltapeten und ein dicker Teppichboden schluckten jeden Laut.
„Es gibt schlechtere Orte zum Abdanken!“ dachte ich, und „Ob die Türen wohl verschlossen sind?“
Ich drehte im Vorbeigehen spaßeshalber an einem der Griffe. Postwendend erhielt ich einen Tritt ins Kreuz, fiel lang aufs Maul und spürte eine Ledersohle und 120 kg Gewicht im Nacken.
„Schon gut, Kumpel! Immer geschmeidig bleiben!“ ächzte ich mit Velours im Mund. „Ich hab´ nur die Toilette gesucht.“
Der Druck ließ nach. Ich schaute nach vorn und blickte meiner ungewissen Zukunft entgegen: in Form der geöffneten Tür am Ende des Korridors.
Abgesehen von der Fahrstuhltür, die nicht wirklich zählte, war dies die einzige offene Tür. Der Stoßtrupp drängte mich dort durch und ich stand wider Willens in Ljubišas Thronsaal.
Eleganz und der Gestank von Geld ließen mir den Atem stocken. Im vorderen Teil des Saals standen edelste dunkle Büromöbel, die Fronten, wie auch anders, spiegelblank. An den Wänden moderne Kunst, die ich noch nie verstanden hatte. Hier eine überdimensionierte Palme, dort Skulpturen, eine Vitrine, TV, Stereoanlage und Ledersessel. Das übliche Gedöns, mit dem Kriminelle ihre Büros vollstopfen. Den hinteren Teil des Saals beherrschte ein riesiger Schreibtisch. Auf dem hellen Parkett lag ein langer, roter Teppich, und der rote Teppich lief geradewegs auf dieses altarförmige Gebilde zu.
Eine Stehlampe und ein kleiner Leuchter tauchten den Raum davor in schwaches Licht. Schemenhaft erkannte ich, dass Ljubiša Petrovi? dort in einem monströsen Chefsessel thronte. Es war wie gesagt ein Schreibtischstuhl und kein Thron, und der serbische Schädling verschwand fast hinter seinem Schreibtisch. Ein Kindersitzkissen wie beim Frisör fehlte. Sah witzig aus, nur war mir nicht zum Lachen zumute.
Ich dachte an Schicksalsspiel mit dem König. Bei seinem Alles-oder-nichts-Angebot stoppte ich den Film und blieb ich wie angewurzelt vor der Teppichkante stehen. Warum hatte ich mich eigentlich auf diesen Wahnsinn eingelassen? Es war nicht die Angst vor Schlägen und Schmerzen. Es war vielmehr eine Frage der Ehre. Ich wollte gewinnen, selbst wenn ich hinterher alles verlor. Ich wollte als Kakerlakenkastrierer, Schabenschröpfer und Bestatter des Bestatters in die Annalen eingehen. Dann hätte ich mit einem Brillenhämatom, einer Rippenserienfraktur und einohrig noch stolz in den Spiegel blicken können, bevor ich den Löffel abgab. Igor der Schabenschlächter sollte man mich nennen und dies für die Nachwelt festhalten. Ein edles Motiv und keineswegs verwerflich, Igor! Ach, und dass ich mutwillig serbischen Boden betreten hatte? Shit happens. Spiegel, wo bist du?
Die Schrankwand gab mir einen derben Schubs und ihren ersten Laut von sich:
"??? ????!" (Serbisch: „Los jetzt!“) knurrte sie.
Während ich vorwärts stolperte, riskierte ich einen Blick über die Schulter. Die Wand stand. Ich ging weiter wie das berühmte Lamm zur Schlachtbank, bis ich vor meinem König und Henker stand.
Ich spürte seinen Blick aus dem Halbdunkel heraus. Er räusperte sich und richtete sich auf. Langsam ließ er seine Rechte in die Jackentasche gleiten. Ich begann mein Leben zu ordnen. Nach drei Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, brachte er eine Schachtel Zigaretten zu Vorschein. Marlboro. Ekelige Cowboy-Zigaretten! „Gott sei Dank, nur Zigaretten“, dachte ich und atmete auf. Ein Feuerzeug klickte. Der Schein der Flamme beleuchtete kurz sein Gesicht, das im Zwielicht faltig und eingefallen wirkte. Er lächelnd versonnen, als er sich die Fluppe anzündete. Ljubiša wusste, dass ich Schiss hatte. Man konnte es ja auch förmlich riechen. Lässig lehnte er sich wieder zurück, schlug die Beine übereinander und schloss die Augen. Genüsslich und in seinen Auftritt verliebt paffte er ein paar Ringe
Ich kriegte feuchte Hände. Ein Königreich für eine Zigarette. Ich hatte welche dabei und traute mich nicht zu rauchen. Das war mir noch nie passiert!
