Prolog
„Igor, du solltest ein Buch darüber schreiben“, meinte einer der Dusi?-Brüder.
„Ja, genau!“, meinte der andere und nickte.
Wir saßen in Kalles „Borussen-Klause“ am Borsigplatz und spielten Skat. Wie jeden Mittwoch. Ich hatte gerade eine Anekdote aus Marokko zum Besten gegeben und wollte mischen. „Moment mal“, dachte ich und legte die Karten bewusst langsam zurück auf den Tisch. Ich schaute misstrauisch vom einen zum anderen: Slatko und Slavek Dusi?, bosnische Kroaten wie ich, Bürgerkriegsflüchtlinge. Nicht wie ich. Ich lebte schon in Deutschland, als die drüben anfingen, sich gegenseitig umzubringen. Die Dusi?s waren gut 20 Jahre jünger als ich, so um die 40, schwarzes Haar, schwarzer Schnauzer, eine ähnliche Frisur und dieselbe Statur. Slatko oder Slavek. Ich konnte die beiden nie auseinanderhalten, was die Brüder mir nicht krummnahmen. Ich nahm es den beiden ja auch nicht krumm, wenn sie mich verkohlen wollten.
Obwohl … wenn das doppelte Lottchen mich für blöd verkaufte, fingen die das gewöhnlich anders an. Also nein, die Brüder meinten das tatsächlich ernst.
Statt erneut nach den Karten griff ich mir reflexartig an die Brust. Ich fischte nach einer zerknautschten Packung Camel, steckte mir eine Hugo in den Hals und hüllte mich in Rauch und Schweigen. Es musste meinen Landsleuten wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen sein, aber sie warteten geduldig auf eine Antwort. Irgendwann murmelte ich kopfschüttelnd etwas wie „Das kann ich nicht.“ und „Verarschen kann ich mich selber.“ und hob mein leeres Glas.
„Kalle, ein Neues!“
Das war ein klares Signal an die beiden, dass ich mit dem Thema durch war. Ich mischte. Der Tisch wackelte, als ich den Kartenstapel vor dem Lottchen rechts von mir auf den Tisch knallte. Slavek oder Slatko, der rechte jedenfalls, der nicht genickt hatte, ignorierte das und fuhr fort:
„Natürlich kannst du!“
Ich starrte ihn vernichtend an.
„Hör mal! Warum betteln wir dich wohl seit Jahren immer wieder an, etwas über Marokko zu erzählen? Warum vergeht kein Mittwoch ohne eine deiner Geschichten? Weil es einen irren Jux macht, dir zuzuhören, Alter!“
Er beugte sich über den Tisch und sah mich beschwörend an. Ich drehte mich nach links weg, wo mir das andere Lottchen in die Quere kam:
„Igor, ganz gleich, wer dir zuhört, ob wir oder Lui, der Manni aus Hörde, der lange Karl oder irgendein Typ, der neben uns sitzt und zufällig mithorcht …, keiner quakt dazwischen oder glotzt gelangweilt rum oder geht weg, wenn du erzählst!“
„Nein, nein, äh ja“, fiel sein Bruder ein …
– Ein guter Zeitpunkt, euch meine Kumpel vorstellen und etwas zu ihren Namen erklären: Lui kommt aus Selm, nennt sich seit seinem achten Lebensjahr so und hat sich auch nie anders geschrieben. Er ist mein allerbester Freund, Motorradschrauber und genauso alt wie ich. Bürgerlich heißt er Ludwig, ein Name, den er nicht ausstehen kann. Auf den Tod nicht. Willst du Krieg? Dann nenn ihn Ludwig!
