„Weißt du, Alter, das sieht jetzt schon viel besser aus. Was mich nur stört, sind deine Pferdefüße. Mir wäre es ehrlich gesagt lieber, wenn überall sonst Fragezeichen stehen und wir für diese beiden Felder einen todsicheren Plan haben.“
Ich blickte zur Uhr. Halb sieben. Mir lief die Zeit weg. Der Marokko-Deal oder doch DDR? Nein, Quatsch! Die Sache mit dem Daimler war der einzige Ausweg. Es musste doch eine Möglichkeit geben, das Ganze in trockene Tücher zu bringen. Lui meinte:
„Igor, du brauchst einen zweiten Reisepass und in Marokko jemanden, der ihn dir mit einem getürkten Stempel versieht. Dann hast du eine reelle Chance. Aber was soll's? Den Pass kriegst du so schnell nicht. Nicht bis nächste Woche. Und den Stempel? Vergiss es!“
Ich lehnte mich zurück, schloss verzweifelt die Augen und ließ die Gedanken fliegen. Das Ganze war was für den Arsch! Vom Arsch kam ich auf Papillon (Papillon oder Henry Carrier, französischer Schriftsteller und Autor eines gleichnamigen Romans), der sich Dinge, die ihm wichtig waren in den Arsch geschoben hatte. In einem sogenannten Stöpsel. Brrr, das war doch reichlich ekelig! Von Papillon kam ich dazu, dass man einen Spaten braucht, um seinen Mist zu vergraben, wenn man draußen gekackt hat. Irgendwie flogen die Gedanken weiter zu Kerstin, Pias Vorgängerin. Das war damals Scheiße gelaufen. Wegen meines fehlenden Reisepasses war ein gemeinsamer Urlaub geplatzt. Der Urlaub war geplant, gebucht und festgeklopft, ihr Jahresurlaub. Wir wollten nach Spanien fahren, und während der Vorbereitungen hatte ich meinen Reisepass nicht finden können. Spurlos verschwunden. Das Mädel probte den Aufstand. Mir blieb nichts anderes übrig, als beim Einwohnermeldeamt einen neuen Pass zu beantragen. Der Angestellte beteuerte, dass ich das Dokument garantiert bis zum Abreisetag in den Händen halten würde. Geschissen, es dauerte zwei Wochen länger. Als ich den Reisepass endlich abholen konnte, hatte Kerstin mir längst den Laufpass gegeben und war alleine in den Urlaub gefahren. Es war nicht wirklich ein Trost gewesen, dass ich nun einen nagelneuen Pass und aktuelle Straßenkarten von Frankreich und Spanien besaß. Wie ich mich damals geärgert hatte! Aus Frust wollte ich Bratkartoffeln machen und die meisten Kartoffeln im Schrank waren verfault. Das führte mich zum Kartoffeltrick. In einem alten Film hatte ich mal gesehen, wie mit einer heißen Pellkartoffel ein amtlicher Stempel kopiert wurde. Der alte Reisepass! Mit einem kopierten Stempel!
Ich schoss vom Sofa hoch, stieß gegen den Tisch und kippte leere Bierpullen um. Es musste rein gar nichts bedeuten, dass ich den Pass damals nicht gefunden hatte! Hatte ich beim letzten Umzug nicht die Schubladen der Schränke und Kommoden so wie sie waren abtransportiert? Und meine Kästen, Kisten und Kartons, die auf dem Speicher standen, nicht ebenso? Dumm nur, dass der Speicher sich in Herdecke befand. Aber das Problem ließ sich lösen! Und was meinte Marty noch: Kanister und holländischer Diesel. Ich hatte wegen der Hotelkosten gemault, aber Lui hatte doch eine Campingausrüstung! Und Karl hatte jede Menge große Kanister im Schuppen stehen und fuhr seinen Benz und seinen Trecker mit Heizöl!
„Lui, ich hab´s!“ brüllte ich und strahlte Lui an.
„Was hast du?“ fragte er misstrauisch.
„Ich habe einen zweiten Reisepass. Ich weiß nicht wo, aber ich habe einen! Habe ich früher mal verlegt und nicht wiedergefunden, als ich ihn brauchte. Aber ich weiß, der ist noch da!“
Lui nickte langsam und schaute mit ängstlich an. Er glaubte, ich wäre bescheuert.