Gedankenverloren schweifte mein Blick über den imposanten Schreibtisch. Er war von derselben Machart wie die Büromöbel. Dieselbe spiegelglatte Oberfläche. Nur die große Holzplatte, die rechts auf dem Tisch lag, passte nicht ins Bild. So eine, wie meine Mutter sie immer zum Kneten von Brotteig verwendet hatte. Nur dicker, fleckig und mit tiefen Kerben versehen.
„Warum liegt hier sowas? Hat die Putzfrau frei? Und woher stammen die Kerben?“ fragte ich mich. Und weiter: „Ach Igor, scheiß auf die Kerben, scheiß auf die Platte, scheiß auf den Serben!“
Ljubiša rauchte schweigend und ungerührt zu Ende - ich war für ihn Luft - und erst, als er sich ein wenig vorbeugte und den Stummel energisch ausdrückte, schaute er mich an. Als zerdrückte er mich.
„?? ????? ?????“ (Serbisch: „Du hast kein Geld?“)
fragte er mit der üblichen heiseren Stimme.
Ich versuchte gewinnend zu lächeln, hob die Schultern und zeige ihm meine leeren Hände. Wie gerne hätte ich ihm jetzt eine mitleiderregende Fabel ins Ohr gesäuselt. Aber selbst, wenn ich eine auf Lager gehabt hätte, ich kam nicht mehr dazu, sie zu erzählen, denn er meinte ungerührt:
„? ?? ?? ???? ?? ?? ????.“ (Serbisch: „Dann wird es dir sehr wehtun.“)
und nickt seinen Männern zu.
Die Schränke waren sofort zur Stelle. Einer fasste mich wie ein Karnickel im Nacken, und einer drehte meinen linken Daumen solange in alle möglichen und unmöglichen Richtungen, bis ich vor Schmerz und Wut brüllend meine Hand öffnete. Im Nu presste er sie auf die Holzplatte und schlug mir mit der Faust auf den Handrücken. Ein Hammerschlag. Ich stöhnte auf.
„???? ???!“ (Serbisch: „So liegen lassen!“) knurrte es von hinten. Mein Handgelenk saß fest wie in einem Schraubstock. Und bei der kleinsten Regung drückte der Glatzkopf fester zu.
„?????????? ???? ?????? ???'???!“ (Serbisch: „So liegen lassen, hab´ ich gesagt!“) knurrte es erneut von hinten.
Ljubiša nestelte in der Innentasche seiner Jacke herum. Er zog seine zur Faust geballte Hand heraus und hielt sie mir vor die Nase. Der Schrank im Nacken erhöhte den Druck, der Schraubstock zog an. „Die wissen genau, was sie tun. Ein Drehbuch ohne Worte!“ schoss es mir durch den Kopf. Dann schnellte mit einem „Klick“ eine scharfe zweischneidige Klinge aus Ljubišas Faust und schlitzte mir den Nasenflügel auf. Ich biss die Zähne zusammen, unterdrückte jeden Laut. Ljubiša schnippelte weiter und setzte einen kunstvoll geschlängelten Schnitt längs über meinen kleinen Finger! Als Zugabe sozusagen. Es tat alles einfach nur sauweh!
Zufrieden betrachtete der König sein Werk: eine etwa drei Zentimeter lange Wunde am Finger und eine zerschnittene Nase. Auf die Platte kleckerte reichlich Blut, was den Serben nicht im Geringsten störte. Die Platte war schließlich dazu da, den Schreibtisch sauber zu halten. Keine Frage, auf dieser Platte war schon öfter Blut vergossen worden. Mein Lebenssaft füllte die Kerben und bildete eine große Lache.
Ich wollte mich ablenken. Dummerweise konnte ich nur an Franjo denken, einen Kroaten aus Herne. Der hatte seinen Zahltag im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen. In Vollnarkose auf dem OP-Tisch, mit einem geplatzten Blinddarm und dem Bauch voller Eiter und Dreck. Die Ärzte hatten um sein Leben gekämpft und schließlich gesiegt. Franjo behielt eine 20 cm langen Narbe zurück, die nicht gut verheilte und seinen Aufenthalt in der Klinik um zwei Wochen verlängerte. Der Kroate hatte der Schabe insgesamt nur um die 400 Mark geschuldet, und dass er die dritte und vorletzte nicht rechtzeitig zahlen konnte, … das war doch aufgrund höherer Gewalt. Ljubiša ließ aber keine Gewalt gelten, die höher als seine. Er legte den Entlassungstag als neuen Stichtag fest. Die drei Glatzen holten ihn aus der Klinik ab. Sie gaben sich beim Stationsarzt als seine Brüder aus, und der Arzt hatte nicht die Eier, den Schränken zu sagen, dass sie logen. Wie es weiterging, könnt Ihr Euch denken: Einer zeigte mit dem Kopf zum Ausgang, einer öffnete die Tür des Krankenzimmers und einer stützte Franjo, damit er nicht aus Versehen in die falsche Richtung lief. Ob der arme Kerl hier auf dem Schreibtisch operiert wurde, ist nicht überliefert. Fakt ist aber, dass Ljubiša das mit dem Stichtag wörtlich nahm und dem armen Schwein die Narbe der Länge nach wieder aufschlitzte. Weil er keine 120 Mark auf Tasche hatte! Nach der Klinik ist vor der Klinik. Und die Schabe soll Franjo geschworen haben, er würde ihm einen Reißverschluss einnähen, wenn die letzte Rate nicht pünktlich käme!