Der Manni aus Hörde ist kein Adeliger, obwohl ihn jeder dritte hier „Manni von Hörde“ nennt. Was daran liegt, dass wir hier in Dortmund sind. Warum der so heißt? Weil wir noch einen Manni aus Eving kennen, den keiner mehr ab kann. Wenn also früher, nachdem der Manni aus Eving bei allen verschissen hatte, einer vom Manni sprach, knurrte garantiert ein anderer „Welcher?“. Die Antwort lautete zwar meisten „Aus Hörde.“, aber auf die Dauer nervte dieses Frage-und-Antwort-Spiel natürlich. Logisch, dass wir nach einer Weile von vornherein vom „Manni aus Hörde“ sprachen, wenn es über ihn mal was zu reden gab. Die Unterscheidung vom anderen Manni ist zwingend notwendig, solange dieser die Chuzpe besitzt, nach Heimspielen über den Borsig zu latschen, Zoff zu machen und am Ende jedes Mal mit einer dicken Lippe nach Hause zu schleichen. Das macht alles keinen Sinn und ist für ihn obendrein ein Umweg. Chuzpe, wie gesagt. Oder doch eher Schwachsinn?
Man muss kein Prophet sein, um sich auszumalen, dass unser Manni irgendwann mit „Manni aus Hörde“ angesprochen wurde. Er nahm es mit Humor, was ja an und für sich nicht verkehrt ist, in seinem Fall aber ein fataler Fehler war. Wenn du einen Spitznamen nicht von Anfang an konsequent ignorierst, dann heißt du so. Und unser Manni hatte leider das falsche Signal gesetzt und sich damit die Suppe versalzen. Er merkte das und war bedient. Als ob das unsere Schuld war! Eine Zeit lang kam Wort mehr über seine Lippen, und beim Skat reizte er schriftlich.
Natürlich regte er sich nach zwei, drei Wochen wieder ab. Auf seinen neuen Namen aber reagierte er jahrelang nicht. Zu spät, denn es war längst seiner. Vor etwa einem Monat stellte er sich einem Neuen spontan als „Manni aus Hörde“ vor und kapierte erst, was geschehen war, als wir lachend unterm Tisch lagen.
Ansonsten fällt der Manni aus Hörde noch dadurch aus dem Rahmen, weil er als einziger seit jeher einer legalen Beschäftigung nachgeht. Er ist seit 40 Jahren im selben Autohaus beschäftigt und derart arbeitsgeil, dass er selbst zum Skat um 20 Uhr nicht immer pünktlich kommt. Wegen ihm sind Gespräche über Autos am Tisch tabu. Wir mussten ihm ernsthaft mit dem Ausschluss drohen, damit beim Skat keine Autogeschichten auf den Tisch kommen. Seine Beisetzung, das ist eine beschlossene Sache, wird stilvoll auf einem Autofriedhof stattfinden.
Der lange Karl ist nicht größer als Einsfünfundsechzig. Mehr gibt es über ihn auch nicht zu sagen, weil wir ihn nur mittwochs zu Gesicht kriegen, und weil er nur 18, 20, zwo und 0 sagt. Denn nach 0 ist bei ihm in der Regel Schluss. Er heißt so, weil es da noch den anderen Karl gab, der ganz schlimm mit Bechterev oder wie das heißt zu tun hatte und beim Skat bequem unterm Hocker stehen konnte. Und das wurde bei dem anderen Karl nicht besser. Irgendwann betrat er die Klause nur noch kugelnd und trank sein Bier mit ´nem Strohhalm. Verstehen konnte ihn kein Schwein mehr. Nicht, weil er unterm Hocker stand, sondern, weil er nur noch in seinen Kragen hinein nuschelte. Als der Karl eines Tages von uns rollte, mochte den langen Karl keiner mehr umtaufen. Das wäre irgendwie pietätlos gewesen. Und nun weiter im Text. -
„… Ganz im Gegenteil! Die kriegen alle große Ohren und ´nen langen Hals, wenn du loslegst!“
Er schaute seinen Bruder an.
„Erinnerst du dich an den Typen letzte Woche? Den aus Herdecke?“ Der andere nickte wild, schlug sich prustend auf die Schenkel und meinte zu mir:
„Weißt du nicht mehr? Irgendwann sagte er doch, du musst ihn mal aufs Klo lassen, sonst pisst er sich ins Hemd. Und du solltest erst weitererzählen, wenn er wieder am Tresen steht.“
Die Brüder strahlten mich an. Für sie war ich nun überzeugt oder bekehrt oder so ähnlich.
Ich grunzte unwillig und winkte ab.
