Die Kette

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Retep

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Und er sah den kleinen Elefanten da stehen. Mit einer dünnen Kette hatten sie ein Bein von ihm an einen Pfahl aus Holz angebunden. Er konnte nicht weglaufen.
Später, wenn er groß und stark war, würde die dünne Kette ausreichen, um ihn festzuhalten. Er würde niemals wissen, dass er sie zerreißen konnte.





Die Kette



I

An seinem vierten Geburtstag war sein Vater mit seinen beiden Brüdern zum Fußball gegangen war, ihn hatte niemand gefragt, ob er mitgehen wolle, seine Mutter war angeblich zu einer Freundin gefahren.
Er saß alleine mit einem Geschenk auf dem Fußboden seines Zimmers, ein Geschenk, dass er sich nie gewünscht hatte, ein kleiner Plüschelefant.
Ein Feuerwehrauto wollte er haben.
Karin, das Dienstmädchen, ging mit ihm ein Eis essen.

An seinen ersten Schultag, hatte niemand Zeit gehabt, ihn zu begleiten. Die anderen Kinder waren mit ihren Eltern gekommen, trugen große Schultüten, hatten neue Schulranzen.
Karin hatte ihn hingebracht, eine Schultüte hatte er nicht, sein Schulranzen war schon ziemlich abgenutzt, einer seiner Brüder hatte ihn jahrelang benutzt.
Eine Stunde hatten sie bei einer alten Lehrerin Unterricht, etwas malen sollten sie. Alle hatten über seine abgebrochenen Farbstifte gelacht.
Die anderen wurden von ihren Eltern abgeholt, er stand zunächst alleine vor dem Schultor, bis dann Karin endlich kam.
Seine Mutter fand ihn dann am späten Nachmittag, er saß zu Hause auf der Treppe vor dem Haus und war eingeschlafen. Den Plüschelefanten hielt er im Arm.
Sie wollte nicht wissen, wie es am ersten Schultag gewesen war, brachte ihn ins Bett.

Was er dann in der Schule machte, hatte niemanden interessiert. Alle waren mit sich selbst beschäftigt. Ein Bruder ging aufs Gymnasium, der andere studierte Medizin, sollte Arzt werden wie sein Vater.
Er war das fünfte Rad am Wagen, keiner hatte ihn gewollt, er wurde wenig beachtet, nur geduldet.
Alles, was er anfangen wollte, wurde abgelehnt. „Das kannst du sowieso nicht!“
Dass er aufs Gymnasium gehen sollte wie seine Brüder, kam überhaupt nicht in Frage.
„Das kann der Kleine sowieso nicht“, hörte er immer wieder, „der braucht einen praktischen Beruf.“
Das hatte er so oft gehört, dass er es schließlich selbst glaubte.

Niemand hatte Zeit, sein Vater kam immer erst nachts nach Hause, später merkte er, dass er neben seinem anstrengenden Beruf, er war Chirurg, mit einer Freundin viel Zeit verbrachte. Seine Mutter war zwar Hausfrau, aber nie zu Hause, hatte auch einen Freund.
Bei Diskussionen im Kreis der Familie erwartete niemand, dass er seine Meinung sagte.
Er wurde immer stiller, hatte kaum Freunde. Dass er viel las, merkte niemand, Bücher bekam er nicht geschenkt, wozu auch, las alles aus der Bibliothek seines Vaters, vieles verstand er zunächst nicht.

Als er dann fünfzehn war, brachte ihn sein Vater als Gehilfe in einer Eisenwarenhandlung unter. Hier arbeitete er still und zuverlässig, machte bald auch die gesamte Buchhaltung. Herr Deutschmann, sein Chef, schaute ihn oft nachdenklich an, sprach aber wenig mit ihm.
Sein Lohn war zwar gering, aber er brauchte nicht viel, wohnte immer noch bei seinen Eltern.
Für Geld, das er übrig hatte, kaufte er Bücher, er erschaffte sich allmählich eine Traumwelt, in der er ein Held sein konnte.
Gern hätte er auch eine Freundin gehabt wie andere Jungen in seinem Alter. Aber wer würde schon mit ihm etwas anfangen wollen.





II

Dann fing er an, Tennis zu spielen. Er hatte öfter am Zaun des Tennisplatzes gestanden und zugeschaut. Hübsche Mädchen waren da.
Seine Mutter meldete ihn an. Er merkte, dass sie froh war, ihn los zu haben.
Sein Trainer sagte ihm, dass er Begabung und Talent für diesen Sport hätte.
Nach zwei Jahren gewann er mit 17 Jahren die Clubmeisterschaft.
Sein Vater war ausnahmsweise mit zum Endspiel gekommen und meinte:
„Na ja, das war ganz gut, aber das wird auch nichts werden. In diesem Dorf die Meisterschaft zu gewinnen, ist nicht schwer. Um mehr zu erreichen müsse er mehr Talent haben“.
Er glaubte ihm und hörte auf, Tennis zu spielen.


III

Er merkte, dass er vieles nicht verstand, dachte, dass er nicht ewig als Gehilfe in einem Laden arbeiten könnte, finanziell war er zwar versorgt, seine Eltern erhöhten seinen bescheidenen Lohn.
Sein Freund Uli, der mit ihm zusammen im Eisenwarenladen arbeitete, besuchte Abendkurse, wollte das Abitur in drei Jahren machen.
Herr Deutschmann fragte ihn, ob er nicht auch lieber etwas anderes machen wolle, als sein Leben lang bei ihm zu arbeiten.
Er schrieb sich auch in Abendkurse ein, obwohl sein Vater sagte, dass das zu schwer für ihn sei.
Alles interessierte ihn, er lernte die Welt aus einem anderen Blickwinkel kennen, machte gute Fortschritte. Wachte auf.
Im letzten Jahr hatte er Schwierigkeiten im Fach Mathematik und bat seinen Bruder ihm zu helfen, ihm etwas zu erklären.
Sein Vater kam dazu, hörte zu, schüttelte den Kopf und sagte: „Ich habe ja gleich gesagt, dass das alles wenig Sinn macht. Das kannst du nicht, es ist zu schwer für dich“.
Er glaubte ihm und meldete sich vom Kurs ab, obwohl seine Lehrer ihm davon abrieten.


IV

Seine Mutter meldete ihn zu einem Tanzkurs an, war besorgt, dass er keine Freundin hatte. Sein Freund Uli nahm auch teil.
Er hatte Magdalena kennen gelernt und verliebte sich in sie. Oft gingen sie zusammen spazieren, küssten sich auch.
Es war klar, dass er den Abschlussball mit ihr machen würde.
Zum ersten Mal in seinem Leben fing er an sich etwas zuzutrauen.

Dann sahen sie sich seltener, Magdalena hatte immer etwas anderes zu tun, sie sagte ihm dann, dass sie den Schlussball mit Uli zusammen machen würde.
Er konnte sie verstehen und meldete sich vom Tanzkurs ab.


V

Diesmal war alles anders. Sein Vater hatte ihn zu einem Hausfest eingeladen.
Seine Mutter war zu einer Freundin gefahren.
Zum ersten Mal würde er dabei sein. Sogar einen neuen Anzug hatte man ihm gekauft. Möglichst wenig reden solle er, hatte sein Vater ihm eingeschärft.
Moses stand alleine am Fenster und nippte an einem Drink, er war Alkohol nicht gewöhnt. Er schaute die eintretenden Gäste an, Arbeitskollegen seines Vaters mit ihren Gattinnen in Anzügen und Abendkleidern. Er hoffte, dass der Abend schnell zu Ende ginge, fühlte sich unsicher, strich sich über seine langen blonden Haare, die ihm immer wieder über das Gesicht fielen.
In seinem neuen, dunklen Anzug fühlte er sich nicht wohl, kam sich eingezwängt vor, obwohl er schlank war. Er war an lockere, bequeme Kleidung gewöhnt.
Er versuchte kleiner zu erscheinen, als er war, stand immer etwas gebückt da, als wenn er etwas vom Boden aufheben wollte.

Dann kam sie auf ihn zu, sie ging fast wie eine Tänzerin, fast schwebend, mit kleinen Schritten. Ihm fielen ihre langen roten Haare auf, die weit über ihre Schultern reichten, sehr gerade ging sie, bewegte den Kopf immer wieder hin und her, ihr Haar flog von einer Schulter zu anderen.
Sie gab ihm die Hand, stellte sich als Praktikantin seines Vater vor, Carla Manshold, und er sah, dass sie grüne Augen hatte. Sie schaute unruhig, fast ein wenig unsicher umher, immer wieder seinen Vater sah sie an.
Mit ihren Stöckelschuhen war sie fast so groß wie er.
Er versuchte sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, aber immer wieder fiel sein Blick auf ihre langen Beine, die durch einen Minirock noch länger erschienen, als sie waren, und auf ihren wohlgeformten Körper. Er hoffte, dass sie es nicht bemerken würde.

Welch eine Traumfrau, dachte er.
Sie bat ihn, ihr ein Glas Sekt zu holen.
Sie tranken einander zu.
„ Wir könnten eigentlich zueinander "Du" sagen“, sagte sie.