Aus meiner Nase tropfte es wie Wasser. Ein wenig Blut allerdings fand seinen Weg den Rachen herunter. Ich musste husten und prusten und bedeckte irgendwelche blöden Papiere auf dem Schreibtisch mit einem hellroten Sprühfilm. Das rief den Schrank im Nacken auf den Plan. Er drückte mein Gesicht so lange in die Blutlache, bis Schluss war mit Prusten. Ich hörte, wie die Schabe eine Schublade aufzog und darin herumkramte. Ich nahm eine schnelle Bewegung und etwas metallisch Blinkendes wahr. Das metallische Etwas war ein Metzgerbeil, und Ljubiša holte auch aus wie ein Metzger.
Ich sah das Beil in Zeitlupe auf meine linke Hand niederfahren. In stiller Trauer verabschiedete ich mich von jedem meiner Finger. Ein besonderes Ade galt meinem kleinen, blutenden Finger, den ein jahrelang gepflegter stabiler und formschöner langer Nagel zierte. Nach dieser Zeremonie schloss ich die Augen. Amputationen waren einfach nichts für mich. Ohne Zucken, Rucken und Mucken ließ ich das Unausweichliche auf mich zukommen, damit die Schabe mir garantiert nur die Finger und nicht etwa die ganze Hand abschlug.
Die Holzplatte federte, als die Hacke jaulend eine neue Kerbe schlug. Blut spritzte. Die Schränke ließen mich los. Ich schrie wie wild, riss meine Augen auf und sah meinen Lieblingsfinger geköpft, nagellos vor der breiten Schneide liegen. Der erwartete Schmerz blieb aus. Der verrückte Serbe hatte nur den Nagel abgetrennt, haarscharf vor der Fingerkuppe.
Ich schwankte auf meinem Stuhl hin und her, weil mein Bewusstsein sich nach und nach verabschiedete. Die ekelige Kakerlake sah ich nur noch undeutlich hinter seinem Schreibtisch stehen, und was links und rechts neben ihm war, verschwamm gänzlich vor meinen Augen. Kurz bevor ich wegtrat, hörte ich Ljubiša noch wie durch eine Wand sagen:
„?? ?? ?? ????? ? ??? ??? ?? ?? ?????, ??????? ??? ?? ?? ????? ??????, ??? ?? ?? ??????!“ (Serbisch: „Ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist: Das nächste Mal ist der Finger dran, wenn du nicht alles zahlst!“)
*
Als ich wieder zu mir kam, saß ich mit hängendem Kopf an einer Mauer gelehnt. Hemd und Hose waren mit Blut zugesaut, ich schmeckte Blut und mir war kotzübel.
Automatisch betastete mein Gesicht, meine Zähne, meine Finger. Alles klebrig, aber alles noch dran. Ich lehnte mich erschöpft und erleichtert zurück. Nach einer Weile kam der erste klare Gedanke, und der galt meiner Geldbörse. Hektisch klopfte ich die Taschen meiner Jacke ab. Nix! Ich sprang auf. Da fiel mir die geöffnete Börse vom Schoß. Ich nahm sie und zählte mein Geld. 55 Mark. Genau 400 Piepen fehlten. Die Schweine hatten sich also selbst bedient und auch die Zinsen nicht vergessen. Ich versuchte das positiv zu sehen: Die nächsten vier Wochen hatte ich Ruhe vor dem Bestatter und seiner Bande.
Dann schaute ich mich um. Hinter mir ein Kiosk, über mir Leuchtreklame von Coke und Sinalco und gegenüber, auf der anderen Straßenseite ein Bäcker. Den kannte ich. Die Schränke hatten mich an der Hörder Straße abgeladen, in der Nähe des alten Nazi-Arbeitslagers, etwa fünf Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Ich machte mich schwerfällig auf die Socken. Während des Marsches dachte ich fieberhaft darüber nach, wie ich zu Geld kommen konnte. Sonst war ich meines Lebens nicht mehr sicher war, nicht in Deutschland, nicht in Jugoslawien. Und ob der dürre Arm der Kakerlake nicht auch bis nach Holland, Belgien oder Österreich reichte, wer wusste das schon genau? Wenn ich fliehen wollte, blieb mir da überhaupt etwas anderes als die DDR?