„Nee, nee. Da hab‘ ich ja auch was über Herdecke erzählt. Die Sache mit der Autowerkstatt in Schnee (Dortmund-Schnee, Stadtteil an der Grenze zu Herdecke). Und der Pfeifenkopp wohnt doch da um die Ecke. Logisch, dass der zugehört hat!“
„Hör auf zu krücken, Igor! Deine krummen Dinger in Schnee hatten auch was mit Marokko zu tun!“, schnarrte es von rechts. Kalle stand da mit meinem Bier. Ich wurde fuchsig.
„Was mischt du dich da eigentlich ein?“, schnauzte ich ihn an und fuhr hoch. Mein Stuhl kippte polternd nach hinten. Ich baute meine nicht mehr sehr respektablen Einsfünfundneunzig vor ihm auf, bereit ihn mit der Wucht von 160 kg zu klatschen.
In der Klause wurde es mucksmäuschenstill. Alle, einschließlich der Borussia-Spieler an der Wand, hörten mein asthmatisches Pfeifen und starrten mich an. Kalle stand, wie in solchen Momenten üblich, einfach nur da. Abwartend, innerlich und äußerlich unbewegt. Immerhin misst er auch knapp zwei Meter. Ich hatte zwar einen leichten Gewichtsvorteil, aber darauf hätte er geschissen und einfach zurückgeschossen.
„Reg dich ab!“, knurrte er schließlich, weil von mir nichts kam und stellte mein Bier auf den Tisch. Er verzierte meinen Deckel mit einem weiteren Strich und brummte:
„Ich hör dir auch gerne zu. Und meins´te, der Kerl aus Ostende (Stadtteil Herdeckes, der an Dortmund grenzt) hat einfach nur so gewartet, bis er sich einpinkelt? Du erzählst gut, und deine Storys sind gut. Wenn‘de darüber´n Buch schreibst, krieg´ste `n Dortmunder Kulturpreis, weil dann am Borsigplatz neben der Bild noch was And´res gelesen wird!“
„Blödsinn“, dachte ich, „alles Blödsinn!“ Die haben sich gegen mich verschworen. Ich und ein Buch schreiben! Allein schon die Vorstellung ist doch Stoff für einen Science fiction-Roman!
Ich hüllte mich wieder in Rauch und Schweigen. Kalle ist Nichtraucher. Dem würde das Rumstehen im Qualm schon noch zu blöd werden! Als er endlich Leine zog, schimpfte er was über einen kroatischen Flachkopf.
„Schreib doch selber, du Borsig-Depp!“ bellte ich hinter ihm her und dann zum rechten Dusi?:
„Abheben!“
Der Geräuschpegel in der Klause bewegte sich wieder in Richtung Normalität. Für mich allerdings war nichts mehr normal. Ich weilte völlig von der Rolle irgendwo in Afrika. Ihr müsst wissen, dass ich ein Füllhorn voller Erinnerungen an jene Zeit habe: Dramatisches, Skurriles, Witziges, Ekeliges … Und ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals ein und demselben Typen eine Geschichte zweimal erzählt zu haben, es sei denn, auf ausdrücklichen Wunsch. Ein Füllhorn eben!
Mein Aufenthalt in Afrika führte dazu, dass die Dusi?-Säcke mich bis aufs Hemd auszogen. Gegen 22 Uhr hatte ich die Schnauze voll und schmiss ich die Karten in die Ecke. Die beiden rechneten grinsend mit mir ab. 35,85 €. Danach hielt Kalle die Hand auf. Ich kramte in meinen Hosentaschen, nur um festzustellen, dass ich blank war. Ich musste anschreiben lassen! Das hatte es bisher noch nicht gegeben, genauso wenig wie die Tatsache, dass Slatko und Slavek beim Skat gewannen! Wütend und kurzatmig stampfte ich zum Ausgang.
Draußen sog ich abwechselnd an meiner Zigarette und an meiner Asthma-Dose. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so wütend vom Skat nach Hause getorkelt bin.