Das Essen hatte ein Partyservice angerichtet, alle gingen ins Esszimmer, Carla saß zwischen ihm und seinem Vater.
„Seit einem Jahr arbeite ich jetzt bei deinem Vater“, sagte sie, „ich werde am Ende des Jahres meine Ausbildung beenden. Ich habe viel gelernt, dein Vater ist ein ausgezeichneter Chirurg, aber das weißt du ja wohl.“
„Ja, ich habe das gehört, ich weiß wenig über meinen Vater.“
Er leerte sein Weinglas in einem Zug, versuchte entspannter zu sein, der Alkohol würde ihm dabei helfen, dachte er.
Sie sah ihn etwas verständnislos an, wartete wohl auf eine Erklärung.
Er wollte das Gespräch in Gang halten, wusste nicht, was er sagen sollte, befürchtete, sie würde ihn nach seiner Ausbildung fragen.
„Bei uns in der Familie bin ich das fünfte Rad am Wagen“, sagte er, „ ich fühle, dass ich irgendwie nicht ganz dazu gehöre. Ich werde nicht ganz für voll genommen, man traut mir nichts zu. Meine beiden Brüder studieren, ich arbeite in einer Eisenwarenhandlung.“
Er staunte über sich selbst, dass er so offen reden konnte, die Wirkung des Alkohols machte sich wohl bemerkbar.
Sie hörte auf zu essen, legte die Gabel auf den Teller und streichelte seine Hand. Sie schaute ihn dabei an, dann seinen Vater.
Am Tisch wurden die Diskussionen immer lauter. Keiner schien sich um Carla und ihn zu kümmern.
Es ging darum, wer den Satz gesagt hatte:
„Der Mann ist leicht zu erforschen, die Frau verrät ihr Geheimnis nicht“.
Sein Vater meinte, meistens habe Goethe alles Wichtige gesagt.
Moses hatte anfangs nicht zugehört, sagte dann, in diesem Fall sei das ein Irrtum, Kant habe den Satz gesagt.
Carla sah ihn nachdenklich und überrascht an.
Am Tisch waren alle Gespräche verstummt, alle schauten ihn an, er bereute, dass er sich eingemischt hatte.
Sein Vater fragte ihn, woher er denn das wisse.
„Ich habe es gelesen!“
„Wo?“
„Du hast eine riesengroße Bibliothek, ich habe fast alle Bücher daraus gelesen. Bin später dann auch in öffentliche Bibliotheken gegangen.“
Verständnislos schaute ihn sein Vater an.
„Na ja, dass du das nicht von dem stumpfsinnigen Deutschmann aus der Eisenwarenhandlung weißt, ist mir schon klar. Bei dieser primitiven Arbeit hast du genug Zeit, etwas Gescheiteres zu tun. Manchmal findet auch ein blindes Huhn ein Korn. Du musst schließlich nicht hart arbeiten wie wir alle.“

Der Nachtisch wurde serviert, Eistorte.
Die Gespräche waren wieder in Gang gekommen, Carla sah ihn an. Er spürte ihren Fuß an seinem Bein, sie hatte wohl einen Schuh ausgezogen.
Sie hatte ihn bewundernd angesehen, wie er meinte, hatte eine Hand auf seinen Oberschenkel gelegt und streichelte ihn sanft, schaute dabei seinen Vater an.

Er stand auf, leicht schwindlig vom Alkohol fühlte er sich, entschuldigte sich, er müsse einmal frische Luft schnappen.

Er stieg die Treppe herunter und ging im Garten umher. Plötzlich umarmte ihn jemand und küsste ihn.

VI

Als er zurück kam, war der Vogel tot.

Drei Tage war er weg gewesen, war in die Stadt gefahren, hatte sich in einem Institut eingeschrieben, er würde jetzt das Fachabitur machen und später studieren, hatte ein Zimmer in einer kleinen Pension gemietet, hier würde er längere Zeit wohnen. Frei würde er endlich werden, etwas aus sich machen, von allem loskommen.
Alle, die ihm nie etwas zugetraut hatten, würden überrascht sein, endlich hatte er es geschafft.

Sie saß im Sessel vor dem Fenster, schaute ihn nicht an, starrte auf den Boden. Ein großes Glas hielt sie in der Hand.
Älter war sie geworden, dachte er.
„Du hättest ihm wenigstens Wasser geben können“, sagte er zu seiner Frau Carla.

„Ich hatte Wichtigeres zu tun, als mich um deinen blöden Vogel zu kümmern“.
Sie ging zum Getränkeschrank, holte eine Flasche Wodka heraus und schenkte sich ein Wasserglas voll ein.

„Du hast immer Wichtigeres zu tun, bist selten zu Hause“.
Er sah sie an, versuchte sich zu erinnern, wie sie war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

„Du hast keine Ahnung, wie anstrengend die Arbeit im Krankenhaus ist, hockst immer ruhig zu Hause und glaubst noch, das sei etwas Besonderes. Das einzige, was dich wirklich interessiert sind deine Bücher!“
Sie goss sich ein weiteres Glas Wodka ein und schaute aus dem Fenster.

„Du lässt mich ja nichts anderes machen. Wenn deine Freunde kommen, bin ich ein Hausangestellter, bediene euch von vorne bis hinten. An Gesprächen soll ich ja nicht teilnehmen, du hast Angst, dass ich dich blamieren könnte.
Du führst deine Gäste in diesem Traumhaus am Meer herum, das mein Vater bezahlt hat.
Mich, deinen Ehemann, stellst du kaum vor“.
Er dachte, dass es ihm in seinem ganzen bisherigen Leben so ergangen war, immer war er ausgeschlossen gewesen, nur nützlich für einfachste Arbeiten.

Sie hatte ihr Glas schon wieder geleert.
„ Dir will ich jetzt mal etwas sagen, was dich von den Socken hauen wird. Der das Haus bezahlt hat, ist nicht dein Vater“.

„Wer denn sonst?“

„Professor Dr. Ernst Geppert. Aber er ist nicht dein Vater.
Er hat mich gestern verlassen und entlassen, hat eine andere gefunden.“

Er glaubte nicht richtig gehört zu haben, sprang aus dem Sessel auf und stand jetzt direkt vor ihr.

„Was soll denn das wieder?“

„Du bist nicht sein Sohn!“

„Was?“

„ Dein Vater ist Georg Deutschmann von der Eisenwarenhandlung, wo du etliche Jahre gearbeitet hast. Deine Mutter ist fremd gegangen!“
Georg Deutschmann sein Vater! Jetzt verstand er manches besser.

Er sagte aber:
„ Das glaube ich dir nicht, das ist wieder eine von deinen Gemeinheiten!“

„Sag mal, ist dir wirklich nie aufgefallen, wie dich alle behandelt haben? Hast du nie gemerkt, dass dir niemand etwas zutraut? Dass du nicht zur Familie gehörst? Dass du dem, den du für deinen Vater hellst, in nichts ähnelst?“

„ Ganz früher war das wohl so, aber dann hat mein Vater unsere Heirat gefördert, uns das Haus gekauft, dich zu seiner Assistentin gemacht! Uns oft besucht.“

„ Unsere Heirat gefördert! Georg hat mich gekauft. Es war bequemer für uns, wenn ich mit seinem angeblichen Sohn verheiratet war. Ich war dann immer für ihn verfügbar.“

Er setzte sich wieder in den Sessel, schluckte, schwieg.
Dann sagte er:
„Deswegen kommst du so oft erst spät in der Nacht nach Hause, deswegen bist du so oft auf irgendwelchen Tagungen!“

„Ja, es war leicht mit dir, auch an dass Märchen meiner Vergewaltigung hast du geglaubt, dass ich deswegen nicht mit dir schlafen könnte“.

„ Dann war alles nur Theater und ich ein Einfaltspinsel, der alles ernst genommen hat?“
Sie fing an, die Zeitschriften vom Tisch zu nehmen und in einen Ständer einzuordnen.
Dann sah sie ihn an.
„ Nicht alles war vorgetäuscht, ich habe dich einmal gemocht, hatte nicht die Kraft neu anzufangen. Alles war so bequem“.

Sie warf ihr Glas auf den Boden, stand auf, zog ihren Mantel an.
Er hörte ihr Auto, sie fuhr davon.

VII

Er fing an seinen Koffer zu packen, viel hatte er nicht, der kleine Koffer reichte aus. Er würde nicht viel mitnehmen, würde sich neue Sachen kaufen.
Dann nahm er das Geld aus der Schublade, das Haus würde nicht mehr renoviert werden.
Neu anfangen würde er, alles hinter sich lassen, alles anders machen.
Er lud alles ins Auto ein, das Geld legte er ins Handschuhfach.

Bevor er losfuhr ging er noch einmal zurück ins Haus. Hier hatte er mit ihr gelebt, eher neben ihr.
Er schaute sich um, sah in der Eingangshalle die teuren Möbel, Teppiche und Bilder. Nichts davon gehörte ihm wirklich.
Im Käfig lag immer noch der kleine Vogel, verdurstet war er. Der hatte ihm gehört.
Er nahm ihn vorsichtig aus dem Käfig, streichelte ihn, als wenn er noch leben würde.

Vor einem Bild blieb er stehen, es hatte ihn immer wieder beeindruckt:
„Der Schrei“
Er hatte das Original nie gesehen.
Er hatte die Kopie immer wieder angesehen, hatte über den Maler Edward Munch alles gelesen, was für ihn erreichbar war.
Jetzt endlich hatte er verstanden, was der Künstler ausdrücken wollte.
Grauenhaftes Entsetzen sprach aus dem Bild, Verzweiflung, nicht eine Person mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund wurde dargestellt sondern ein Gemütszustand.
Kalte Grüntöne, bedrohlichen Rottöne, hektische Führung der Kreidestriche, alles stürzte auf den Betrachter zu.
Er hatte gelesen, dass der Maler gesagt hatte: „Die Lebensangst hat mich begleitet, seit ich denken kann“.
Auch ihn hatte Lebensangst immer begleitet, er hatte immer etwas gesucht, nie gewusst was, und wenn er etwas gefunden hatte, hatte er es wieder verloren.
Und das würde immer so weiter gehen.

Er legte den Vogel unter einen Baum, deckte ihn mit Laub zu.

Dann ging er zum Auto zurück, ließ den Motor an und stellte ihn wieder ab.

Man kann immer nur neu an dem Punkt beginnen, an dem man gerade ist, egal wie man dahin gekommen ist, dachte er.
Neu beginnen ist deshalb nur „weiter machen“.

Er stieg aus, ließ die Tür offen stehen und ging zum Meer hinab, kehrte dann noch einmal um und ging ins Haus.

Das Wasser umspülte seine Füße, dann seine Schenkel, er schaute sich nicht mehr um, er hielt den Plüschelefanten an sich gedrückt.
 
P

Peter Waldnacht

Gast
Stellenweise äußerst beklemmend.

Einige Überlängen.

Einige Rechtschreibfehler:
[blue]Dass du dem, den du für deinen Vater hellst, in nichts ähnelst?“[/blue] und andere.

Hat mir sehr gut gefallen!
 

Retep

Mitglied
Hallo PW, danke für deinen Kommentar. Ich habe auch überlegt, ob ich die Geschichte nicht kürzen sollte.

Ich werde den Text noch einmal auf Rechtschreibefehler überprüfen.
Der Satz, den du anführst, hat es in sich! Als ich ihn schrieb, war ich wohl nicht der Hellste!