Der Ostblock kam für mich nicht einmal als Tourist in Frage. Also rechnete ich. Es war nicht meine Art, im Gehen zu rechnen, und Finanzplanungen ohne Zettel und Stift waren mir ein Greul. Im Moment brauchte ich allerdings nichts zum Schreiben und erst recht keinen Taschenrechner. Drei Finger genügten:
1. Meine 55 Mark waren zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Unter der Hand arbeiten brachte nicht die Kohle, die ich brauchte. Und unter Druck 3200 Eier und das Geld fürs tägliche Leben erzocken … vergiss es einfach, Igor! Es war schon hart genug gewesen, die erste Rate auf diese Art zu verdienen.
2. Auf meinem Bankkonto herrschte Ebbe, und das würde auch so bleiben. Darüber musste ich mir also nicht den Kopf zerbrechen.
3. Die Miete und andere Abgaben waren bezahlt, die Yamaha vollgetankt, der Kühlschrank gut bestückt. Wenigstens hier war für die nächsten Tage alles im grünen Bereich.
Wer konnte mir helfen? Ich ging meinen überschaubaren Freundeskreis der Reihe nach durch und blieb bei Lui hängen. Hatte der nicht auch mal mit 50 Mark ein großes Ding angefangen?
Lui lebte inzwischen in Bork, einem kleinen Kaff vor Selm, und wir sahen uns in den letzten Wochen nur noch selten, weil ich in Herdecke wohnte. Als ich noch in Selm gehaust hatte, hatten wir täglich zusammengegluckt. Wir hatten quasi dieselbe Blutgruppe, standen beide auf Zocken, Rocken und Biken. Aktuell fuhr der eine ab und zu noch beim anderen vor, oder wir trafen uns mit anderen Bikern sonntags auf der Syburg.
Ich wusste, dass Lui mir helfen würde. Ohne es recht zu merken, erhöhte sich die Schlagzahl meiner Schritte. Adrenalin! Ich hatte einen Plan. Jetzt schnell nach Hause, Duschen, Wunden versorgen. Tetanus? Egal! Essen? Mir war immer noch übel. Hauptsache, ich konnte schlafen. Am folgenden Tag wollte ich zusammen mit Lui in die Zukunft investieren! Zocken, was das Zeug hält, und zwar nach der „Methode Lui“, wie er sie augenzwinkernd nannte. Mein erstes Ziel war, die 400 Eier Bares wieder rein zu holen, damit ich in dem Monat über die Runden kam. Und dann mal sehen, was sonst noch drin war. Das war, auf den Nenner gebracht, mein ganzer Plan. Ihr findet das kläglich? Ich fand das großartig! Am Horizont zeichnete sich schon ab, wie ich mein bisschen Geld verdoppelte, verdreifachte, verzehnfachte. Und da war noch mehr drin!
Ich war eben ein Zocker. Und dafür, dass das Glück uns auf
jeden Fall hold war, gab es ja die Methode Lui.
398,01 DM monatlich bis einschl. Dezember 1986
verschlossener Briefumschlag
erste Rate: 15. März
Raten ab April: 1. Werktag des Monats
Treffpunkt: Alina, 18.00 Uhr
Den Rest des Jahres konnte ich getrost auch knicken. Ich kannte ja die Regeln. Und Lui und die 100 Eier? Es war wohl besser, wenn der mich vorerst nicht zu Gesicht bekam. Die 100 Mark machten ihn nicht arm. Da brannte nichts an. Ich hatte nun genug Stress und brauchte nicht obendrein noch einen Shitstorm der Entrüstung. Lui, wir werden uns irgendwann wiedersehen und über all das hier herzlich lachen!
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Ich hatte die erste Rate irgendwie zusammengekratzt und mich mit der Kohle nach „Alina“ aufgemacht, der Stammkneipe der Schabe. Vor der Tür traf ich auf einen, der auch einem Briefumschlag in der Hand hielt. „Tach, Kollega!“ dachte ich. Kollega hielt mir mitfühlend die Tür auf. Wir betraten still die schummerige und verqualmte Bar.
In „Alina“ verkehrten nur die verkehrten Jugos. Ganoven und solche, die es werden wollten, Speichellecker und andere Widerlinge, die dem König treu ergeben waren. Der Barkeeper schaute eine der Glatzen an und nickte zu uns rüber. Der Kahlkopf löste sich von der Theke und führte uns an einen Tisch abseits des Tresens. Wortlos überreichten wir unsere Umschläge, wortlos kontrollierte er deren Inhalte und wortlos zeigte sein Daumen zur Tür. Verpisst euch! Vor der Tür trennten wir uns wortlos.
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Für Ljubiša und seine Glatzen war „Alina“ immer geöffnet, selbst am Ruhetag. Fiel der Erste des Monats auf einen Dienstag, dann musste man klopfen. Ein Jugo, der Ljubiša etwas schuldig war, wusste das. Dummerweise hatte ich den zweiten Termin zur Ratenzahlung sausen lassen. Weil ich Schulden nicht leiden konnte. Und Schabenschulden bildeten da keine Ausnahme. Und ich hätte mich nicht damit rausreden können, dass der Laden ja Ruhetag hatte.