*
Am nächsten Mittwoch saß ich mit Lui, dem Manni aus Hörde und dem langen Karl zusammen bei Kalle. Die Dusi?s hatten wegen Reichtum abgesagt. Wir sind ja selten komplett, und wenn doch mal, dann spielen wir an zwei Tischen. Heute spielten wir zu viert. Lui grinste in einer Tour, egal, ob er gewann oder verlor oder aussetzte. Fragen, was los war, erübrigten sich. Dafür kenne ich ihn zu gut. Ich nahm Grinsebacke mit zusammengekniffenen Augen ins Visier und schwang wortlos drohend den Zeigefinger.
„Lui, Lui!“ dachte ich. „Du bist auch nicht mehr der von früher.“ Ein dürrer Hering ist er zwar noch immer. Das liegt an der urigen Trennkost, die er sich seit Jahren einverleibt: morgens Obst und Joghurt, und ab Mittag Bier bis zum Abwinken. Sein Untergewicht ist allerdings so ziemlich das Einzige, das er über die Zeit gerettet hat. Der einst nicht zu bändigende Blondschopf ist grau-schütter und zählt noch zehn, höchstens elf zurückgekämmte Härchen. Auch von seinem Gebiss hat der Zahn der Zeit nicht gelassen. Luis blaue Augen blitzen zwar immer noch wie einst, jetzt aber aus tiefen Höhlen, und wenn sich sein Gesicht zahnlos grinsend in Falten legt, gleicht es einem Schrumpfkopf, frei von allem, was man gemeinhin attraktiv und ansprechend nennt.
Ich kriegte nur am Rande mit, dass der lange Karl und Lui reizten, bis die Lichter ausgingen. Luis Anblick hatte mich zu einer Unzahl von Vergleichen aus der Tierwelt inspiriert. Ich war bei 20 geistesabwesend ausgestiegen und näher ans Geschehen, sprich an Lui herangerückt. Mein massiger Oberkörper ruhte, die Arme darunter verschränkt, auf dem Tisch, und ihn im Visier ergötzte ich mich an allem, was Brehms Tierleben von A bis Z zu bieten hatte. Als ich bei „M“ wie Makake angelangt war, konzentrierte sich Lui nur noch aufs Spiel. Besser gesagt verlegte er sich aufs Ignorieren. Es fällt aber keinem leicht, mich zu ignorieren, wenn mein Alabasterkörper gut ein Viertel des gemeinsamen Tisches bedeckt. Und Lui erst recht nicht, der meine Gedanken genauso gut lesen kann wie ich seine.
Aber Lui hielt sich nicht nur wacker, er war richtig gut und reizte unbeirrt weiter. Ich schreckte auf, als der lange Karl „60!“ schrie und der Speichel an seinem Mund Fäden zog. Armer Irrer!
Von der Theke aus schauten sie zu uns rüber. Lui hielt den Leuten seine Karten hin und lachte.
Bei 63 zog sich sein Gesicht in Zornesfalten zusammen, weil der lange Karl das Spiel bekam.
Karls Grand Hand setzte er freudig erregt und wieder geglättet ein „Contra!“ entgegen. Der Manni aus Hörde, der dem ganzen Theater als Statist beiwohnte, meinte vorwurfsvoll:
„Karl, ich verstehe, warum du dir seit Jahren kein Auto leisten kannst.“ und hatte die Lacher der ganzen Klause auf seiner Seite.
Der lange Karl saß Mittelhand, und das Spiel lief von Anfang an nicht gut für ihn. Zuerst zog der frisch gebügelte Lui ihm die Buben raus und fand dabei auch sein blödes Grinsen wieder. Dann spielte er eine Herzflöte runter. Nur mal so, um festzustellen, wie stabil seine Gesichtszüge waren, bediente ich beim ersten Herzstich nicht und warf gegen Ende Herz ab. Der lange Karl checkte das sofort und freute sich einen Ast, weil wir jeder mit 120 Cent baden gingen.
Lui aber blieb cool und kommentierte meine Husarentat mit den Worten:
„Du kannst dich meinetwegen auch auf den Kopf stellen und mit dem Arsch Fliegen fangen, mein Lieber! Aber schreib das Buch!“
Ich verließ die Klause wortlos ohne zu bezahlen, ging nach Hause und am nächsten Mittwoch nicht zum Skat.