Gruß

Retep
 

Retep

Mitglied
Und er sah den kleinen Elefanten da stehen. Mit einer dünnen Kette hatten sie ein Bein von ihm an einen Pfahl aus Holz angebunden. Er konnte nicht weglaufen.
Später, wenn er groß und stark war, würde die dünne Kette ausreichen, um ihn festzuhalten. Er würde niemals wissen, dass er sie zerreißen konnte.





Die Kette



I

An seinem vierten Geburtstag war sein Vater mit seinen beiden Brüdern zum Fußball gegangen war, ihn hatte niemand gefragt, ob er mitgehen wolle, seine Mutter war angeblich zu einer Freundin gefahren.
Er saß alleine mit einem Geschenk auf dem Fußboden seines Zimmers, ein Geschenk, das er sich nie gewünscht hatte, ein kleiner Plüschelefant.
Ein Feuerwehrauto wollte er haben.
Karin, das Dienstmädchen, ging mit ihm ein Eis essen.

An seinen ersten Schultag, hatte niemand Zeit gehabt, ihn zu begleiten. Die anderen Kinder waren mit ihren Eltern gekommen, trugen große Schultüten, hatten neue Schulranzen.
Karin hatte ihn hingebracht, eine Schultüte hatte er nicht, sein Schulranzen war schon ziemlich abgenutzt, einer seiner Brüder hatte ihn jahrelang benutzt.
Eine Stunde hatten sie bei einer alten Lehrerin Unterricht, etwas malen sollten sie. Alle hatten über seine abgebrochenen Farbstifte gelacht.
Die anderen wurden von ihren Eltern abgeholt, er stand zunächst alleine vor dem Schultor, bis dann Karin endlich kam.
Seine Mutter fand ihn dann am späten Nachmittag, er saß zu Hause auf der Treppe vor dem Haus und war eingeschlafen. Den Plüschelefanten hielt er im Arm.
Sie wollte nicht wissen, wie es am ersten Schultag gewesen war, brachte ihn ins Bett.

Was er dann in der Schule machte, hatte niemanden interessiert. Alle waren mit sich selbst beschäftigt. Ein Bruder ging aufs Gymnasium, der andere studierte Medizin, sollte Arzt werden wie sein Vater.
Er war das fünfte Rad am Wagen, keiner hatte ihn gewollt, er wurde wenig beachtet, nur geduldet.
Alles, was er anfangen wollte, wurde abgelehnt. „Das kannst du sowieso nicht!“
Dass er aufs Gymnasium gehen würde wie seine Brüder, kam überhaupt nicht in Frage.
„Das kann der Kleine sowieso nicht“, hörte er immer wieder, „der braucht einen praktischen Beruf.“
Das hatte er so oft gehört, dass er es schließlich selbst glaubte.

Niemand hatte Zeit, sein Vater kam immer erst nachts nach Hause, später merkte er, dass er neben seinem anstrengenden Beruf, er war Chirurg, mit einer Freundin viel Zeit verbrachte. Seine Mutter war zwar Hausfrau, aber nie zu Hause, hatte auch einen Freund.
Bei Diskussionen im Kreis der Familie erwartete niemand, dass er seine Meinung sagte.
Er wurde immer stiller, hatte kaum Freunde. Dass er viel las, merkte niemand, Bücher bekam er nicht geschenkt, wozu auch, las alles aus der Bibliothek seines Vaters, vieles verstand er zunächst nicht.

Als er dann fünfzehn war, brachte ihn sein Vater als Gehilfe in einer Eisenwarenhandlung unter. Hier arbeitete er still und zuverlässig, machte bald auch die gesamte Buchhaltung. Herr Deutschmann, sein Chef, schaute ihn oft nachdenklich an, sprach aber wenig mit ihm.
Sein Lohn war zwar gering, aber er brauchte nicht viel, wohnte immer noch bei seinen Eltern.
Für Geld, das er übrig hatte, kaufte er Bücher, er erschaffte sich allmählich eine Traumwelt, in der er ein Held sein konnte.
Gern hätte er auch eine Freundin gehabt wie andere Jungen in seinem Alter. Aber wer würde schon mit ihm etwas anfangen wollen.





II

Dann fing er an, Tennis zu spielen. Er hatte öfter am Zaun des Tennisplatzes gestanden und zugeschaut. Hübsche Mädchen waren da.
Seine Mutter meldete ihn an. Er merkte, dass sie froh war, ihn los zu haben.
Sein Trainer sagte ihm, dass er Begabung und Talent für diesen Sport hätte.
Nach zwei Jahren gewann er mit 17 Jahren die Clubmeisterschaft.
Sein Vater war ausnahmsweise mit zum Endspiel gekommen und meinte:
„Na ja, das war ganz gut, aber das wird auch nichts werden. In diesem Dorf die Meisterschaft zu gewinnen, ist nicht schwer. Um mehr zu erreichen, müsse er mehr Talent haben“.
Er glaubte ihm und hörte auf, Tennis zu spielen.


III

Er merkte, dass er vieles nicht verstand, dachte, dass er nicht ewig als Gehilfe in einem Laden arbeiten sollte, finanziell war er zwar versorgt, seine Eltern erhöhten seinen bescheidenen Lohn.
Sein Freund Uli, der mit ihm zusammen im Eisenwarenladen arbeitete, besuchte Abendkurse, wollte das Abitur in drei Jahren machen.
Herr Deutschmann fragte ihn, ob er nicht auch lieber etwas anderes machen wolle, als sein Leben lang bei ihm zu arbeiten.
Er schrieb sich auch in Abendkurse ein, obwohl sein Vater sagte, dass das zu schwer für ihn sei.
Alles interessierte ihn, er lernte die Welt aus einem anderen Blickwinkel kennen, machte gute Fortschritte. Wachte auf.
Im letzten Jahr hatte er Schwierigkeiten im Fach Mathematik und bat seinen Bruder ihm zu helfen, ihm etwas zu erklären.
Sein Vater kam dazu, hörte zu, schüttelte den Kopf und sagte: „Ich habe ja gleich gesagt, dass das alles wenig Sinn macht. Das kannst du nicht, es ist zu schwer für dich“.
Er glaubte ihm und meldete sich vom Kurs ab, obwohl seine Lehrer ihm davon abrieten.


IV

Seine Mutter meldete ihn zu einem Tanzkurs an, war besorgt, dass er keine Freundin hatte. Sein Freund Uli nahm auch teil.
Er hatte Magdalena kennen gelernt und verliebte sich in sie. Oft gingen sie zusammen spazieren, küssten sich auch.
Es war klar, dass er den Abschlussball mit ihr machen würde.
Zum ersten Mal in seinem Leben fing er an, sich etwas zuzutrauen.

Dann sahen sie sich seltener, Magdalena hatte immer etwas anderes zu tun, sie sagte ihm dann, dass sie den Schlussball mit Uli zusammen machen würde.
Er konnte sie verstehen und meldete sich vom Tanzkurs ab.


V

Diesmal war alles anders. Sein Vater hatte ihn zu einem Hausfest eingeladen.
Seine Mutter war zu einer Freundin gefahren.
Zum ersten Mal würde er dabei sein. Sogar einen neuen Anzug hatte man ihm gekauft. Möglichst wenig reden solle er, hatte sein Vater ihm eingeschärft.
Moses stand alleine am Fenster und nippte an einem Drink, er war Alkohol nicht gewöhnt. Er schaute die eintretenden Gäste an, Arbeitskollegen seines Vaters mit ihren Gattinnen in Anzügen und Abendkleidern. Er hoffte, dass der Abend schnell zu Ende ginge, fühlte sich unsicher, strich sich über seine langen blonden Haare, die ihm immer wieder über das Gesicht fielen.
In seinem neuen, dunklen Anzug fühlte er sich nicht wohl, kam sich eingezwängt vor, obwohl er schlank war. Er war an lockere, bequeme Kleidung gewöhnt.
Er versuchte kleiner zu erscheinen, als er war, stand immer etwas gebückt da, als wenn er etwas vom Boden aufheben wollte.

Dann kam sie auf ihn zu, sie ging fast wie eine Tänzerin, fast schwebend, mit kleinen Schritten. Ihm fielen ihre langen roten Haare auf, die weit über ihre Schultern reichten, sehr gerade ging sie, bewegte den Kopf immer wieder hin und her, ihr Haar flog von einer Schulter zu anderen.
Sie gab ihm die Hand, stellte sich als Praktikantin seines Vater vor, Carla Manshold, und er sah, dass sie grüne Augen hatte. Sie schaute unruhig, fast ein wenig unsicher umher, immer wieder seinen Vater sah sie an.
Mit ihren Stöckelschuhen war sie fast so groß wie er.
Er versuchte sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, aber immer wieder fiel sein Blick auf ihre langen Beine, die durch einen Minirock noch länger erschienen, als sie waren, und auf ihren wohlgeformten Körper. Er hoffte, dass sie es nicht bemerken würde.

Welch eine Traumfrau, dachte er.
Sie bat ihn, ihr ein Glas Sekt zu holen.
Sie tranken einander zu.
„ Wir könnten eigentlich zueinander "Du" sagen“, sagte sie.