„Alter, ich weiß, wie es funktioniert!“ brüllte ich weiter und fing an zu tanzen. „Wir brauchen unbedingt eine heiße Pellkartoffel, Zigarrenhülsen aus Aluminium, Vaseline und Binsen, einen Spaten oder was Ähnliches, einen zweiten Satz Kennzeichen für den Benz, jede Menge Kanister mit Heizöl und für alle Fälle deine Camping-Ausrüstung!“
Lui saß zurückgelehnt und platt im Sessel und starrte mich mit offenem Mund an. Ich war offensichtlich nicht bescheuert, sondern völlig verstrahlt.
„Und ich brauche dich! Du musst unbedingt mitkommen!“
Das war zu viel. Er drehte sich zum Telefon auf dem Tischchen neben seinem Sessel und nahm den Hörer ab.
„Was machst du?“ fragte ich entgeistert.
„Ich rufe jetzt einen Arzt!“ fauchte er. „Nein, mache ich nicht!“ und knallte den Hörer auf die Gabel. Er sprang auf und schrie:
„Aber ich sollte es wohl besser tun! Merkst du nicht, dass du völlig durchgeknallt bist? Und jetzt willst du mich auf deinen Trip auch noch mitnehmen?“
Von unten klopfte jemand mit einem Besenstil gegen die Decke.
„Ja, ist ja gut!“ brüllte er und stampfte drei, vier Mal auf den Boden, bevor er in sich zusammensackte, sich in den Sessel fallen ließ und fragte mich leise:
„Igor, muss ich mir Sorgen um dich machen?“
„Nö, alles bestens, Alter!“ antwortete ich ebenfalls leise und schaute ihn breit grinsend an.
*
Lui wäre kein Freund, wenn er nicht (fast jeden) Wahnsinn mitgemacht hätte. Fast jeden, denn nach Marokko brachten ihn keine zehn Pferde. Er gestand mir, dass er eine tierische Angst vor Schiffsreisen hatte. Für alles andere bekam ich seinen Segen, und um halb acht abends saßen wir auf seiner Kuh und fuhren nach Dortmund-Schnee.
Pünktlich zur Tagesschau waren wir da. Lui wartete oben an der Straße, ich latschte zum Büro. Die Seitentür war angelehnt. Ohne zu klopfen trat ich ein. Marty saß wieder oder immer noch hinter seinem provisorischen Schreibtisch und seine kleinen Schweinsäuglein blickten mich erleichtert an. Der Lange stand wieder in Kämpferpose hinter ihm.
Der Deal ging formlos und nahezu wortlos über die Bühne. Ich unterschrieb, war um 1000 Mark leichter und hatte den Gegenwert in Form von zwei Schlüsseln, Brief und Schein in der Hand. Ich grinste zufrieden.
Marty gab mir nuschelnd die letzten Instruktionen:
„Wie gesagt: Freitag, 10. April. Un´nun im Detail: 18 Uhr Ortszeit in ´nem kleinen Café in´ner Nähe der Rue Idriss. Schreib´s dir auf, Igor!“
Ich griff den angekauten Bleistift, der auf dem Schreibtisch lag und riss mangels gescheitem Papier ein Stück aus seiner Zeitung raus. Dann lauschte ich dem monotonen Gesang und schrieb mit. Marty wiederholte den ersten Satz freundlicherweise und buchstabierte die Adresse. Dann nuschelte er weiter:
„Links neb´n ´nem Park is´ ´ne schmale Gasse. Da rein, neb´n ´nem Metzgerlad´n is´ es. Kann´ste nich´ verfehl´n. Wenn´de doch blöder bis´, als ich meine, dann besorg´ste dir am best´n ´nen Stadtplan von Al Hoceima. Frag ma´ in dei´m Reisebüro nach!“
Marty machte eine Pause und starrte mich an. Einen Tick zu lange, wie ich fand. Dann kam er zum Ende. Seine Stimme hob sich leicht, und er vergaß zu nuscheln:
„Unser Mittelsmann kommt alleine. Und er ist pünktlich!“
Ein kurzer Blick hoch zum Langen. Dann weiter:
„Lass ihn bloß nicht warten!“
Vor mir saßen das größte Schwein und der dümmste Lügner vor dem Herrn! In einer Person!
