Die Ketama Connection, Kapitel 3 (Teil 6)

Peter

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Lui schaute mich triumphierend an.
„Aha, du sagst selbst, dass du nicht gegen alles und jedes gefeit bist. Aber du würdest alles dransetzen, die Karre wieder zu kriegen, wenn du über den Tisch gezogen wurdest, nicht wahr?“
Ich zuckte ratlos mit den Schultern. Könnte sein. Oder auch nicht. Ketama lag nicht weit von Al Hoceïma entfernt. Mir kam „Theo gegen den Rest der Welt“ (Deutsches Roadmovie aus dem Jahre 1980) in den Sinn. Theo zog durch halb Europa auf der Suche nach seinem Truck. In meinem Fall müsste ich nur im Norden Marokkos suchen.
„Ja Mann“, knurrte ich, „kann schon sein.“
Lui redete sich in Rage:
„So! Und du meinst, wenn du den Benz dann irgendwo findest, dass dann deine deutschen Nummernschilder in Geschenkpapier auf der Rückbank liegen? Nein, ganz bestimmt nicht. Deshalb brauchst einen identischen Satz Schilder. Sonst kommst du nicht über die Grenzen.“
Ich beugte mich etwas über den Tisch und schaute ihn mitleidig an.
„Was?“, fragte Lui angefressen.
„Warum sollte ich denn nach Deutschland zurückkommen, wenn ich keine Kohle habe?“
„Mann, bist du blöd!“, schnappte mein Freund. „Nach Algerien oder meinetwegen auch nach Spanien geht die Reise dann und endet dort. Ich schick dir ´ne Karte, wenn die Schabe abgekratzt ist. Dann kann´ste wiederkommen.“
„Schon mal davon gehört, dass Zöllner und Polizisten gerne den Ausweis und die Fahrzeugpapiere sehen möchten?“
Der schlaue Lui tat mit den Händen eine beschwichtigende Geste.
„Dazu kommen wir später.“
Aha! Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme. Das wurde ja immer interessanter. Wann hatte er sich diesen ganzen Kram eigentlich ausgedacht?
Lui zeigte mit dem Finger auf mich.
„Hast du schon mal versucht, die Plaketten von einem Autokennzeichen zu entfernen? Ich meine so, dass du sie weiterverwenden kannst?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nö. Warum sollte ich auch?“
„Ich hab´ das vor ein paar Jahren mal mit `nem Kumpel probiert. Seine Karre war nicht durch den TÜV gekommen und für die Reparatur hatte er kein Geld. Nach ein paar Tagen war halb Selm schilderlos. So viele Kennzeichen hatten wir geklaut und verschlissen, bis wir es kapierten: Die Plaketten sind absichtlich so gefertigt, dass selbst beim vorsichtigsten Entfernen immer was am Blech kleben bleibt. Du musst die Plaketten schon mit einer Blechschere ausschneiden. Montag gehst du den Benz ummelden und besorgst dir die neuen Kennzeichen. Dann gehst du in den nächsten Schilderladen und besorgst dir die Kennzeichen noch mal. Und dann …“ Lui holte die Münchener Kennzeichen aus dem Wohnzimmer und setzte sich wieder „… dann kommen diese komischen Näpfe zum Einsatz. Die nieten wir an die Ersatzbleche und kleben die ausgeschnittenen Plaketten mit Sekundenkleber rein. In Algerien oder woanders weit weg von Deutschland fällst du damit vermutlich nicht auf.“
Ich nickte anerkennend. Nicht schlecht, Herr Specht!
„Jetzt zum KFZ-Schein. Der Schein wohlgemerkt und nicht der Brief wird bei einer Kontrolle verlangt. Den neuen Schein kriegst du morgen. Und Übermorgen gehst du mit deinem Brief wieder zum Amt und sagst, dass du den Schein verloren hast. Ist dir aus der Hand geweht und in den Kanal gefallen. Nun brauchst du ein Duplikat. Dir fällt schon die passende Geschichte ein, da bin ich mir sicher!“
Lui lehnte sich entspannt zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und grinste mich breit an. Ich fand, dass mein Freund entscheiden mehr Talent dafür besaß, Autos nach Marokko zu überführen als ich. Schade, dass es zwischen Spanien und Marokko so viel Wasser gab. Ich hätte Lui da unten gut gebrauchen können.
„Gut, Lui. Ist gebongt. Und was fangen wir jetzt mit dem angebrochenen Tag an?“
Lui stand auf und räumte den Tisch ab. Wie nebenbei bemerkte er:
„Du haust dich jetzt in mein Bett und schläfst mindestens zwei Stunden. Du musst fit sein für heute Abend. Wir fahren nach Hagen und ziehen dort die Deppennummer ab. Du brauchst mehr Geld, damit du dich im Fall der Fälle über Wasser halten zu kannst.“