Das Essen hatte ein Partyservice angerichtet, alle gingen ins Esszimmer, Carla saß zwischen ihm und seinem Vater.
„Seit einem Jahr arbeite ich jetzt bei deinem Vater“, sagte sie, „ich werde am Ende des Jahres meine Ausbildung beenden. Ich habe viel gelernt, dein Vater ist ein ausgezeichneter Chirurg, aber das weißt du ja wohl.“
„Ja, ich habe das gehört, ich weiß wenig über meinen Vater.“
Er leerte sein Weinglas in einem Zug, versuchte entspannter zu sein, der Alkohol würde ihm dabei helfen, dachte er.
Sie sah ihn etwas verständnislos an, wartete wohl auf eine Erklärung.
Er wollte das Gespräch in Gang halten, wusste nicht, was er sagen sollte, befürchtete, sie würde ihn nach seiner Ausbildung fragen.
„Bei uns in der Familie bin ich das fünfte Rad am Wagen“, sagte er, „ ich fühle, dass ich irgendwie nicht ganz dazu gehöre. Ich werde nicht ganz für voll genommen, man traut mir nichts zu. Meine beiden Brüder studieren, ich arbeite in einer Eisenwarenhandlung.“
Er staunte über sich selbst, dass er so offen reden konnte, die Wirkung des Alkohols machte sich wohl bemerkbar.
Sie hörte auf zu essen, legte die Gabel auf den Teller und streichelte seine Hand. Sie schaute ihn dabei an, dann seinen Vater.
Am Tisch wurden die Diskussionen immer lauter. Keiner schien sich um Carla und ihn zu kümmern.
Es ging darum, wer den Satz gesagt hatte:
„Der Mann ist leicht zu erforschen, die Frau verrät ihr Geheimnis nicht“.
Sein Vater meinte, meistens habe Goethe alles Wichtige gesagt.
Moses hatte anfangs nicht zugehört, sagte dann, in diesem Fall sei das ein Irrtum, Kant habe den Satz gesagt.
Carla sah ihn nachdenklich und überrascht an.
Am Tisch waren alle Gespräche verstummt, alle schauten ihn an, er bereute, dass er sich eingemischt hatte.
Sein Vater fragte ihn, woher er denn das wisse.
„Ich habe es gelesen!“
„Wo?“
„Du hast eine riesengroße Bibliothek, ich habe fast alle Bücher daraus gelesen. Bin später dann auch in öffentliche Bibliotheken gegangen.“
Verständnislos schaute ihn sein Vater an.
„Na ja, dass du das nicht von dem stumpfsinnigen Deutschmann aus der Eisenwarenhandlung weißt, ist mir schon klar. Bei dieser primitiven Arbeit hast du genug Zeit, etwas Gescheiteres zu tun. Manchmal findet auch ein blindes Huhn ein Korn. Du musst schließlich nicht hart arbeiten wie wir alle.“

Der Nachtisch wurde serviert, Eistorte.
Die Gespräche waren wieder in Gang gekommen, Carla sah ihn an. Er spürte ihren Fuß an seinem Bein, sie hatte wohl einen Schuh ausgezogen.
Sie hatte ihn bewundernd angesehen, wie er meinte, hatte eine Hand auf seinen Oberschenkel gelegt und streichelte ihn sanft, schaute dabei seinen Vater an.

Er stand auf, leicht schwindlig vom Alkohol fühlte er sich, entschuldigte sich, er müsse einmal frische Luft schnappen.

Er stieg die Treppe herunter und ging im Garten umher. Plötzlich umarmte ihn jemand und küsste ihn.

VI

Als er zurück kam, war der Vogel tot.

Drei Tage war er weg gewesen, war in die Stadt gefahren, hatte sich in einem Institut eingeschrieben, er würde jetzt das Fachabitur machen und später studieren, hatte ein Zimmer in einer kleinen Pension gemietet, hier würde er längere Zeit wohnen. Frei würde er endlich werden, etwas aus sich machen, von allem loskommen.
Alle, die ihm nie etwas zugetraut hatten, würden überrascht sein, endlich hatte er es geschafft.

Sie saß im Sessel vor dem Fenster, schaute ihn nicht an, starrte auf den Boden. Ein großes Glas hielt sie in der Hand.
Älter war sie geworden, dachte er.
„Du hättest ihm wenigstens Wasser geben können“, sagte er zu seiner Frau Carla.

„Ich hatte Wichtigeres zu tun, als mich um deinen blöden Vogel zu kümmern“.
Sie ging zum Getränkeschrank, holte eine Flasche Wodka heraus und schenkte sich ein Wasserglas voll ein.

„Du hast immer Wichtigeres zu tun, bist selten zu Hause“.
Er sah sie an, versuchte sich zu erinnern, wie sie war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

„Du hast keine Ahnung, wie anstrengend die Arbeit im Krankenhaus ist, hockst immer ruhig zu Hause und glaubst noch, das sei etwas Besonderes. Das einzige, was dich wirklich interessiert sind deine Bücher!“
Sie goss sich ein weiteres Glas Wodka ein und schaute aus dem Fenster.

„Du lässt mich ja nichts anderes machen. Wenn deine Freunde kommen, bin ich ein Hausangestellter, bediene euch von vorne bis hinten. An Gesprächen soll ich ja nicht teilnehmen, du hast Angst, dass ich dich blamieren könnte.
Du führst deine Gäste in diesem Traumhaus am Meer herum, das mein Vater bezahlt hat.
Mich, deinen Ehemann, stellst du kaum vor“.
Er dachte, dass es ihm in seinem ganzen bisherigen Leben so ergangen war, immer war er ausgeschlossen gewesen, nur nützlich für einfachste Arbeiten.

Sie hatte ihr Glas schon wieder geleert.
„ Dir will ich jetzt mal etwas sagen, was dich von den Socken hauen wird. Der das Haus bezahlt hat, ist nicht dein Vater“.

„Wer denn sonst?“

„Professor Dr. Ernst Geppert. Aber er ist nicht dein Vater.
Er hat mich gestern verlassen und entlassen, hat eine andere gefunden.“

Er glaubte nicht richtig gehört zu haben, sprang aus dem Sessel auf und stand jetzt direkt vor ihr.

„Was soll denn das wieder?“

„Du bist nicht sein Sohn!“

„Was?“

„ Dein Vater ist Georg Deutschmann von der Eisenwarenhandlung, wo du etliche Jahre gearbeitet hast. Deine Mutter ist fremd gegangen!“
Georg Deutschmann sein Vater! Jetzt verstand er manches besser.

Er sagte aber:
„ Das glaube ich dir nicht, das ist wieder eine von deinen Gemeinheiten!“

„Sag mal, ist dir wirklich nie aufgefallen, wie dich alle behandelt haben? Hast du nie gemerkt, dass dir niemand etwas zutraut? Dass du nicht zur Familie gehörst? Dass du den, den du für deinen Vater hälst, in nichts ähnelst?“

„ Ganz früher war das wohl so, aber dann hat mein Vater unsere Heirat gefördert, uns das Haus gekauft, dich zu seiner Assistentin gemacht! Uns oft besucht.“

„ Unsere Heirat gefördert! Georg hat mich gekauft. Es war bequemer für uns, wenn ich mit seinem angeblichen Sohn verheiratet war. Ich war dann immer für ihn verfügbar.“

Er setzte sich wieder in den Sessel, schluckte, schwieg.
Dann sagte er:
„Deswegen kommst du so oft erst spät in der Nacht nach Hause, deswegen bist du so oft auf irgendwelchen Tagungen!“

„Ja, es war leicht mit dir, auch an dass Märchen meiner Vergewaltigung hast du geglaubt, dass ich deswegen nicht mit dir schlafen könnte“.

„ Dann war alles nur Theater und ich ein Einfaltspinsel, der alles ernst genommen hat?“
Sie fing an, die Zeitschriften vom Tisch zu nehmen und in einen Ständer einzuordnen.
Dann sah sie ihn an.
„ Nicht alles war vorgetäuscht, ich habe dich einmal gemocht, hatte nicht die Kraft neu anzufangen. Alles war so bequem“.

Sie warf ihr Glas auf den Boden, stand auf, zog ihren Mantel an.
Er hörte ihr Auto, sie fuhr davon.

VII

Er fing an seinen Koffer zu packen, viel hatte er nicht, der kleine Koffer reichte aus. Er würde nicht viel mitnehmen, würde sich neue Sachen kaufen.
Dann nahm er das Geld aus der Schublade, das Haus würde nicht mehr renoviert werden.
Neu anfangen würde er, alles hinter sich lassen, alles anders machen.
Er lud alles ins Auto ein, das Geld legte er ins Handschuhfach.

Bevor er losfuhr ging er noch einmal zurück ins Haus. Hier hatte er mit ihr gelebt, eher neben ihr.
Er schaute sich um, sah in der Eingangshalle die teuren Möbel, Teppiche und Bilder. Nichts davon gehörte ihm wirklich.
Im Käfig lag immer noch der kleine Vogel, verdurstet war er. Der hatte ihm gehört.
Er nahm ihn vorsichtig aus dem Käfig, streichelte ihn, als wenn er noch leben würde.

Vor einem Bild blieb er stehen, es hatte ihn immer wieder beeindruckt:
„Der Schrei“
Er hatte das Original nie gesehen.
Er hatte die Kopie immer wieder angesehen, hatte über den Maler Edward Munch alles gelesen, was für ihn erreichbar war.
Jetzt endlich hatte er verstanden, was der Künstler ausdrücken wollte.
Grauenhaftes Entsetzen sprach aus dem Bild, Verzweiflung, nicht eine Person mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund wurde dargestellt sondern ein Gemütszustand.
Kalte Grüntöne, bedrohlichen Rottöne, hektische Führung der Kreidestriche, alles stürzte auf den Betrachter zu.
Er hatte gelesen, dass der Maler gesagt hatte: „Die Lebensangst hat mich begleitet, seit ich denken kann“.
Auch ihn hatte Lebensangst immer begleitet, er hatte immer etwas gesucht, nie gewusst was, und wenn er etwas gefunden hatte, hatte er es wieder verloren.
Und das würde immer so weiter gehen.

Er legte den Vogel unter einen Baum, deckte ihn mit Laub zu.

Dann ging er zum Auto zurück, ließ den Motor an und stellte ihn wieder ab.

Man kann immer nur neu an dem Punkt beginnen, an dem man gerade ist, egal wie man dahin gekommen ist, dachte er.
Neu beginnen ist deshalb nur „weiter machen“.

Er stieg aus, ließ die Tür offen stehen und ging zum Meer hinab, kehrte dann noch einmal um und ging ins Haus.

Das Wasser umspülte seine Füße, dann seine Schenkel, er schaute sich nicht mehr um, er hielt den Plüschelefanten an sich gedrückt.
 