Ich hatte den 10. März 1986 mit all seinen Folgen einfach aus meinem Gedächtnis gelöscht. So war ich ehrlich überrascht, als Ljubiša mich noch am selben Abend auf die ihm eigene Weise einbestellte: Die drei Kleiderschränke fingen mich ab, als ich abends gegen acht Uhr das Haus verließ. Wortlos und diskret. Einer zeigte mit dem Kopf zum Pullmann, einer öffnete die Tür, einer schob mich rein. Nach hinten natürlich, wo ich dann mit meinem Talent saß, eingeklemmt zwischen zwei Glatzen wie eine Bulette im Brötchen.
Unter normalen Umständen bildete ich mir auf meine Statur was ein, und wer mich kannte, legte sich nicht mit mir an. Die Serbenschergen kannten mich noch nicht wirklich, aber ich dachte nicht im Traum daran, sie aufzuklären.
Während der Fahrt zur Kommandozentrale der Schabe nach Lütgendortmund sprachen die drei kein Wort. Sie redeten eh so gut wie nie, weil sie fürs Arbeiten und nicht fürs Reden bezahlt wurden. Das Büro, besser gesagt der Thronsaal der serbischen Landplage befand sich in einer Penthouse, zehn Etagen über Normalnull. Raus aus dem Auto, rein in den Bau. Ehe ich mich versah, flog ich in den Fahrstuhl, der schon auf uns wartete und fuhr rauf ins Dachgeschoss. Oben angekommen ging es ebenso schnell wieder raus. Schrank Nummer 1 schritt voran, Nummer 2 und 3 beschränkten mich hinten. Die Schrankwand schob mich gnadenlos durch einen protzig dekorierten Korridor. Vorbei an Türen, die wie Spiegel glänzten, mit Knäufen aus blank poliertem Messing. Die Leuchter an der Wand verbreiteten ein dezentes, warmes Licht, Textiltapeten und ein dicker Teppichboden schluckten jeden Laut.
„Es gibt schlechtere Orte zum Abdanken!“ dachte ich, und „Ob die Türen wohl verschlossen sind?“
Ich drehte im Vorbeigehen spaßeshalber an einem der Griffe. Postwendend erhielt ich einen Tritt ins Kreuz, fiel lang aufs Maul und spürte eine Ledersohle und 120 kg Gewicht im Nacken.
„Schon gut, Kumpel! Immer geschmeidig bleiben!“ ächzte ich mit Velours im Mund. „Ich hab´ nur die Toilette gesucht.“
Der Druck ließ nach. Ich schaute nach vorn und blickte meiner ungewissen Zukunft entgegen: in Form der geöffneten Tür am Ende des Korridors.
Abgesehen von der Fahrstuhltür, die nicht wirklich zählte, war dies die einzige offene Tür. Der Stoßtrupp drängte mich dort durch und ich stand wider Willens in Ljubišas Thronsaal.
Eleganz und der Gestank von Geld ließen mir den Atem stocken. Im vorderen Teil des Saals standen edelste dunkle Büromöbel, die Fronten, wie auch anders, spiegelblank. An den Wänden moderne Kunst, die ich noch nie verstanden hatte. Hier eine überdimensionierte Palme, dort Skulpturen, eine Vitrine, TV, Stereoanlage und Ledersessel. Das übliche Gedöns, mit dem Kriminelle ihre Büros vollstopfen. Den hinteren Teil des Saals beherrschte ein riesiger Schreibtisch. Auf dem hellen Parkett lag ein langer, roter Teppich, und der rote Teppich lief geradewegs auf dieses altarförmige Gebilde zu.
Eine Stehlampe und ein kleiner Leuchter tauchten den Raum davor in schwaches Licht. Schemenhaft erkannte ich, dass Ljubiša Petrovi? dort in einem monströsen Chefsessel thronte. Es war wie gesagt ein Schreibtischstuhl und kein Thron, und der serbische Schädling verschwand fast hinter seinem Schreibtisch. Ein Kindersitzkissen wie beim Frisör fehlte. Sah witzig aus, nur war mir nicht zum Lachen zumute.
Ich dachte an Schicksalsspiel mit dem König. Bei seinem Alles-oder-nichts-Angebot stoppte ich den Film und blieb ich wie angewurzelt vor der Teppichkante stehen. Warum hatte ich mich eigentlich auf diesen Wahnsinn eingelassen? Es war nicht die Angst vor Schlägen und Schmerzen. Es war vielmehr eine Frage der Ehre. Ich wollte gewinnen, selbst wenn ich hinterher alles verlor. Ich wollte als Kakerlakenkastrierer, Schabenschröpfer und Bestatter des Bestatters in die Annalen eingehen. Dann hätte ich mit einem Brillenhämatom, einer Rippenserienfraktur und einohrig noch stolz in den Spiegel blicken können, bevor ich den Löffel abgab. Igor der Schabenschlächter sollte man mich nennen und dies für die Nachwelt festhalten. Ein edles Motiv und keineswegs verwerflich, Igor! Ach, und dass ich mutwillig serbischen Boden betreten hatte? Shit happens. Spiegel, wo bist du?