*

Der Zock war nicht sonderlich erfolgreich gewesen. 250 Kröten für jeden. Lui hatte mir seinen Zaster hingehalten und gemeint, ich bräuchte das dringender. Er hätte für den Monat ausgesorgt. Dann fielen wir wie die Steine ins Bett.
Um acht saß ich wieder am Küchentisch. Ungewaschen und hielt mich mit roten und verquollenen Augen an einem Kaffeebecher fest. Lui wollte nicht geweckt werden. Von daher herrschte himmlische Ruhe. Und andererseits war es langweilig. Also machte ich mich vom Acker.
Um Karl um Heizöl und Kanister anzubetteln, war es noch zu früh. Der stand nie vor neun auf, seit er kein Vieh mehr hatte. Also war ich um neun Uhr einer der ersten beim Straßenverkehrsamt und meldete den Wagen um. Schilder anschrauben, einen zweiten Satz kaufen und weiter nach Selm.
Bei Karl gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, hatte ich mir irgendwann abgewöhnt, weil er dann immer bockig wurde und alles dafür tat, dass ich länger blieb. Er war halt einsam. Daraus hatte sich unausgesprochen ein Ritual entwickelt: Er erzählte mir die neuesten Geschichten über die Nachbarschaft – es waren viele Geschichten – und ich hörte ihm aufmerksam zu. Erst, wenn er anfing, sich zu wiederholen, lenkte ich das Gespräch auf meine Anliegen. So wollte ich es diesmal auch machen und nach etwa einer Stunde damit beginnen, Heizöl in die 25-Liter-Kanister abzufüllen, die nutzlos in der Scheune rumlagen.
Als ich auf den Hof fuhr, hatte ich ein komisches Gefühl. Die Sonne lachte, und er war nicht draußen. Ich ging in die Küche und rief nach ihm. Totenstille. Panik packte mich und ich lief in seine Kammer. Er lag im Bett. Mausetot. Ich griff seine Hand. Kalt und schlaff. Ich berührte sein Gesicht. Kalt und steif. Neben seinem Bett stand ein Stuhl. Ich setzte mich und flennte. Hätte ich irgendetwas tun können, wenn ich gestern hier gewesen wäre? Hätte ich seinen Tod verhindern können? Vieleicht hätte ich rechtzeitig einen Krankenwagen gerufen. Dann schüttelte ich mich und schüttelte auch diese Gedanken ab. „Nein Igor! Du konntest nichts für ihn tun. Es hat ihn vor ein paar Stunden einfach im Schlaf erwischt. Die Toten sind tot, und du hast was zu tun!“
Wie in Trance erhob ich mich und schlich in die Scheune. Die Kanister waren schnell gefunden. Vier Stück. Die kleine Schaufel, die in einem Eimer neben dem Tor lag, nahm ich auch gleich mit. Dann nach draußen hinter die Scheune. Dort stand Karls Hoftankstelle. Für seinen Trecker und seinen alten Volvo. Gut gefüllt mit Heizöl. Ich verstaute die Kanister im Kofferraum und versaute mir dabei die Hose. Dann holte meine wenigen Habseligkeiten aus der Dachkammer, packte sie ins Auto, ging zum Haus zurück und rief Karls Hausarzt an. Der Zettel mit seiner Nummer hing neben dem Telefon. Ich wartete, bis der Arzt kam. Das war ich Karl schuldig. Der Arzt kam, dann der Bestatter. Gegen zwölf verließ ich den Hof mit einem Scheißgefühl und versuchte mich an meinen Zeitplan zu halten.
Ich kannte nur ein Geschäft, das Edelzigarren und Ähnliches verkaufte. In Dortmund. In der Nähe vom Stadtgarten. Wenn ich Pech hatte, schloss der Laden um eins. Also los! Eine halbe Stunde später fuhr ich an dem Laden vorbei. Freie Parkplätze Fehlanzeige. Also weiter zum Parkhaus und dann im Sprint zurück. Gegen zehn vor eins stürmte ich ungebremst in den Laden, den Hinweis auf die Öffnungszeiten an der Tür las ich im Laufschritt. Mir blieben noch gut 10 Minuten. Außer Atem schaute ich mich um: Edelzigarren hinter Glas. Einige davon einzeln verpackt in Aluminiumröhrchen. Große, kleine, dicke, dünne. Meine Augen flogen stumm über die Auslagen, Minuten lang. Ich war der einzige Kunde im Laden. Ein Räuspern.