Clara

Mitglied
sehr bedrückend und man möchte den jungen schütteln - aber es ginge gar nicht - er hätte es nie zugelassen er hätte die person auch stehen lassen.

ohne den kleinen elefanten an der kette wäre mir wohl ein verstehen nicht so leicht gefallen
 
K

Kasper Grimm

Gast
In knappen, buchstäblich "harten" Strichen skizzierter Lebensabriß eines jungen Mannes, Moses (da stellt man sich einen graubärtigen Alten vor - und irgendwie alt ist er ja auch), den man anrufen (Halt!), schütteln möchte, aber das geht ja nicht, weil wir nur zuschauender Gast in seinem Leben sind, das ein böses Schicksal hat, allerdings nicht nur durch Fremdverschulden, sondern auch aus eigenem Versagen: warum nutzt er nicht seine Intelligenz für sich - schließlich kann er sogar Zitate so komplexer Autoren wie Kant ebendem zuordnen, hat überhaupt mehr gelesen als alle, ist wohl auch klüger als sie - nur in Bezug auf sich ist er erschütternd dumm. Nie hat er etwas begriffen: weil man ihm eingeredet hat, er begreife nichts - dabei könnte er intuitiv alles durchschauen. Das Beispiel mit dem Elefanten anfangs, der dann als Plüschtier "leibhaftig" vorkommt, ist eine treffende Metapher. Kerl, wärst Du doch dem "Vater" und Deiner Frau aufs Dach und nicht ins Wasser gestiegen!
Aber so ist das oft: nicht das Naheliegende, zum guten Ende Führende wird gewählt, sondern der Umweg, der das ganze Leben zu einem solchen macht. Mögen wir daraus lernen!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Korrekturvorschläge:

Die Kette
Veröffentlicht von Retep am 07. 09. 2008 18:18

Und er sah den kleinen Elefanten da stehen. Mit einer dünnen Kette hatten sie ein Bein von ihm an einen Pfahl aus Holz angebunden. Er konnte nicht weglaufen.
Später, wenn er groß und stark war, würde die dünne Kette ausreichen, um ihn festzuhalten. Er würde niemals wissen, dass er sie zerreißen konnte.



Die Kette

An seinem vierten Geburtstag war sein Vater mit seinen beiden Brüdern zum Fußball gegangen war, ihn hatte niemand gefragt, ob er mitgehen wolle, seine Mutter war angeblich zu einer Freundin gefahren.
Er saß alleine mit einem Geschenk auf dem Fußboden seines Zimmers, ein Geschenk, [red] dass [/red] (das) er sich nie gewünscht hatte, ein kleiner Plüschelefant.
Ein Feuerwehrauto wollte er haben.
Karin, das Dienstmädchen, ging mit ihm ein Eis essen.

An [red] seinen [/red] (seinem) ersten Schultag,(kein Komma) hatte niemand Zeit gehabt, ihn zu begleiten. Die anderen Kinder waren mit ihren Eltern gekommen, trugen große Schultüten, hatten neue Schulranzen.
Karin hatte ihn hingebracht, eine Schultüte hatte er nicht, sein Schulranzen war schon ziemlich abgenutzt, einer seiner Brüder hatte ihn jahrelang[blue] benutzt[/blue] (in Gebrauch).
Eine Stunde hatten sie bei einer alten Lehrerin Unterricht, etwas malen sollten sie. Alle hatten über seine abgebrochenen Farbstifte gelacht.
Die anderen wurden von ihren Eltern abgeholt, er stand zunächst alleine vor dem Schultor, bis [blue] dann [/blue] (überflüssig) Karin endlich kam.
Seine Mutter fand ihn dann am späten Nachmittag, er saß zu Hause auf der Treppe vor dem Haus und war eingeschlafen. Den Plüschelefanten hielt er im Arm.
Sie wollte nicht wissen, wie es am ersten Schultag gewesen war, brachte ihn ins Bett.

Was er [blue] dann [/blue] (überflüssig) in der Schule machte, hatte niemanden interessiert. Alle waren mit sich selbst beschäftigt. Ein Bruder ging aufs Gymnasium, der andere studierte Medizin, sollte Arzt werden wie sein Vater.
Er war das fünfte Rad am Wagen, keiner hatte ihn gewollt, er wurde wenig beachtet, nur geduldet.
Alles, was er anfangen wollte, wurde abgelehnt. „Das kannst du sowieso nicht!“
Dass er aufs Gymnasium gehen sollte wie seine Brüder, kam überhaupt nicht in Frage.
„Das kann der Kleine sowieso nicht“, hörte er immer wieder, „der braucht einen praktischen Beruf.“
Das hatte er so oft gehört, dass er es schließlich selbst glaubte.

Niemand hatte Zeit, sein Vater kam immer erst nachts nach Hause, später merkte er, dass er neben seinem anstrengenden Beruf, er war Chirurg, mit einer Freundin viel Zeit verbrachte. Seine Mutter war zwar Hausfrau, aber nie zu Hause, hatte auch einen Freund.
Bei Diskussionen im Kreis der Familie erwartete niemand, dass er seine Meinung sagte.
Er wurde immer stiller, hatte kaum Freunde. Dass er viel las, merkte niemand, Bücher bekam er nicht geschenkt, wozu auch, las alles aus der Bibliothek seines Vaters, vieles verstand er zunächst nicht.

Als er dann fünfzehn war, brachte ihn sein Vater als Gehilfe in einer Eisenwarenhandlung unter. Hier arbeitete er still und zuverlässig, machte bald auch die gesamte Buchhaltung. Herr Deutschmann, sein Chef, schaute ihn oft nachdenklich an, sprach aber wenig mit ihm.
Sein Lohn war zwar gering, aber er brauchte nicht viel, wohnte immer noch bei seinen Eltern.
Für Geld, das er übrig hatte, kaufte er Bücher, er erschaffte sich allmählich eine Traumwelt, in der er ein Held sein konnte.
Gern hätte er auch eine Freundin gehabt wie andere Jungen in seinem Alter. Aber wer würde schon mit ihm etwas anfangen wollen.


II

Dann fing er an, Tennis zu spielen. Er hatte öfter am Zaun des Tennisplatzes gestanden und zugeschaut. Hübsche Mädchen waren da.
Seine Mutter meldete ihn an. Er merkte, dass sie froh war, ihn los zu haben.
Sein Trainer sagte ihm, dass er Begabung und Talent für diesen Sport hätte.
Nach zwei Jahren gewann er mit 17 Jahren die Clubmeisterschaft.
Sein Vater war ausnahmsweise mit zum Endspiel gekommen und meinte: (kein Absatz)
„Na ja, das war ganz gut, aber das wird auch nichts werden. In diesem Dorf die Meisterschaft zu gewinnen, ist nicht schwer. Um mehr zu erreichen müsse er mehr Talent haben“.
Er glaubte ihm und hörte auf, Tennis zu spielen.


III

Er merkte, dass er vieles nicht verstand, dachte, dass er nicht ewig als Gehilfe in einem Laden arbeiten könnte, finanziell war er zwar versorgt, seine Eltern erhöhten seinen bescheidenen Lohn.
Sein Freund Uli, der mit ihm zusammen im Eisenwarenladen arbeitete, besuchte Abendkurse, wollte das Abitur in drei Jahren machen.
Herr Deutschmann fragte ihn, ob er nicht auch lieber etwas anderes machen wolle, als sein Leben lang bei ihm zu arbeiten.
Er schrieb sich auch in Abendkurse ein, obwohl sein Vater sagte, dass das zu schwer für ihn sei.
Alles interessierte ihn, er lernte die Welt aus einem anderen Blickwinkel kennen, machte gute Fortschritte. Wachte auf.
Im letzten Jahr hatte er Schwierigkeiten im Fach Mathematik und bat seinen Bruder(Komma) ihm zu helfen, ihm etwas zu erklären.
Sein Vater kam dazu, hörte zu, schüttelte den Kopf und sagte: „Ich habe ja gleich gesagt, dass das alles wenig Sinn macht. Das kannst du nicht, es ist zu schwer für dich“.
Er glaubte ihm und meldete sich vom Kurs ab, obwohl seine Lehrer ihm davon abrieten.


IV

Seine Mutter meldete ihn zu einem Tanzkurs an, war besorgt, [blue] dass [/blue] (weil) er keine Freundin hatte. Sein Freund Uli nahm auch teil.
Er hatte Magdalena kennen gelernt und verliebte sich in sie. Oft gingen sie zusammen spazieren, küssten sich auch.
Es war klar, dass er den Abschlussball mit ihr machen würde.
Zum ersten Mal in seinem Leben fing er an(Komma) sich etwas zuzutrauen.

Dann sahen sie sich seltener, Magdalena hatte immer etwas anderes zu tun, sie sagte ihm dann, dass sie den Schlussball mit Uli zusammen machen würde.
Er konnte sie verstehen und meldete sich vom Tanzkurs ab.


V

Diesmal war alles anders. Sein Vater hatte ihn zu einem Hausfest eingeladen.
Seine Mutter war zu einer Freundin gefahren.
Zum ersten Mal würde er dabei sein. Sogar einen neuen Anzug hatte man ihm gekauft. Möglichst wenig reden solle er, hatte sein Vater ihm eingeschärft.
Moses stand alleine am Fenster und nippte an einem Drink, er war Alkohol nicht gewöhnt. Er schaute die eintretenden Gäste an, Arbeitskollegen seines Vaters mit ihren Gattinnen(Komma) in Anzügen und Abendkleidern. Er hoffte, dass der Abend schnell zu Ende ginge, fühlte sich unsicher, strich sich über seine langen blonden Haare, die ihm immer wieder über das Gesicht fielen.
In seinem neuen, dunklen Anzug fühlte er sich nicht wohl, kam sich eingezwängt vor, obwohl er schlank war. Er war an lockere, bequeme Kleidung gewöhnt.
Er versuchte kleiner zu erscheinen, als er war, stand immer etwas gebückt da, als wenn er etwas vom Boden aufheben wollte.

Dann kam sie auf ihn zu, sie ging fast wie eine Tänzerin, fast schwebend, mit kleinen Schritten. Ihm fielen ihre langen roten Haare auf, die weit über ihre Schultern reichten, sehr gerade ging sie, bewegte den Kopf immer wieder hin und her, ihr Haar flog von einer Schulter zu anderen.
Sie gab ihm die Hand, stellte sich als Praktikantin seines [red] Vater [/red] (Vaters) vor, Carla Manshold, und er sah, dass sie grüne Augen hatte. Sie schaute unruhig, fast ein wenig unsicher umher, immer wieder seinen Vater sah sie an.
Mit ihren Stöckelschuhen war sie fast so groß wie er.
Er versuchte sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, aber immer wieder fiel sein Blick auf ihre langen Beine, die durch einen Minirock noch länger erschienen,(kein Komma) als sie waren, und auf ihren wohlgeformten Körper. Er hoffte, dass sie es nicht bemerken würde.