Das Café hatten die garantiert nicht ohne Grund gewählt. Weil es dort für mich keinen Fluchtweg gab. Und sobald der Deal nach ihrem Plan anlief, kam ich unter die Räder. Blieb nur die Frage, ob diese Bande mich vor oder nach der Geldübergabe ficken wollte. Der sogenannte Mittelsmann agierte garantiert nicht alleine. Ich hatte mal was über das orientalische Zeitverständnis gelesen. Zeit ist dehnbar und Pünktlichkeit relativ. Kam also ein Ausländer um Punkt 18 Uhr in den Laden, dann hatten sie garantiert den Richtigen an der Angel. Vermutlich stand ein weiterer Ganove hinter der Theke und war eh die ganze Zeit vor Ort. Weitere Schlitzohren konnten sich unter den Gästen befinden.
Ein Loblied auf Martys Dummheit, Luis Scharfsinn und seine Liste.
Ich bedankte ich mich bei Marty recht herzlich, und das war ehrlich gemeint. Den Langen würdigte ich keines Blickes. Wieder draußen zeigte ich Lui einen hochgestreckten Daumen und ging zum Auto. Wir führen wie geplant zu einem Restaurant am Ende vom Schnee, Ecke Wittener Landstraße und aßen was. Ich brachte Lui auf den neusten Stand. Gegen halb neun waren wir satt und Frau Menke hoffentlich schon in der Kiste. Wir fuhren quasi querfeldein über den Schraberg zum Vaerstenberg und hielten an einem Wäldchen gut 150 Meter vor Frau Menkes Haus. Lui wartete bei den Fahrzeugen. Ich schlich mich in den Garten und wie die Katze durch den Keller nach oben. Systematisch und akribisch durchsuchte ich erst die Wohnung und danach auf dem Speicher alle Schubfächer, Kartons, Schatullen, jeden Aktenordner und jeden Briefumschlag, einfach alles. Und zwar langsam und leise mit einer Taschenlampe im Mund. Lärm war tabu wegen Frau Menke und Licht wegen der Glatzen.
Zwei Stunden später war ich fertig und Lui vermutlich auf der Straße wahnsinnig geworden. Ich übrigens auch. Denn der Pass war nicht zu finden. In einem Akt der Verzweiflung schlich zu guter Letzt noch einmal in meine Wohnung und durchwühlte die Taschen aller Jacken und Mäntel in meinem Kleiderschrank. Und fand ihn. In einer Jacke, die ich noch nie gemocht hatte. Ein Geschenk Kerstins. Die hatte ich nur ein- oder zweimal getragen, um ihr einen Gefallen zu tun. Keine Ahnung, wann und warum ich den Reisepass darin verstaut hatte! Egal, Hauptsache ich hatte ihn. Und er war zum Glück noch gültig.
Da klingelte es! Ich ließ vor Schreck die Taschenlampe fallen. War das etwa Lui? Die Lampe zerlegte sich auf dem Holzfußboden mit einem hässlichen Knall in ihre Bestandteile. Die dicken Batterien kollerten durch den Raum. Warum hörte es sich eigentlich im Dunkeln immer so laut, wenn etwas auf den Boden fiel? Ich hielt den Atem an und lauschte an der Tür. Während die Batterien mit einem „Klack“ und einem „Klock“ an die Wand stießen, ging im Parterre die Wohnungstür auf. Frau Menke schlief offenbar noch nicht.
„Ist da jemand?“ schrillte es durchs Treppenhaus. Es klingelte ein zweites Mal bei mir. Und dann hämmerte jemand gegen die Haustür. So was liebte meine Vermieterin ganz und gar nicht.
„Wer ist denn da, und was soll das?“ schrillte es erneut. Das fragte ich mich allerdings auch. Lui konnte das nicht sein. Vielleicht vergaß Frau Menke das Poltern im ersten Stock, weil sie von dem ungehobelten Hämmern abgelenkt worden war.