Die Schrankwand gab mir einen derben Schubs und ihren ersten Laut von sich:
"??? ????!" (Serbisch: „Los jetzt!“) knurrte sie.
Während ich vorwärts stolperte, riskierte ich einen Blick über die Schulter. Die Wand stand. Ich ging weiter wie das berühmte Lamm zur Schlachtbank, bis ich vor meinem König und Henker stand.
Ich spürte seinen Blick aus dem Halbdunkel heraus. Er räusperte sich und richtete sich auf. Langsam ließ er seine Rechte in die Jackentasche gleiten. Ich begann mein Leben zu ordnen. Nach drei Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, brachte er eine Schachtel Zigaretten zu Vorschein. Marlboro. Ekelige Cowboy-Zigaretten! „Gott sei Dank, nur Zigaretten“, dachte ich und atmete auf. Ein Feuerzeug klickte. Der Schein der Flamme beleuchtete kurz sein Gesicht, das im Zwielicht faltig und eingefallen wirkte. Er lächelnd versonnen, als er sich die Fluppe anzündete. Ljubiša wusste, dass ich Schiss hatte. Man konnte es ja auch förmlich riechen. Lässig lehnte er sich wieder zurück, schlug die Beine übereinander und schloss die Augen. Genüsslich und in seinen Auftritt verliebt paffte er ein paar Ringe
Ich kriegte feuchte Hände. Ein Königreich für eine Zigarette. Ich hatte welche dabei und traute mich nicht zu rauchen. Das war mir noch nie passiert!
Gedankenverloren schweifte mein Blick über den imposanten Schreibtisch. Er war von derselben Machart wie die Büromöbel. Dieselbe spiegelglatte Oberfläche. Nur die große Holzplatte, die rechts auf dem Tisch lag, passte nicht ins Bild. So eine, wie meine Mutter sie immer zum Kneten von Brotteig verwendet hatte. Nur dicker, fleckig und mit tiefen Kerben versehen.
„Warum liegt hier sowas? Hat die Putzfrau frei? Und woher stammen die Kerben?“ fragte ich mich. Und weiter: „Ach Igor, scheiß auf die Kerben, scheiß auf die Platte, scheiß auf den Serben!“
Ljubiša rauchte schweigend und ungerührt zu Ende - ich war für ihn Luft - und erst, als er sich ein wenig vorbeugte und den Stummel energisch ausdrückte, schaute er mich an. Als zerdrückte er mich.
„?? ????? ?????“ (Serbisch: „Du hast kein Geld?“)
fragte er mit der üblichen heiseren Stimme.
Ich versuchte gewinnend zu lächeln, hob die Schultern und zeige ihm meine leeren Hände. Wie gerne hätte ich ihm jetzt eine mitleiderregende Fabel ins Ohr gesäuselt. Aber selbst, wenn ich eine auf Lager gehabt hätte, ich kam nicht mehr dazu, sie zu erzählen, denn er meinte ungerührt:
„? ?? ?? ???? ?? ?? ????.“ (Serbisch: „Dann wird es dir sehr wehtun.“)
und nickt seinen Männern zu.
Die Schränke waren sofort zur Stelle. Einer fasste mich wie ein Karnickel im Nacken, und einer drehte meinen linken Daumen solange in alle möglichen und unmöglichen Richtungen, bis ich vor Schmerz und Wut brüllend meine Hand öffnete. Im Nu presste er sie auf die Holzplatte und schlug mir mit der Faust auf den Handrücken. Ein Hammerschlag. Ich stöhnte auf.
„???? ???!“ (Serbisch: „So liegen lassen!“) knurrte es von hinten. Mein Handgelenk saß fest wie in einem Schraubstock. Und bei der kleinsten Regung drückte der Glatzkopf fester zu.
„?????????? ???? ?????? ???'???!“ (Serbisch: „So liegen lassen, hab´ ich gesagt!“) knurrte es erneut von hinten.
Ljubiša nestelte in der Innentasche seiner Jacke herum. Er zog seine zur Faust geballte Hand heraus und hielt sie mir vor die Nase. Der Schrank im Nacken erhöhte den Druck, der Schraubstock zog an. „Die wissen genau, was sie tun. Ein Drehbuch ohne Worte!“ schoss es mir durch den Kopf. Dann schnellte mit einem „Klick“ eine scharfe zweischneidige Klinge aus Ljubišas Faust und schlitzte mir den Nasenflügel auf. Ich biss die Zähne zusammen, unterdrückte jeden Laut. Ljubiša schnippelte weiter und setzte einen kunstvoll geschlängelten Schnitt längs über meinen kleinen Finger! Als Zugabe sozusagen. Es tat alles einfach nur sauweh!