Welch eine Traumfrau, dachte er.
Sie bat ihn, ihr ein Glas Sekt zu holen.
Sie tranken einander zu.
„ (kein Leerfeld)Wir könnten eigentlich zueinander "Du" sagen“, sagte sie.

Das Essen hatte ein Partyservice angerichtet, alle gingen ins Esszimmer, Carla saß zwischen ihm und seinem Vater.
„Seit einem Jahr arbeite ich jetzt bei deinem Vater“, sagte sie, „ich werde am Ende des Jahres meine Ausbildung beenden. Ich habe viel gelernt, dein Vater ist ein ausgezeichneter Chirurg, aber das weißt du ja wohl.“
„Ja, ich habe das gehört, ich weiß wenig über meinen Vater.“
Er leerte sein Weinglas in einem Zug, versuchte entspannter zu sein, der Alkohol würde ihm dabei helfen, dachte er.
Sie sah ihn etwas verständnislos an, wartete wohl auf eine Erklärung.
Er wollte das Gespräch in Gang halten, wusste nicht, was er sagen sollte, befürchtete, sie würde ihn nach seiner Ausbildung fragen.
„Bei uns in der Familie bin ich das fünfte Rad am Wagen“, sagte er, „ (kein Leerfeld)ich fühle, dass ich irgendwie nicht ganz dazu gehöre. Ich werde nicht ganz für voll genommen, man traut mir nichts zu. Meine beiden Brüder studieren, ich arbeite in einer Eisenwarenhandlung.“
Er staunte über sich selbst, dass er so offen reden konnte, die Wirkung des Alkohols machte sich wohl bemerkbar.
Sie hörte auf zu essen, legte die Gabel auf den Teller und streichelte seine Hand. Sie schaute ihn dabei an, dann seinen Vater.
Am Tisch wurden die Diskussionen immer lauter. Keiner schien sich um Carla und ihn zu kümmern.
Es ging darum, wer den Satz gesagt hatte: (kein Absatz)
„Der Mann ist leicht zu erforschen, die Frau verrät ihr Geheimnis nicht“.
Sein Vater meinte, meistens habe Goethe alles Wichtige gesagt.
Moses hatte anfangs nicht zugehört, sagte dann, in diesem Fall sei das ein Irrtum, Kant habe den Satz gesagt.
Carla sah ihn nachdenklich und überrascht an.
Am Tisch waren alle Gespräche verstummt, alle schauten ihn an, er bereute, dass er sich eingemischt hatte.
Sein Vater fragte ihn, woher er denn das wisse.
„Ich habe es gelesen!“
„Wo?“
„Du hast eine riesengroße Bibliothek, ich habe fast alle Bücher daraus gelesen. Bin später dann auch in öffentliche Bibliotheken gegangen.“
Verständnislos schaute ihn sein Vater an.
„Na ja, dass du das nicht von dem stumpfsinnigen Deutschmann aus der Eisenwarenhandlung weißt, ist mir schon klar. Bei dieser primitiven Arbeit hast du genug Zeit, etwas Gescheiteres zu tun. Manchmal findet auch ein blindes Huhn ein Korn. Du musst schließlich nicht hart arbeiten wie wir alle.“

Der Nachtisch wurde serviert, Eistorte.
Die Gespräche waren wieder in Gang gekommen, Carla sah ihn an. Er spürte ihren Fuß an seinem Bein, sie hatte wohl einen Schuh ausgezogen.
Sie hatte ihn bewundernd angesehen, wie er meinte, hatte eine Hand auf seinen Oberschenkel gelegt und streichelte ihn sanft, schaute dabei seinen Vater an.

Er stand auf, leicht schwindlig vom Alkohol fühlte er sich, entschuldigte sich, er müsse einmal frische Luft schnappen.

Er stieg die Treppe [blue] herunter [/blue] (hinunter) und ging im Garten umher. Plötzlich umarmte ihn jemand und küsste ihn.

VI

Als er zurück kam, war der Vogel tot.

Drei Tage war er weg gewesen, war in die Stadt gefahren, hatte sich in einem Institut eingeschrieben, er würde jetzt das Fachabitur machen und später studieren, hatte ein Zimmer in einer kleinen Pension gemietet, hier würde er längere Zeit wohnen. Frei würde er endlich werden, etwas aus sich machen, von allem loskommen.
Alle, die ihm nie etwas zugetraut hatten, würden überrascht sein, endlich hatte er es geschafft.

Sie saß im Sessel vor dem Fenster, schaute ihn nicht an, starrte auf den Boden. Ein großes Glas hielt sie in der Hand.
Älter war sie geworden, dachte er.
„Du hättest ihm wenigstens Wasser geben können“, sagte er zu seiner Frau Carla.

„Ich hatte Wichtigeres zu tun, als mich um deinen blöden Vogel zu kümmern“.
Sie ging zum Getränkeschrank, holte eine Flasche Wodka heraus und schenkte sich ein Wasserglas voll ein.

„Du hast immer Wichtigeres zu tun, bist selten zu Hause“.
Er sah sie an, versuchte sich zu erinnern, wie sie war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

„Du hast keine Ahnung, wie anstrengend die Arbeit im Krankenhaus ist, hockst immer ruhig zu Hause und glaubst noch, das sei etwas Besonderes. Das einzige, was dich wirklich interessiert(Komma) sind deine Bücher!“
Sie goss sich ein weiteres Glas Wodka ein und schaute aus dem Fenster.

„Du lässt mich ja nichts anderes machen. Wenn deine Freunde kommen, bin ich ein Hausangestellter, bediene euch von vorne bis hinten. An Gesprächen soll ich ja nicht teilnehmen, du hast Angst, dass ich dich blamieren könnte.
Du führst deine Gäste in diesem Traumhaus am Meer herum, das mein Vater bezahlt hat.
Mich, deinen Ehemann, stellst du kaum vor“.
Er dachte, dass es ihm in seinem ganzen bisherigen Leben so ergangen war, immer war er ausgeschlossen gewesen, nur nützlich für einfachste Arbeiten.

Sie hatte ihr Glas schon wieder geleert.
„ (kein Leerfeld)Dir will ich jetzt mal etwas sagen, was dich von den Socken hauen wird. Der das Haus bezahlt hat, ist nicht dein Vater“.

„Wer denn sonst?“

„Professor Dr. Ernst Geppert. Aber er ist nicht dein Vater.
Er hat mich gestern verlassen und entlassen, hat eine andere gefunden.“

Er glaubte nicht richtig gehört zu haben, sprang aus dem Sessel auf und stand jetzt direkt vor ihr.

„Was soll denn das wieder?“

„Du bist nicht sein Sohn!“

„Was?“

„ (kein Leerfeld)Dein Vater ist Georg Deutschmann von der Eisenwarenhandlung, wo du etliche Jahre gearbeitet hast. Deine Mutter ist fremd gegangen!“
Georg Deutschmann sein Vater! Jetzt verstand er manches besser.

Er sagte aber:
„ (kein Leerfeld)Das glaube ich dir nicht, das ist wieder eine von deinen Gemeinheiten!“

„Sag mal, ist dir wirklich nie aufgefallen, wie dich alle behandelt haben? Hast du nie gemerkt, dass dir niemand etwas zutraut? Dass du nicht zur Familie gehörst? Dass du dem, den du für deinen Vater[red] hellst[/red] (hältst), in nichts ähnelst?“

„ (kein Leerfeld)Ganz früher war das wohl so, aber dann hat mein Vater unsere Heirat gefördert, uns das Haus gekauft, dich zu seiner Assistentin gemacht! Uns oft besucht.“

„ (kein Leerfeld)Unsere Heirat gefördert! Georg hat mich gekauft. Es war bequemer für uns, wenn ich mit seinem angeblichen Sohn verheiratet war. Ich war dann immer für ihn verfügbar.“

Er setzte sich wieder in den Sessel, schluckte, schwieg.
Dann sagte er: (kein Leerfeld)
„Deswegen kommst du so oft erst spät in der Nacht nach Hause, deswegen bist du so oft auf irgendwelchen Tagungen!“

„Ja, es war leicht mit dir, auch an [red] dass [/red] (das) Märchen meiner Vergewaltigung hast du geglaubt, dass ich deswegen nicht mit dir schlafen könnte“.

„ (kein Leerfeld)Dann war alles nur Theater und ich ein Einfaltspinsel, der alles ernst genommen hat?“
Sie fing an, die Zeitschriften vom Tisch zu nehmen und in einen Ständer einzuordnen.
Dann sah sie ihn an.
„ (kein Leerfeld)Nicht alles war vorgetäuscht, ich habe dich einmal gemocht, hatte nicht die Kraft(Komma) neu anzufangen. Alles war so bequem“.

Sie warf ihr Glas auf den Boden, stand auf, zog ihren Mantel an.
Er hörte ihr Auto, sie fuhr davon.

VII

Er fing an seinen Koffer zu packen, viel hatte er nicht, der kleine Koffer reichte aus. Er würde nicht viel mitnehmen, würde sich neue Sachen kaufen.
Dann nahm er das Geld aus der Schublade, das Haus würde nicht mehr renoviert werden.
Neu anfangen würde er, alles hinter sich lassen, alles anders machen.
Er lud alles ins Auto ein, das Geld legte er ins Handschuhfach.

Bevor er losfuhr(Komma) ging er noch einmal zurück ins Haus. Hier hatte er mit ihr gelebt, eher neben ihr.
Er schaute sich um, sah in der Eingangshalle die teuren Möbel, Teppiche und Bilder. Nichts davon gehörte ihm wirklich.
Im Käfig lag immer noch der kleine Vogel, verdurstet war er. Der hatte ihm gehört.
Er nahm ihn vorsichtig aus dem Käfig, streichelte ihn, als wenn er noch leben würde.

Vor einem Bild blieb er stehen, es hatte ihn immer wieder beeindruckt:
„Der Schrei“
Er hatte das Original nie gesehen.
Er hatte die Kopie immer wieder angesehen, hatte über den Maler Edward Munch alles gelesen, was für ihn erreichbar war.
Jetzt endlich hatte er verstanden, was der Künstler ausdrücken wollte.
Grauenhaftes Entsetzen sprach aus dem Bild, Verzweiflung, nicht eine Person mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund wurde dargestellt sondern ein Gemütszustand.
Kalte Grüntöne, [red] bedrohlichen [/red] (bedrohliche) Rottöne, hektische Führung der Kreidestriche, alles stürzte auf den Betrachter zu.
Er hatte gelesen, dass der Maler gesagt hatte: „Die Lebensangst hat mich begleitet, seit ich denken kann“.
Auch ihn hatte Lebensangst immer begleitet, er hatte immer etwas gesucht, nie gewusst(Komma) was, und wenn er etwas gefunden hatte, hatte er es wieder verloren.
Und das würde immer so weiter gehen.