„Hallo, Frau Menke“, meldete sich eine Männerstimme mit eindeutig serbokroatischem Akzent, „hier ist noch mal Ivan Mesi?, der Bruder von Igor Mesi?. Ich muss Igor dringend sprechen. Ich bin mir sicher, dass er zuhause ist. Habe bei ihm oben ab und zu mal Licht flackern sehen. Aber er öffnet nicht. Können Sie mich bitte reinlassen?“
Mist, die Taschenlampe hatte mich verraten! Ungewöhnlich lange ließ Frau Menke den Glatzkopf auf eine Antwort warten. Und mich damit auch.
„Herr Messick“, quiekte sie mit einem Mal resolut, „hätten Sie wohl die Freundlichkeit von der Tür und von meinem Grundstück zu verschwinden. Das ist doch wohl eine Unverschämtheit, wie Sie hier die Ruhe stören. Ich werde Ihrem Bruder sagen, wie Sie sich hier …“
„Bitte Frau Menke!“ unterbrach er sie flehend. „Ich weiß, dass sich das nicht gehört, aber Igor befindet sich in einer seelischen Krise. Er geht nicht ans Telefon und versteckt sich vor mir und seinen beiden anderen Brüder. Unser Vater sorgt sich sehr. Wir hatten das schon mal. Da lag er mit einer Tablettenvergiftung bewusstlos im Wohnzimmer. Wir konnten ihn damals gerade noch retten. Bitte glauben Sie mir, der Igor ist nicht so stark und stabil, wie er aussieht und tut. Sonst würde ich hier nicht stehen und klopfen!“
Wieder Schweigen.
„Dann sollten wir jetzt keine Zeit verlieren, Herr Messick …“
„Wie bitte“, dachte ich, „die lässt den doch nicht etwa ins Haus?“
„… ich rufe sofort einen Krankenwagen und …“
„Nein, nein!“ fuhr er ihr ins Wort. „Dann verlieren wir kostbare Zeit. Ich bin von Beruf Sanitäter. Ich habe ihn damals gefunden und wiederbelebt. Machen Sie bitte auf und lassen Sie mich in seine Wohnung. Es geht hier vermutlich um Leben und Tod!“
Ich blickte zur Uhr. Halb sieben. Mir lief die Zeit weg. Der Marokko-Deal oder doch DDR? Nein, Quatsch! Die Sache mit dem Daimler war der einzige Ausweg. Es musste doch eine Möglichkeit geben, das Ganze in trockene Tücher zu bringen. Lui meinte:
„Igor, du brauchst einen zweiten Reisepass und in Marokko jemanden, der ihn dir mit einem getürkten Stempel versieht. Dann hast du eine reelle Chance. Aber was soll's? Den Pass kriegst du so schnell nicht. Nicht bis nächste Woche. Und den Stempel? Vergiss es!“
Ich lehnte mich zurück, schloss verzweifelt die Augen und ließ die Gedanken fliegen. Das Ganze war was für den Arsch! Vom Arsch kam ich auf Papillon (Papillon oder Henry Carrier, französischer Schriftsteller und Autor eines gleichnamigen Romans), der sich Dinge, die ihm wichtig waren in den Arsch geschoben hatte. In einem sogenannten Stöpsel. Brrr, das war doch reichlich ekelig! Von Papillon kam ich dazu, dass man einen Spaten braucht, um seinen Mist zu vergraben, wenn man draußen gekackt hat. Irgendwie flogen die Gedanken weiter zu Kerstin, Pias Vorgängerin. Das war damals Scheiße gelaufen. Wegen meines fehlenden Reisepasses war ein gemeinsamer Urlaub geplatzt. Der Urlaub war geplant, gebucht und festgeklopft, ihr Jahresurlaub. Wir wollten nach Spanien fahren, und während der Vorbereitungen hatte ich meinen Reisepass nicht finden können. Spurlos verschwunden. Das Mädel probte den Aufstand. Mir blieb nichts anderes übrig, als beim Einwohnermeldeamt einen neuen Pass zu beantragen. Der Angestellte beteuerte, dass ich das Dokument garantiert bis zum Abreisetag in den Händen halten würde. Geschissen, es dauerte zwei Wochen länger. Als ich den Reisepass endlich abholen konnte, hatte Kerstin mir längst den Laufpass gegeben und war alleine in den Urlaub gefahren. Es war nicht wirklich ein Trost gewesen, dass ich nun einen nagelneuen Pass und aktuelle Straßenkarten von Frankreich und Spanien besaß. Wie ich mich damals geärgert hatte! Aus Frust wollte ich Bratkartoffeln machen und die meisten Kartoffeln im Schrank waren verfault. Das führte mich zum Kartoffeltrick. In einem alten Film hatte ich mal gesehen, wie mit einer heißen Pellkartoffel ein amtlicher Stempel kopiert wurde. Der alte Reisepass! Mit einem kopierten Stempel!