Zufrieden betrachtete der König sein Werk: eine etwa drei Zentimeter lange Wunde am Finger und eine zerschnittene Nase. Auf die Platte kleckerte reichlich Blut, was den Serben nicht im Geringsten störte. Die Platte war schließlich dazu da, den Schreibtisch sauber zu halten. Keine Frage, auf dieser Platte war schon öfter Blut vergossen worden. Mein Lebenssaft füllte die Kerben und bildete eine große Lache.
Ich wollte mich ablenken. Dummerweise konnte ich nur an Franjo denken, einen Kroaten aus Herne. Der hatte seinen Zahltag im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen. In Vollnarkose auf dem OP-Tisch, mit einem geplatzten Blinddarm und dem Bauch voller Eiter und Dreck. Die Ärzte hatten um sein Leben gekämpft und schließlich gesiegt. Franjo behielt eine 20 cm langen Narbe zurück, die nicht gut verheilte und seinen Aufenthalt in der Klinik um zwei Wochen verlängerte. Der Kroate hatte der Schabe insgesamt nur um die 400 Mark geschuldet, und dass er die dritte und vorletzte nicht rechtzeitig zahlen konnte, … das war doch aufgrund höherer Gewalt. Ljubiša ließ aber keine Gewalt gelten, die höher als seine. Er legte den Entlassungstag als neuen Stichtag fest. Die drei Glatzen holten ihn aus der Klinik ab. Sie gaben sich beim Stationsarzt als seine Brüder aus, und der Arzt hatte nicht die Eier, den Schränken zu sagen, dass sie logen. Wie es weiterging, könnt Ihr Euch denken: Einer zeigte mit dem Kopf zum Ausgang, einer öffnete die Tür des Krankenzimmers und einer stützte Franjo, damit er nicht aus Versehen in die falsche Richtung lief. Ob der arme Kerl hier auf dem Schreibtisch operiert wurde, ist nicht überliefert. Fakt ist aber, dass Ljubiša das mit dem Stichtag wörtlich nahm und dem armen Schwein die Narbe der Länge nach wieder aufschlitzte. Weil er keine 120 Mark auf Tasche hatte! Nach der Klinik ist vor der Klinik. Und die Schabe soll Franjo geschworen haben, er würde ihm einen Reißverschluss einnähen, wenn die letzte Rate nicht pünktlich käme!
Aus meiner Nase tropfte es wie Wasser. Ein wenig Blut allerdings fand seinen Weg den Rachen herunter. Ich musste husten und prusten und bedeckte irgendwelche blöden Papiere auf dem Schreibtisch mit einem hellroten Sprühfilm. Das rief den Schrank im Nacken auf den Plan. Er drückte mein Gesicht so lange in die Blutlache, bis Schluss war mit Prusten. Ich hörte, wie die Schabe eine Schublade aufzog und darin herumkramte. Ich nahm eine schnelle Bewegung und etwas metallisch Blinkendes wahr. Das metallische Etwas war ein Metzgerbeil, und Ljubiša holte auch aus wie ein Metzger.
Ich sah das Beil in Zeitlupe auf meine linke Hand niederfahren. In stiller Trauer verabschiedete ich mich von jedem meiner Finger. Ein besonderes Ade galt meinem kleinen, blutenden Finger, den ein jahrelang gepflegter stabiler und formschöner langer Nagel zierte. Nach dieser Zeremonie schloss ich die Augen. Amputationen waren einfach nichts für mich. Ohne Zucken, Rucken und Mucken ließ ich das Unausweichliche auf mich zukommen, damit die Schabe mir garantiert nur die Finger und nicht etwa die ganze Hand abschlug.
Die Holzplatte federte, als die Hacke jaulend eine neue Kerbe schlug. Blut spritzte. Die Schränke ließen mich los. Ich schrie wie wild, riss meine Augen auf und sah meinen Lieblingsfinger geköpft, nagellos vor der breiten Schneide liegen. Der erwartete Schmerz blieb aus. Der verrückte Serbe hatte nur den Nagel abgetrennt, haarscharf vor der Fingerkuppe.
Ich schwankte auf meinem Stuhl hin und her, weil mein Bewusstsein sich nach und nach verabschiedete. Die ekelige Kakerlake sah ich nur noch undeutlich hinter seinem Schreibtisch stehen, und was links und rechts neben ihm war, verschwamm gänzlich vor meinen Augen. Kurz bevor ich wegtrat, hörte ich Ljubiša noch wie durch eine Wand sagen:
„?? ?? ?? ????? ? ??? ??? ?? ?? ?????, ??????? ??? ?? ?? ????? ??????, ??? ?? ?? ??????!“ (Serbisch: „Ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist: Das nächste Mal ist der Finger dran, wenn du nicht alles zahlst!“)
*
Als ich wieder zu mir kam, saß ich mit hängendem Kopf an einer Mauer gelehnt. Hemd und Hose waren mit Blut zugesaut, ich schmeckte Blut und mir war kotzübel.