„Igor, du solltest ein Buch darüber schreiben“, meinte einer der Dusi?-Brüder.
„Ja, genau!“, meinte der andere und nickte.
Wir saßen in Kalles „Borussen-Klause“ am Borsigplatz und spielten Skat. Wie jeden Mittwoch. Ich hatte gerade eine Anekdote aus Marokko zum Besten gegeben und wollte mischen. „Moment mal“, dachte ich und legte die Karten bewusst langsam zurück auf den Tisch. Ich schaute misstrauisch vom einen zum anderen: Slatko und Slavek Dusi?, bosnische Kroaten wie ich, Bürgerkriegsflüchtlinge. Nicht wie ich. Ich lebte schon in Deutschland, als die drüben anfingen, sich gegenseitig umzubringen. Die Dusi?s waren gut 20 Jahre jünger als ich, so um die 40, schwarzes Haar, schwarzer Schnauzer, eine ähnliche Frisur und dieselbe Statur. Slatko oder Slavek. Ich konnte die beiden nie auseinanderhalten, was die Brüder mir nicht krummnahmen. Ich nahm es den beiden ja auch nicht krumm, wenn sie mich verkohlen wollten.
Obwohl … wenn das doppelte Lottchen mich für blöd verkaufte, fingen die das gewöhnlich anders an. Also nein, die Brüder meinten das tatsächlich ernst.
Statt erneut nach den Karten griff ich mir reflexartig an die Brust. Ich fischte nach einer zerknautschten Packung Camel, steckte mir eine Hugo in den Hals und hüllte mich in Rauch und Schweigen. Es musste meinen Landsleuten wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen sein, aber sie warteten geduldig auf eine Antwort. Irgendwann murmelte ich kopfschüttelnd etwas wie „Das kann ich nicht.“ und „Verarschen kann ich mich selber.“ und hob mein leeres Glas.
„Kalle, ein Neues!“
Das war ein klares Signal an die beiden, dass ich mit dem Thema durch war. Ich mischte. Der Tisch wackelte, als ich den Kartenstapel vor dem Lottchen rechts von mir auf den Tisch knallte. Slavek oder Slatko, der rechte jedenfalls, der nicht genickt hatte, ignorierte das und fuhr fort:
„Natürlich kannst du!“
Ich starrte ihn vernichtend an.
„Hör mal! Warum betteln wir dich wohl seit Jahren immer wieder an, etwas über Marokko zu erzählen? Warum vergeht kein Mittwoch ohne eine deiner Geschichten? Weil es einen irren Jux macht, dir zuzuhören, Alter!“
Er beugte sich über den Tisch und sah mich beschwörend an. Ich drehte mich nach links weg, wo mir das andere Lottchen in die Quere kam:
„Igor, ganz gleich, wer dir zuhört, ob wir oder Lui, der Manni aus Hörde, der lange Karl oder irgendein Typ, der neben uns sitzt und zufällig mithorcht …, keiner quakt dazwischen oder glotzt gelangweilt rum oder geht weg, wenn du erzählst!“
„Nein, nein, äh ja“, fiel sein Bruder ein …
– Ein guter Zeitpunkt, euch meine Kumpel vorstellen und etwas zu ihren Namen erklären: Lui kommt aus Selm, nennt sich seit seinem achten Lebensjahr so und hat sich auch nie anders geschrieben. Er ist mein allerbester Freund, Motorradschrauber und genauso alt wie ich. Bürgerlich heißt er Ludwig, ein Name, den er nicht ausstehen kann. Auf den Tod nicht. Willst du Krieg? Dann nenn ihn Ludwig!