Ich schoss vom Sofa hoch, stieß gegen den Tisch und kippte leere Bierpullen um. Es musste rein gar nichts bedeuten, dass ich den Pass damals nicht gefunden hatte! Hatte ich beim letzten Umzug nicht die Schubladen der Schränke und Kommoden so wie sie waren abtransportiert? Und meine Kästen, Kisten und Kartons, die auf dem Speicher standen, nicht ebenso? Dumm nur, dass der Speicher sich in Herdecke befand. Aber das Problem ließ sich lösen! Und was meinte Marty noch: Kanister und holländischer Diesel. Ich hatte wegen der Hotelkosten gemault, aber Lui hatte doch eine Campingausrüstung! Und Karl hatte jede Menge große Kanister im Schuppen stehen und fuhr seinen Benz und seinen Trecker mit Heizöl!
„Lui, ich hab´s!“ brüllte ich und strahlte Lui an.
„Was hast du?“ fragte er misstrauisch.
„Ich habe einen zweiten Reisepass. Ich weiß nicht wo, aber ich habe einen! Habe ich früher mal verlegt und nicht wiedergefunden, als ich ihn brauchte. Aber ich weiß, der ist noch da!“
Lui nickte langsam und schaute mit ängstlich an. Er glaubte, ich wäre bescheuert.
„Alter, ich weiß, wie es funktioniert!“ brüllte ich weiter und fing an zu tanzen. „Wir brauchen unbedingt eine heiße Pellkartoffel, Zigarrenhülsen aus Aluminium, Vaseline und Binsen, einen Spaten oder was Ähnliches, einen zweiten Satz Kennzeichen für den Benz, jede Menge Kanister mit Heizöl und für alle Fälle deine Camping-Ausrüstung!“
Lui saß zurückgelehnt und platt im Sessel und starrte mich mit offenem Mund an. Ich war offensichtlich nicht bescheuert, sondern völlig verstrahlt.
„Und ich brauche dich! Du musst unbedingt mitkommen!“
Das war zu viel. Er drehte sich zum Telefon auf dem Tischchen neben seinem Sessel und nahm den Hörer ab.
„Was machst du?“ fragte ich entgeistert.
„Ich rufe jetzt einen Arzt!“ fauchte er. „Nein, mache ich nicht!“ und knallte den Hörer auf die Gabel. Er sprang auf und schrie:
„Aber ich sollte es wohl besser tun! Merkst du nicht, dass du völlig durchgeknallt bist? Und jetzt willst du mich auf deinen Trip auch noch mitnehmen?“
Von unten klopfte jemand mit einem Besenstil gegen die Decke.
„Ja, ist ja gut!“ brüllte er und stampfte drei, vier Mal auf den Boden, bevor er in sich zusammensackte, sich in den Sessel fallen ließ und fragte mich leise:
„Igor, muss ich mir Sorgen um dich machen?“
„Nö, alles bestens, Alter!“ antwortete ich ebenfalls leise und schaute ihn breit grinsend an.
*
Lui wäre kein Freund, wenn er nicht (fast jeden) Wahnsinn mitgemacht hätte. Fast jeden, denn nach Marokko brachten ihn keine zehn Pferde. Er gestand mir, dass er eine tierische Angst vor Schiffsreisen hatte. Für alles andere bekam ich seinen Segen, und um halb acht abends saßen wir auf seiner Kuh und fuhren nach Dortmund-Schnee.