Automatisch betastete mein Gesicht, meine Zähne, meine Finger. Alles klebrig, aber alles noch dran. Ich lehnte mich erschöpft und erleichtert zurück. Nach einer Weile kam der erste klare Gedanke, und der galt meiner Geldbörse. Hektisch klopfte ich die Taschen meiner Jacke ab. Nix! Ich sprang auf. Da fiel mir die geöffnete Börse vom Schoß. Ich nahm sie und zählte mein Geld. 55 Mark. Genau 400 Piepen fehlten. Die Schweine hatten sich also selbst bedient und auch die Zinsen nicht vergessen. Ich versuchte das positiv zu sehen: Die nächsten vier Wochen hatte ich Ruhe vor dem Bestatter und seiner Bande.
Dann schaute ich mich um. Hinter mir ein Kiosk, über mir Leuchtreklame von Coke und Sinalco und gegenüber, auf der anderen Straßenseite ein Bäcker. Den kannte ich. Die Schränke hatten mich an der Hörder Straße abgeladen, in der Nähe des alten Nazi-Arbeitslagers, etwa fünf Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Ich machte mich schwerfällig auf die Socken. Während des Marsches dachte ich fieberhaft darüber nach, wie ich zu Geld kommen konnte. Sonst war ich meines Lebens nicht mehr sicher war, nicht in Deutschland, nicht in Jugoslawien. Und ob der dürre Arm der Kakerlake nicht auch bis nach Holland, Belgien oder Österreich reichte, wer wusste das schon genau? Wenn ich fliehen wollte, blieb mir da überhaupt etwas anderes als die DDR?
Der Ostblock kam für mich nicht einmal als Tourist in Frage. Also rechnete ich. Es war nicht meine Art, im Gehen zu rechnen, und Finanzplanungen ohne Zettel und Stift waren mir ein Greul. Im Moment brauchte ich allerdings nichts zum Schreiben und erst recht keinen Taschenrechner. Drei Finger genügten:
1. Meine 55 Mark waren zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Unter der Hand arbeiten brachte nicht die Kohle, die ich brauchte. Und unter Druck 3200 Eier und das Geld fürs tägliche Leben erzocken … vergiss es einfach, Igor! Es war schon hart genug gewesen, die erste Rate auf diese Art zu verdienen.
2. Auf meinem Bankkonto herrschte Ebbe, und das würde auch so bleiben. Darüber musste ich mir also nicht den Kopf zerbrechen.
3. Die Miete und andere Abgaben waren bezahlt, die Yamaha vollgetankt, der Kühlschrank gut bestückt. Wenigstens hier war für die nächsten Tage alles im grünen Bereich.
Wer konnte mir helfen? Ich ging meinen überschaubaren Freundeskreis der Reihe nach durch und blieb bei Lui hängen. Hatte der nicht auch mal mit 50 Mark ein großes Ding angefangen?
Lui lebte inzwischen in Bork, einem kleinen Kaff vor Selm, und wir sahen uns in den letzten Wochen nur noch selten, weil ich in Herdecke wohnte. Als ich noch in Selm gehaust hatte, hatten wir täglich zusammengegluckt. Wir hatten quasi dieselbe Blutgruppe, standen beide auf Zocken, Rocken und Biken. Aktuell fuhr der eine ab und zu noch beim anderen vor, oder wir trafen uns mit anderen Bikern sonntags auf der Syburg.
Ich wusste, dass Lui mir helfen würde. Ohne es recht zu merken, erhöhte sich die Schlagzahl meiner Schritte. Adrenalin! Ich hatte einen Plan. Jetzt schnell nach Hause, Duschen, Wunden versorgen. Tetanus? Egal! Essen? Mir war immer noch übel. Hauptsache, ich konnte schlafen. Am folgenden Tag wollte ich zusammen mit Lui in die Zukunft investieren! Zocken, was das Zeug hält, und zwar nach der „Methode Lui“, wie er sie augenzwinkernd nannte. Mein erstes Ziel war, die 400 Eier Bares wieder rein zu holen, damit ich in dem Monat über die Runden kam. Und dann mal sehen, was sonst noch drin war. Das war, auf den Nenner gebracht, mein ganzer Plan. Ihr findet das kläglich? Ich fand das großartig! Am Horizont zeichnete sich schon ab, wie ich mein bisschen Geld verdoppelte, verdreifachte, verzehnfachte. Und da war noch mehr drin!
Ich war eben ein Zocker. Und dafür, dass das Glück uns auf
jeden Fall hold war, gab es ja die Methode Lui.