Der Manni aus Hörde ist kein Adeliger, obwohl ihn jeder dritte hier „Manni von Hörde“ nennt. Was daran liegt, dass wir hier in Dortmund sind. Warum der so heißt? Weil wir noch einen Manni aus Eving kennen, den keiner mehr ab kann. Wenn also früher, nachdem der Manni aus Eving bei allen verschissen hatte, einer vom Manni sprach, knurrte garantiert ein anderer „Welcher?“. Die Antwort lautete zwar meisten „Aus Hörde.“, aber auf die Dauer nervte dieses Frage-und-Antwort-Spiel natürlich. Logisch, dass wir nach einer Weile von vornherein vom „Manni aus Hörde“ sprachen, wenn es über ihn mal was zu reden gab. Die Unterscheidung vom anderen Manni ist zwingend notwendig, solange dieser die Chuzpe besitzt, nach Heimspielen über den Borsig zu latschen, Zoff zu machen und am Ende jedes Mal mit einer dicken Lippe nach Hause zu schleichen. Das macht alles keinen Sinn und ist für ihn obendrein ein Umweg. Chuzpe, wie gesagt. Oder doch eher Schwachsinn?
Man muss kein Prophet sein, um sich auszumalen, dass unser Manni irgendwann mit „Manni aus Hörde“ angesprochen wurde. Er nahm es mit Humor, was ja an und für sich nicht verkehrt ist, in seinem Fall aber ein fataler Fehler war. Wenn du einen Spitznamen nicht von Anfang an konsequent ignorierst, dann heißt du so. Und unser Manni hatte leider das falsche Signal gesetzt und sich damit die Suppe versalzen. Er merkte das und war bedient. Als ob das unsere Schuld war! Eine Zeit lang kam Wort mehr über seine Lippen, und beim Skat reizte er schriftlich.
Natürlich regte er sich nach zwei, drei Wochen wieder ab. Auf seinen neuen Namen aber reagierte er jahrelang nicht. Zu spät, denn es war längst seiner. Vor etwa einem Monat stellte er sich einem Neuen spontan als „Manni aus Hörde“ vor und kapierte erst, was geschehen war, als wir lachend unterm Tisch lagen.
Ansonsten fällt der Manni aus Hörde noch dadurch aus dem Rahmen, weil er als einziger seit jeher einer legalen Beschäftigung nachgeht. Er ist seit 40 Jahren im selben Autohaus beschäftigt und derart arbeitsgeil, dass er selbst zum Skat um 20 Uhr nicht immer pünktlich kommt. Wegen ihm sind Gespräche über Autos am Tisch tabu. Wir mussten ihm ernsthaft mit dem Ausschluss drohen, damit beim Skat keine Autogeschichten auf den Tisch kommen. Seine Beisetzung, das ist eine beschlossene Sache, wird stilvoll auf einem Autofriedhof stattfinden.
Der lange Karl ist nicht größer als Einsfünfundsechzig. Mehr gibt es über ihn auch nicht zu sagen, weil wir ihn nur mittwochs zu Gesicht kriegen, und weil er nur 18, 20, zwo und 0 sagt. Denn nach 0 ist bei ihm in der Regel Schluss. Er heißt so, weil es da noch den anderen Karl gab, der ganz schlimm mit Bechterev oder wie das heißt zu tun hatte und beim Skat bequem unterm Hocker stehen konnte. Und das wurde bei dem anderen Karl nicht besser. Irgendwann betrat er die Klause nur noch kugelnd und trank sein Bier mit ´nem Strohhalm. Verstehen konnte ihn kein Schwein mehr. Nicht, weil er unterm Hocker stand, sondern, weil er nur noch in seinen Kragen hinein nuschelte. Als der Karl eines Tages von uns rollte, mochte den langen Karl keiner mehr umtaufen. Das wäre irgendwie pietätlos gewesen. Und nun weiter im Text. -
„… Ganz im Gegenteil! Die kriegen alle große Ohren und ´nen langen Hals, wenn du loslegst!“
Er schaute seinen Bruder an.
„Erinnerst du dich an den Typen letzte Woche? Den aus Herdecke?“ Der andere nickte wild, schlug sich prustend auf die Schenkel und meinte zu mir:
„Weißt du nicht mehr? Irgendwann sagte er doch, du musst ihn mal aufs Klo lassen, sonst pisst er sich ins Hemd. Und du solltest erst weitererzählen, wenn er wieder am Tresen steht.“
Die Brüder strahlten mich an. Für sie war ich nun überzeugt oder bekehrt oder so ähnlich.
Ich grunzte unwillig und winkte ab.