Er legte den Vogel unter einen Baum, deckte ihn mit Laub zu.

Dann ging er zum Auto zurück, ließ den Motor an und stellte ihn wieder ab.

Man kann immer nur neu an dem Punkt beginnen, an dem man gerade ist, egal(Komma) wie man dahin gekommen ist, dachte er.
Neu beginnen ist deshalb nur „weiter machen“.

Er stieg aus, ließ die Tür offen stehen und ging zum Meer hinab, kehrte dann noch einmal um und ging ins Haus.

Das Wasser umspülte seine Füße, dann seine Schenkel, er schaute sich nicht mehr um, er hielt den Plüschelefanten an sich gedrückt.


Eine klasse Geschichte. Knapp und präzise ausgedrückt und den Spannungsbogen gehalten.
Das sollte in die Antho!
lg
 

Retep

Mitglied
Und er sah den kleinen Elefanten da stehen. Mit einer dünnen Kette hatten sie ein Bein von ihm an einen Pfahl aus Holz angebunden. Er konnte nicht weglaufen.
Später, wenn er groß und stark war, würde die dünne Kette ausreichen, um ihn festzuhalten. Er würde niemals wissen, dass er sie zerreißen konnte.





Die Kette



I

An seinem vierten Geburtstag war sein Vater mit seinen beiden Brüdern zum Fußball gegangen war, ihn hatte niemand gefragt, ob er mitgehen wolle, seine Mutter war angeblich zu einer Freundin gefahren.
Er saß alleine mit einem Geschenk auf dem Fußboden seines Zimmers, ein Geschenk, das er sich nie gewünscht hatte, ein kleiner Plüschelefant.
Ein Feuerwehrauto wollte er haben.
Karin, das Dienstmädchen, ging mit ihm ein Eis essen.

An seinem ersten Schultag, hatte niemand Zeit gehabt, ihn zu begleiten. Die anderen Kinder waren mit ihren Eltern gekommen, trugen große Schultüten, hatten neue Schulranzen.
Karin hatte ihn hingebracht, eine Schultüte hatte er nicht, sein Schulranzen war schon ziemlich abgenutzt, einer seiner Brüder hatte ihn jahrelang benutzt.
Eine Stunde hatten sie bei einer alten Lehrerin Unterricht, etwas malen sollten sie. Alle hatten über seine abgebrochenen Farbstifte gelacht.
Die anderen wurden von ihren Eltern abgeholt, er stand zunächst alleine vor dem Schultor, bis Karin endlich kam.
Seine Mutter fand ihn dann am späten Nachmittag, er saß zu Hause auf der Treppe vor dem Haus und war eingeschlafen. Den Plüschelefanten hielt er im Arm.
Sie wollte nicht wissen, wie es am ersten Schultag gewesen war, brachte ihn ins Bett.

Was er in der Schule machte, hatte niemanden interessiert. Alle waren mit sich selbst beschäftigt. Ein Bruder ging aufs Gymnasium, der andere studierte Medizin, sollte Arzt werden wie sein Vater.
Er war das fünfte Rad am Wagen, keiner hatte ihn gewollt, er wurde wenig beachtet, nur geduldet.
Alles, was er anfangen wollte, wurde abgelehnt. „Das kannst du sowieso nicht!“
Dass er aufs Gymnasium gehen würde wie seine Brüder, kam überhaupt nicht in Frage.
„Das kann der Kleine sowieso nicht“, hörte er immer wieder, „der braucht einen praktischen Beruf.“
Das hatte er so oft gehört, dass er es schließlich selbst glaubte.

Niemand hatte Zeit, sein Vater kam immer erst nachts nach Hause, später merkte er, dass er neben seinem anstrengenden Beruf, er war Chirurg, mit einer Freundin viel Zeit verbrachte. Seine Mutter war zwar Hausfrau, aber nie zu Hause, hatte auch einen Freund.
Bei Diskussionen im Kreis der Familie erwartete niemand, dass er seine Meinung sagte.
Er wurde immer stiller, hatte kaum Freunde. Dass er viel las, merkte niemand, Bücher bekam er nicht geschenkt, wozu auch, las alles aus der Bibliothek seines Vaters, vieles verstand er zunächst nicht.

Als er dann fünfzehn war, brachte ihn sein Vater als Gehilfe in einer Eisenwarenhandlung unter. Hier arbeitete er still und zuverlässig, machte bald auch die gesamte Buchhaltung. Herr Deutschmann, sein Chef, schaute ihn oft nachdenklich an, sprach aber wenig mit ihm.
Sein Lohn war zwar gering, aber er brauchte nicht viel, wohnte immer noch bei seinen Eltern.
Für Geld, das er übrig hatte, kaufte er Bücher, er erschaffte sich allmählich eine Traumwelt, in der er ein Held sein konnte.
Gern hätte er auch eine Freundin gehabt wie andere Jungen in seinem Alter. Aber wer würde schon mit ihm etwas anfangen wollen.





II

Dann fing er an, Tennis zu spielen. Er hatte öfter am Zaun des Tennisplatzes gestanden und zugeschaut. Hübsche Mädchen waren da.
Seine Mutter meldete ihn an. Er merkte, dass sie froh war, ihn los zu haben.
Sein Trainer sagte ihm, dass er Begabung und Talent für diesen Sport hätte.
Nach zwei Jahren gewann er mit 17 Jahren die Clubmeisterschaft.
Sein Vater war ausnahmsweise mit zum Endspiel gekommen und meinte:
„Na ja, das war ganz gut, aber das wird auch nichts werden. In diesem Dorf die Meisterschaft zu gewinnen, ist nicht schwer. Um mehr zu erreichen, müsse er mehr Talent haben“.
Er glaubte ihm und hörte auf, Tennis zu spielen.


III

Er merkte, dass er vieles nicht verstand, dachte, dass er nicht ewig als Gehilfe in einem Laden arbeiten sollte, finanziell war er zwar versorgt, seine Eltern erhöhten seinen bescheidenen Lohn.
Sein Freund Uli, der mit ihm zusammen im Eisenwarenladen arbeitete, besuchte Abendkurse, wollte das Abitur in drei Jahren machen.
Herr Deutschmann fragte ihn, ob er nicht auch lieber etwas anderes machen wolle, als sein Leben lang bei ihm zu arbeiten.
Er schrieb sich auch in Abendkurse ein, obwohl sein Vater sagte, dass das zu schwer für ihn sei.
Alles interessierte ihn, er lernte die Welt aus einem anderen Blickwinkel kennen, machte gute Fortschritte. Wachte auf.
Im letzten Jahr hatte er Schwierigkeiten im Fach Mathematik und bat seinen Bruder ihm zu helfen, ihm etwas zu erklären.
Sein Vater kam dazu, hörte zu, schüttelte den Kopf und sagte: „Ich habe ja gleich gesagt, dass das alles wenig Sinn macht. Das kannst du nicht, es ist zu schwer für dich“.
Er glaubte ihm und meldete sich vom Kurs ab, obwohl seine Lehrer ihm davon abrieten.


IV

Seine Mutter meldete ihn zu einem Tanzkurs an, war besorgt, weil er keine Freundin hatte. Sein Freund Uli nahm auch teil.
Er hatte Magdalena kennen gelernt und verliebte sich in sie. Oft gingen sie zusammen spazieren, küssten sich auch.
Es war klar, dass er den Abschlussball mit ihr machen würde.
Zum ersten Mal in seinem Leben fing er an, sich etwas zuzutrauen.

Dann sahen sie sich seltener, Magdalena hatte immer etwas anderes zu tun, sie sagte ihm dann, dass sie den Schlussball mit Uli zusammen machen würde.
Er konnte sie verstehen und meldete sich vom Tanzkurs ab.


V

Diesmal war alles anders. Sein Vater hatte ihn zu einem Hausfest eingeladen.
Seine Mutter war zu einer Freundin gefahren.
Zum ersten Mal würde er dabei sein. Sogar einen neuen Anzug hatte man ihm gekauft. Möglichst wenig reden solle er, hatte sein Vater ihm eingeschärft.
Moses stand alleine am Fenster und nippte an einem Drink, er war Alkohol nicht gewöhnt. Er schaute die eintretenden Gäste an, Arbeitskollegen seines Vaters mit ihren Gattinnen in Anzügen und Abendkleidern. Er hoffte, dass der Abend schnell zu Ende ginge, fühlte sich unsicher, strich sich über seine langen blonden Haare, die ihm immer wieder über das Gesicht fielen.
In seinem neuen, dunklen Anzug fühlte er sich nicht wohl, kam sich eingezwängt vor, obwohl er schlank war. Er war an lockere, bequeme Kleidung gewöhnt.
Er versuchte kleiner zu erscheinen, als er war, stand immer etwas gebückt da, als wenn er etwas vom Boden aufheben wollte.

Dann kam sie auf ihn zu, sie ging fast wie eine Tänzerin, fast schwebend, mit kleinen Schritten. Ihm fielen ihre langen roten Haare auf, die weit über ihre Schultern reichten, sehr gerade ging sie, bewegte den Kopf immer wieder hin und her, ihr Haar flog von einer Schulter zu anderen.
Sie gab ihm die Hand, stellte sich als Praktikantin seines Vaters vor, Carla Manshold, und er sah, dass sie grüne Augen hatte. Sie schaute unruhig, fast ein wenig unsicher umher, immer wieder seinen Vater sah sie an.
Mit ihren Stöckelschuhen war sie fast so groß wie er.
Er versuchte sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, aber immer wieder fiel sein Blick auf ihre langen Beine, die durch einen Minirock noch länger erschienen, als sie waren, und auf ihren wohlgeformten Körper. Er hoffte, dass sie es nicht bemerken würde.

Welch eine Traumfrau, dachte er.
Sie bat ihn, ihr ein Glas Sekt zu holen.
Sie tranken einander zu.
„ Wir könnten eigentlich zueinander "Du" sagen“, sagte sie.