Ich schreckte hoch. Vor mir stand Heinz Ehrhardts Zwilling: Riesenbaby, Kugelkopf, Hornbrille, ängstlicher Blick. Hatte der schon die ganze Zeit dort gestanden?
Er sah absolut geschäftsschädigend aus und rauchte bestimmt auch nicht, was er verkaufte. Als ich ihn anblickte, schaute er verlegen zur Seite. Ich schaute weiter und erblickte mich in einem Spiegel. Ich sah aus wie ein Zombie. Fettige Haare, hektische Flecken im blassen Gesicht, Motorradjacke und eine vor Dreck stehende Hose. Und vermutlich stank ich auch. Nach Schweiß und Heizöl. Wie einer seiner Stammkunden kam ich nicht daher. Eher wie einer, der ihm ein paar aufs Maul haute und Zigarren klaute. „Ein falscher Ton“, dachte ich, „eine falsche Bewegung, und er drückt auf den Alarmknopf.“ Egal. Ich konzentrierte mich wieder auf die Auslagen. Er folgte meinen Blicken. Ich ging vor der Glasvitrine auf und. Er hielt Schritt. Ich schaute ihn bewusst freundlich an und erklärte:
„Alles in Ordnung. Ich suche nur etwas Bestimmtes.“
Nicht, dass ihn das beruhigt hätte. Er schwieg. Ich schwieg. Die Spannung stieg. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und trat nervös auf der Stelle. Der arme Kerl stand Todesängste aus. Er putzte umständlich seine Brille. Ein erneutes Räuspern, das irgendwie auch umständlich klang - der ganze Mensch war ein Umstand – und endlich presste er unter Aufwendung all seiner Kraft diesen einen Satz hervor:
„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“
Ich stöhnte innerlich auf. Hatte ich das nicht schon gesagt?
„Geben Sie mir bitte mal diese beiden Zigarren!“, sagte ich schließlich und zeigte auf zwei unterschiedliche, in Aluminiumröhrchen eingepackte Artikel, die neben einer Kiste „Handelsmarke“ lagen.
Heinz zierte sich. Ich blieb freundlich und gelassen, aber fragt mich nicht, was mich das kostete und legte 15 Mark auf die Glasablage. So teuer war das Scheißzeug nämlich.
In der Annahme, dass ich die Glimmstängel vor dem Kauf beschnuppern wollte, griff er hinter sich in einem Humidor und reichte mir zitternd zwei Zigarren über den Tresen.
„Nein! Geben Sie mir bitte die einzeln verpackten hier!“
Er legte die Edelzigarren zurück in das Schränkchen und klaubte das Geld von der Glasplatte, bevor der in die Vitrine griff.
„Ich interessiere mich vor allem für die Hüllen. Der Inhalt ist mir eigentlich egal. So was rauche ich nicht.“
Der Verkäufer sah mich ungläubig an. Dann tauchte er mit dem Geld in der Hand wortlos hinter der Theke unter. Ich hörte ihn mit einer Plastiktüte rascheln und jede Menge dumpf metallisch klingender Geräusche.
Der Heinz tauchte wieder auf und hielt mir mit hochrotem Kopf eine geöffnete Einkaufstüte unter die Nase. Sie war zur Hälfte gefüllt mit Zigarrenhülsen aller möglichen Kaliber. Atemlos presste er unter Husten und Räuspern hervor, dass viele Kunden die Hülsen zur Entsorgung auf dem Tresen liegen ließen, und ob mir damit geholfen wäre?
Ich wäre Heinz am liebsten über den Tresen weg um den Hals gefallen. Aber ich beließ es dabei, ihn anzustrahlen wie ein Kind den Weihnachtsmann.
 



 
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