„Nee, nee. Da hab‘ ich ja auch was über Herdecke erzählt. Die Sache mit der Autowerkstatt in Schnee (Dortmund-Schnee, Stadtteil an der Grenze zu Herdecke). Und der Pfeifenkopp wohnt doch da um die Ecke. Logisch, dass der zugehört hat!“
„Hör auf zu krücken, Igor! Deine krummen Dinger in Schnee hatten auch was mit Marokko zu tun!“, schnarrte es von rechts. Kalle stand da mit meinem Bier. Ich wurde fuchsig.
„Was mischt du dich da eigentlich ein?“, schnauzte ich ihn an und fuhr hoch. Mein Stuhl kippte polternd nach hinten. Ich baute meine nicht mehr sehr respektablen Einsfünfundneunzig vor ihm auf, bereit ihn mit der Wucht von 160 kg zu klatschen.
In der Klause wurde es mucksmäuschenstill. Alle, einschließlich der Borussia-Spieler an der Wand, hörten mein asthmatisches Pfeifen und starrten mich an. Kalle stand, wie in solchen Momenten üblich, einfach nur da. Abwartend, innerlich und äußerlich unbewegt. Immerhin misst er auch knapp zwei Meter. Ich hatte zwar einen leichten Gewichtsvorteil, aber darauf hätte er geschissen und einfach zurückgeschossen.
„Reg dich ab!“, knurrte er schließlich, weil von mir nichts kam und stellte mein Bier auf den Tisch. Er verzierte meinen Deckel mit einem weiteren Strich und brummte:
„Ich hör dir auch gerne zu. Und meins´te, der Kerl aus Ostende (Stadtteil Herdeckes, der an Dortmund grenzt) hat einfach nur so gewartet, bis er sich einpinkelt? Du erzählst gut, und deine Storys sind gut. Wenn‘de darüber´n Buch schreibst, krieg´ste `n Dortmunder Kulturpreis, weil dann am Borsigplatz neben der Bild noch was And´res gelesen wird!“
„Blödsinn“, dachte ich, „alles Blödsinn!“ Die haben sich gegen mich verschworen. Ich und ein Buch schreiben! Allein schon die Vorstellung ist doch Stoff für einen Science fiction-Roman!
Ich hüllte mich wieder in Rauch und Schweigen. Kalle ist Nichtraucher. Dem würde das Rumstehen im Qualm schon noch zu blöd werden! Als er endlich Leine zog, schimpfte er was über einen kroatischen Flachkopf.
„Schreib doch selber, du Borsig-Depp!“ bellte ich hinter ihm her und dann zum rechten Dusi?:
„Abheben!“
Der Geräuschpegel in der Klause bewegte sich wieder in Richtung Normalität. Für mich allerdings war nichts mehr normal. Ich weilte völlig von der Rolle irgendwo in Afrika. Ihr müsst wissen, dass ich ein Füllhorn voller Erinnerungen an jene Zeit habe: Dramatisches, Skurriles, Witziges, Ekeliges … Und ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals ein und demselben Typen eine Geschichte zweimal erzählt zu haben, es sei denn, auf ausdrücklichen Wunsch. Ein Füllhorn eben!
Mein Aufenthalt in Afrika führte dazu, dass die Dusi?-Säcke mich bis aufs Hemd auszogen. Gegen 22 Uhr hatte ich die Schnauze voll und schmiss ich die Karten in die Ecke. Die beiden rechneten grinsend mit mir ab. 35,85 €. Danach hielt Kalle die Hand auf. Ich kramte in meinen Hosentaschen, nur um festzustellen, dass ich blank war. Ich musste anschreiben lassen! Das hatte es bisher noch nicht gegeben, genauso wenig wie die Tatsache, dass Slatko und Slavek beim Skat gewannen! Wütend und kurzatmig stampfte ich zum Ausgang.
Draußen sog ich abwechselnd an meiner Zigarette und an meiner Asthma-Dose. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so wütend vom Skat nach Hause getorkelt bin.