Pünktlich zur Tagesschau waren wir da. Lui wartete oben an der Straße, ich latschte zum Büro. Die Seitentür war angelehnt. Ohne zu klopfen trat ich ein. Marty saß wieder oder immer noch hinter seinem provisorischen Schreibtisch und seine kleinen Schweinsäuglein blickten mich erleichtert an. Der Lange stand wieder in Kämpferpose hinter ihm.
Der Deal ging formlos und nahezu wortlos über die Bühne. Ich unterschrieb, war um 1000 Mark leichter und hatte den Gegenwert in Form von zwei Schlüsseln, Brief und Schein in der Hand. Ich grinste zufrieden.
Marty gab mir nuschelnd die letzten Instruktionen:
„Wie gesagt: Freitag, 10. April. Un´nun im Detail: 18 Uhr Ortszeit in ´nem kleinen Café in´ner Nähe der Rue Idriss. Schreib´s dir auf, Igor!“
Ich griff den angekauten Bleistift, der auf dem Schreibtisch lag und riss mangels gescheitem Papier ein Stück aus seiner Zeitung raus. Dann lauschte ich dem monotonen Gesang und schrieb mit. Marty wiederholte den ersten Satz freundlicherweise und buchstabierte die Adresse. Dann nuschelte er weiter:
„Links neb´n ´nem Park is´ ´ne schmale Gasse. Da rein, neb´n ´nem Metzgerlad´n is´ es. Kann´ste nich´ verfehl´n. Wenn´de doch blöder bis´, als ich meine, dann besorg´ste dir am best´n ´nen Stadtplan von Al Hoceima. Frag ma´ in dei´m Reisebüro nach!“
Marty machte eine Pause und starrte mich an. Einen Tick zu lange, wie ich fand. Dann kam er zum Ende. Seine Stimme hob sich leicht, und er vergaß zu nuscheln:
„Unser Mittelsmann kommt alleine. Und er ist pünktlich!“
Ein kurzer Blick hoch zum Langen. Dann weiter:
„Lass ihn bloß nicht warten!“
Vor mir saßen das größte Schwein und der dümmste Lügner vor dem Herrn! In einer Person!
Das Café hatten die garantiert nicht ohne Grund gewählt. Weil es dort für mich keinen Fluchtweg gab. Und sobald der Deal nach ihrem Plan anlief, kam ich unter die Räder. Blieb nur die Frage, ob diese Bande mich vor oder nach der Geldübergabe ficken wollte. Der sogenannte Mittelsmann agierte garantiert nicht alleine. Ich hatte mal was über das orientalische Zeitverständnis gelesen. Zeit ist dehnbar und Pünktlichkeit relativ. Kam also ein Ausländer um Punkt 18 Uhr in den Laden, dann hatten sie garantiert den Richtigen an der Angel. Vermutlich stand ein weiterer Ganove hinter der Theke und war eh die ganze Zeit vor Ort. Weitere Schlitzohren konnten sich unter den Gästen befinden.
Ein Loblied auf Martys Dummheit, Luis Scharfsinn und seine Liste.
Ich bedankte ich mich bei Marty recht herzlich, und das war ehrlich gemeint. Den Langen würdigte ich keines Blickes. Wieder draußen zeigte ich Lui einen hochgestreckten Daumen und ging zum Auto. Wir führen wie geplant zu einem Restaurant am Ende vom Schnee, Ecke Wittener Landstraße und aßen was. Ich brachte Lui auf den neusten Stand. Gegen halb neun waren wir satt und Frau Menke hoffentlich schon in der Kiste. Wir fuhren quasi querfeldein über den Schraberg zum Vaerstenberg und hielten an einem Wäldchen gut 150 Meter vor Frau Menkes Haus. Lui wartete bei den Fahrzeugen. Ich schlich mich in den Garten und wie die Katze durch den Keller nach oben. Systematisch und akribisch durchsuchte ich erst die Wohnung und danach auf dem Speicher alle Schubfächer, Kartons, Schatullen, jeden Aktenordner und jeden Briefumschlag, einfach alles. Und zwar langsam und leise mit einer Taschenlampe im Mund. Lärm war tabu wegen Frau Menke und Licht wegen der Glatzen.