*
Am nächsten Mittwoch saß ich mit Lui, dem Manni aus Hörde und dem langen Karl zusammen bei Kalle. Die Dusi?s hatten wegen Reichtum abgesagt. Wir sind ja selten komplett, und wenn doch mal, dann spielen wir an zwei Tischen. Heute spielten wir zu viert. Lui grinste in einer Tour, egal, ob er gewann oder verlor oder aussetzte. Fragen, was los war, erübrigten sich. Dafür kenne ich ihn zu gut. Ich nahm Grinsebacke mit zusammengekniffenen Augen ins Visier und schwang wortlos drohend den Zeigefinger.
„Lui, Lui!“ dachte ich. „Du bist auch nicht mehr der von früher.“ Ein dürrer Hering ist er zwar noch immer. Das liegt an der urigen Trennkost, die er sich seit Jahren einverleibt: morgens Obst und Joghurt, und ab Mittag Bier bis zum Abwinken. Sein Untergewicht ist allerdings so ziemlich das Einzige, das er über die Zeit gerettet hat. Der einst nicht zu bändigende Blondschopf ist grau-schütter und zählt noch zehn, höchstens elf zurückgekämmte Härchen. Auch von seinem Gebiss hat der Zahn der Zeit nicht gelassen. Luis blaue Augen blitzen zwar immer noch wie einst, jetzt aber aus tiefen Höhlen, und wenn sich sein Gesicht zahnlos grinsend in Falten legt, gleicht es einem Schrumpfkopf, frei von allem, was man gemeinhin attraktiv und ansprechend nennt.
Ich kriegte nur am Rande mit, dass der lange Karl und Lui reizten, bis die Lichter ausgingen. Luis Anblick hatte mich zu einer Unzahl von Vergleichen aus der Tierwelt inspiriert. Ich war bei 20 geistesabwesend ausgestiegen und näher ans Geschehen, sprich an Lui herangerückt. Mein massiger Oberkörper ruhte, die Arme darunter verschränkt, auf dem Tisch, und ihn im Visier ergötzte ich mich an allem, was Brehms Tierleben von A bis Z zu bieten hatte. Als ich bei „M“ wie Makake angelangt war, konzentrierte sich Lui nur noch aufs Spiel. Besser gesagt verlegte er sich aufs Ignorieren. Es fällt aber keinem leicht, mich zu ignorieren, wenn mein Alabasterkörper gut ein Viertel des gemeinsamen Tisches bedeckt. Und Lui erst recht nicht, der meine Gedanken genauso gut lesen kann wie ich seine.
Aber Lui hielt sich nicht nur wacker, er war richtig gut und reizte unbeirrt weiter. Ich schreckte auf, als der lange Karl „60!“ schrie und der Speichel an seinem Mund Fäden zog. Armer Irrer!
Von der Theke aus schauten sie zu uns rüber. Lui hielt den Leuten seine Karten hin und lachte.
Bei 63 zog sich sein Gesicht in Zornesfalten zusammen, weil der lange Karl das Spiel bekam.
Karls Grand Hand setzte er freudig erregt und wieder geglättet ein „Contra!“ entgegen. Der Manni aus Hörde, der dem ganzen Theater als Statist beiwohnte, meinte vorwurfsvoll:
„Karl, ich verstehe, warum du dir seit Jahren kein Auto leisten kannst.“ und hatte die Lacher der ganzen Klause auf seiner Seite.
Der lange Karl saß Mittelhand, und das Spiel lief von Anfang an nicht gut für ihn. Zuerst zog der frisch gebügelte Lui ihm die Buben raus und fand dabei auch sein blödes Grinsen wieder. Dann spielte er eine Herzflöte runter. Nur mal so, um festzustellen, wie stabil seine Gesichtszüge waren, bediente ich beim ersten Herzstich nicht und warf gegen Ende Herz ab. Der lange Karl checkte das sofort und freute sich einen Ast, weil wir jeder mit 120 Cent baden gingen.
Lui aber blieb cool und kommentierte meine Husarentat mit den Worten:
„Du kannst dich meinetwegen auch auf den Kopf stellen und mit dem Arsch Fliegen fangen, mein Lieber! Aber schreib das Buch!“
Ich verließ die Klause wortlos ohne zu bezahlen, ging nach Hause und am nächsten Mittwoch nicht zum Skat.