Zwei Stunden später war ich fertig und Lui vermutlich auf der Straße wahnsinnig geworden. Ich übrigens auch. Denn der Pass war nicht zu finden. In einem Akt der Verzweiflung schlich zu guter Letzt noch einmal in meine Wohnung und durchwühlte die Taschen aller Jacken und Mäntel in meinem Kleiderschrank. Und fand ihn. In einer Jacke, die ich noch nie gemocht hatte. Ein Geschenk Kerstins. Die hatte ich nur ein- oder zweimal getragen, um ihr einen Gefallen zu tun. Keine Ahnung, wann und warum ich den Reisepass darin verstaut hatte! Egal, Hauptsache ich hatte ihn. Und er war zum Glück noch gültig.
Da klingelte es! Ich ließ vor Schreck die Taschenlampe fallen. War das etwa Lui? Die Lampe zerlegte sich auf dem Holzfußboden mit einem hässlichen Knall in ihre Bestandteile. Die dicken Batterien kollerten durch den Raum. Warum hörte es sich eigentlich im Dunkeln immer so laut, wenn etwas auf den Boden fiel? Ich hielt den Atem an und lauschte an der Tür. Während die Batterien mit einem „Klack“ und einem „Klock“ an die Wand stießen, ging im Parterre die Wohnungstür auf. Frau Menke schlief offenbar noch nicht.
„Ist da jemand?“ schrillte es durchs Treppenhaus. Es klingelte ein zweites Mal bei mir. Und dann hämmerte jemand gegen die Haustür. So was liebte meine Vermieterin ganz und gar nicht.
„Wer ist denn da, und was soll das?“ schrillte es erneut. Das fragte ich mich allerdings auch. Lui konnte das nicht sein. Vielleicht vergaß Frau Menke das Poltern im ersten Stock, weil sie von dem ungehobelten Hämmern abgelenkt worden war.
„Hallo, Frau Menke“, meldete sich eine Männerstimme mit eindeutig serbokroatischem Akzent, „hier ist noch mal Ivan Mesi?, der Bruder von Igor Mesi?. Ich muss Igor dringend sprechen. Ich bin mir sicher, dass er zuhause ist. Habe bei ihm oben ab und zu mal Licht flackern sehen. Aber er öffnet nicht. Können Sie mich bitte reinlassen?“
Mist, die Taschenlampe hatte mich verraten! Ungewöhnlich lange ließ Frau Menke den Glatzkopf auf eine Antwort warten. Und mich damit auch.
„Herr Messick“, quiekte sie mit einem Mal resolut, „hätten Sie wohl die Freundlichkeit von der Tür und von meinem Grundstück zu verschwinden. Das ist doch wohl eine Unverschämtheit, wie Sie hier die Ruhe stören. Ich werde Ihrem Bruder sagen, wie Sie sich hier …“
„Bitte Frau Menke!“ unterbrach er sie flehend. „Ich weiß, dass sich das nicht gehört, aber Igor befindet sich in einer seelischen Krise. Er geht nicht ans Telefon und versteckt sich vor mir und seinen beiden anderen Brüder. Unser Vater sorgt sich sehr. Wir hatten das schon mal. Da lag er mit einer Tablettenvergiftung bewusstlos im Wohnzimmer. Wir konnten ihn damals gerade noch retten. Bitte glauben Sie mir, der Igor ist nicht so stark und stabil, wie er aussieht und tut. Sonst würde ich hier nicht stehen und klopfen!“
Wieder Schweigen.
„Dann sollten wir jetzt keine Zeit verlieren, Herr Messick …“
„Wie bitte“, dachte ich, „die lässt den doch nicht etwa ins Haus?“
„… ich rufe sofort einen Krankenwagen und …“
„Nein, nein!“ fuhr er ihr ins Wort. „Dann verlieren wir kostbare Zeit. Ich bin von Beruf Sanitäter. Ich habe ihn damals gefunden und wiederbelebt. Machen Sie bitte auf und lassen Sie mich in seine Wohnung. Es geht hier vermutlich um Leben und Tod!“