Das Essen hatte ein Partyservice angerichtet, alle gingen ins Esszimmer, Carla saß zwischen ihm und seinem Vater.
„Seit einem Jahr arbeite ich jetzt bei deinem Vater“, sagte sie, „ich werde am Ende des Jahres meine Ausbildung beenden. Ich habe viel gelernt, dein Vater ist ein ausgezeichneter Chirurg, aber das weißt du ja wohl.“
„Ja, ich habe das gehört, ich weiß wenig über meinen Vater.“
Er leerte sein Weinglas in einem Zug, versuchte entspannter zu sein, der Alkohol würde ihm dabei helfen, dachte er.
Sie sah ihn etwas verständnislos an, wartete wohl auf eine Erklärung.
Er wollte das Gespräch in Gang halten, wusste nicht, was er sagen sollte, befürchtete, sie würde ihn nach seiner Ausbildung fragen.
„Bei uns in der Familie bin ich das fünfte Rad am Wagen“, sagte er, „ ich fühle, dass ich irgendwie nicht ganz dazu gehöre. Ich werde nicht ganz für voll genommen, man traut mir nichts zu. Meine beiden Brüder studieren, ich arbeite in einer Eisenwarenhandlung.“
Er staunte über sich selbst, dass er so offen reden konnte, die Wirkung des Alkohols machte sich wohl bemerkbar.
Sie hörte auf zu essen, legte die Gabel auf den Teller und streichelte seine Hand. Sie schaute ihn dabei an, dann seinen Vater.
Am Tisch wurden die Diskussionen immer lauter. Keiner schien sich um Carla und ihn zu kümmern.
Es ging darum, wer den Satz gesagt hatte:
„Der Mann ist leicht zu erforschen, die Frau verrät ihr Geheimnis nicht“.
Sein Vater meinte, meistens habe Goethe alles Wichtige gesagt.
Moses hatte anfangs nicht zugehört, sagte dann, in diesem Fall sei das ein Irrtum, Kant habe den Satz gesagt.
Carla sah ihn nachdenklich und überrascht an.
Am Tisch waren alle Gespräche verstummt, alle schauten ihn an, er bereute, dass er sich eingemischt hatte.
Sein Vater fragte ihn, woher er denn das wisse.
„Ich habe es gelesen!“
„Wo?“
„Du hast eine riesengroße Bibliothek, ich habe fast alle Bücher daraus gelesen. Bin später dann auch in öffentliche Bibliotheken gegangen.“
Verständnislos schaute ihn sein Vater an.
„Na ja, dass du das nicht von dem stumpfsinnigen Deutschmann aus der Eisenwarenhandlung weißt, ist mir schon klar. Bei dieser primitiven Arbeit hast du genug Zeit, etwas Gescheiteres zu tun. Manchmal findet auch ein blindes Huhn ein Korn. Du musst schließlich nicht hart arbeiten wie wir alle.“

Der Nachtisch wurde serviert, Eistorte.
Die Gespräche waren wieder in Gang gekommen, Carla sah ihn an. Er spürte ihren Fuß an seinem Bein, sie hatte wohl einen Schuh ausgezogen.
Sie hatte ihn bewundernd angesehen, wie er meinte, hatte eine Hand auf seinen Oberschenkel gelegt und streichelte ihn sanft, schaute dabei seinen Vater an.

Er stand auf, leicht schwindlig vom Alkohol fühlte er sich, entschuldigte sich, er müsse einmal frische Luft schnappen.

Er stieg die Treppe hinunter und ging im Garten umher. Plötzlich umarmte ihn jemand und küsste ihn.

VI

Als er zurück kam, war der Vogel tot.

Drei Tage war er weg gewesen, war in die Stadt gefahren, hatte sich in einem Institut eingeschrieben, er würde jetzt das Fachabitur machen und später studieren, hatte ein Zimmer in einer kleinen Pension gemietet, hier würde er längere Zeit wohnen. Frei würde er endlich werden, etwas aus sich machen, von allem loskommen.
Alle, die ihm nie etwas zugetraut hatten, würden überrascht sein, endlich hatte er es geschafft.

Sie saß im Sessel vor dem Fenster, schaute ihn nicht an, starrte auf den Boden. Ein großes Glas hielt sie in der Hand.
Älter war sie geworden, dachte er.
„Du hättest ihm wenigstens Wasser geben können“, sagte er zu seiner Frau Carla.

„Ich hatte Wichtigeres zu tun, als mich um deinen blöden Vogel zu kümmern“.
Sie ging zum Getränkeschrank, holte eine Flasche Wodka heraus und schenkte sich ein Wasserglas voll ein.

„Du hast immer Wichtigeres zu tun, bist selten zu Hause“.
Er sah sie an, versuchte sich zu erinnern, wie sie war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

„Du hast keine Ahnung, wie anstrengend die Arbeit im Krankenhaus ist, hockst immer ruhig zu Hause und glaubst noch, das sei etwas Besonderes. Das einzige, was dich wirklich interessiert sind deine Bücher!“
Sie goss sich ein weiteres Glas Wodka ein und schaute aus dem Fenster.

„Du lässt mich ja nichts anderes machen. Wenn deine Freunde kommen, bin ich ein Hausangestellter, bediene euch von vorne bis hinten. An Gesprächen soll ich ja nicht teilnehmen, du hast Angst, dass ich dich blamieren könnte.
Du führst deine Gäste in diesem Traumhaus am Meer herum, das mein Vater bezahlt hat.
Mich, deinen Ehemann, stellst du kaum vor“.
Er dachte, dass es ihm in seinem ganzen bisherigen Leben so ergangen war, immer war er ausgeschlossen gewesen, nur nützlich für einfachste Arbeiten.

Sie hatte ihr Glas schon wieder geleert.
„ Dir will ich jetzt mal etwas sagen, was dich von den Socken hauen wird. Der das Haus bezahlt hat, ist nicht dein Vater“.

„Wer denn sonst?“

„Professor Dr. Ernst Geppert. Aber er ist nicht dein Vater.
Er hat mich gestern verlassen und entlassen, hat eine andere gefunden.“

Er glaubte nicht richtig gehört zu haben, sprang aus dem Sessel auf und stand jetzt direkt vor ihr.

„Was soll denn das wieder?“

„Du bist nicht sein Sohn!“

„Was?“

„ Dein Vater ist Georg Deutschmann von der Eisenwarenhandlung, wo du etliche Jahre gearbeitet hast. Deine Mutter ist fremd gegangen!“
Georg Deutschmann sein Vater! Jetzt verstand er manches besser.

Er sagte aber:
„ Das glaube ich dir nicht, das ist wieder eine von deinen Gemeinheiten!“

„Sag mal, ist dir wirklich nie aufgefallen, wie dich alle behandelt haben? Hast du nie gemerkt, dass dir niemand etwas zutraut? Dass du nicht zur Familie gehörst? Dass du den, den du für deinen Vater hälst, in nichts ähnelst?“

„ Ganz früher war das wohl so, aber dann hat mein Vater unsere Heirat gefördert, uns das Haus gekauft, dich zu seiner Assistentin gemacht! Uns oft besucht.“

„ Unsere Heirat gefördert! Georg hat mich gekauft. Es war bequemer für uns, wenn ich mit seinem angeblichen Sohn verheiratet war. Ich war dann immer für ihn verfügbar.“

Er setzte sich wieder in den Sessel, schluckte, schwieg.
Dann sagte er:
„Deswegen kommst du so oft erst spät in der Nacht nach Hause, deswegen bist du so oft auf irgendwelchen Tagungen!“

„Ja, es war leicht mit dir, auch an das Märchen meiner Vergewaltigung hast du geglaubt, dass ich deswegen nicht mit dir schlafen könnte“.

„ Dann war alles nur Theater und ich ein Einfaltspinsel, der alles ernst genommen hat?“
Sie fing an, die Zeitschriften vom Tisch zu nehmen und in einen Ständer einzuordnen.
Dann sah sie ihn an.
„ Nicht alles war vorgetäuscht, ich habe dich einmal gemocht, hatte nicht die Kraft neu anzufangen. Alles war so bequem“.

Sie warf ihr Glas auf den Boden, stand auf, zog ihren Mantel an.
Er hörte ihr Auto, sie fuhr davon.

VII

Er fing an seinen Koffer zu packen, viel hatte er nicht, der kleine Koffer reichte aus. Er würde nicht viel mitnehmen, würde sich neue Sachen kaufen.
Dann nahm er das Geld aus der Schublade, das Haus würde nicht mehr renoviert werden.
Neu anfangen würde er, alles hinter sich lassen, alles anders machen.
Er lud alles ins Auto ein, das Geld legte er ins Handschuhfach.

Bevor er losfuhr ging er noch einmal zurück ins Haus. Hier hatte er mit ihr gelebt, eher neben ihr.
Er schaute sich um, sah in der Eingangshalle die teuren Möbel, Teppiche und Bilder. Nichts davon gehörte ihm wirklich.
Im Käfig lag immer noch der kleine Vogel, verdurstet war er. Der hatte ihm gehört.
Er nahm ihn vorsichtig aus dem Käfig, streichelte ihn, als wenn er noch leben würde.

Vor einem Bild blieb er stehen, es hatte ihn immer wieder beeindruckt:
„Der Schrei“
Er hatte das Original nie gesehen.
Er hatte die Kopie immer wieder angesehen, hatte über den Maler Edward Munch alles gelesen, was für ihn erreichbar war.
Jetzt endlich hatte er verstanden, was der Künstler ausdrücken wollte.
Grauenhaftes Entsetzen sprach aus dem Bild, Verzweiflung, nicht eine Person mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund wurde dargestellt sondern ein Gemütszustand.
Kalte Grüntöne, bedrohliche Rottöne, hektische Führung der Kreidestriche, alles stürzte auf den Betrachter zu.
Er hatte gelesen, dass der Maler gesagt hatte: „Die Lebensangst hat mich begleitet, seit ich denken kann“.
Auch ihn hatte Lebensangst immer begleitet, er hatte immer etwas gesucht, nie gewusst was, und wenn er etwas gefunden hatte, hatte er es wieder verloren.
Und das würde immer so weiter gehen.

Er legte den Vogel unter einen Baum, deckte ihn mit Laub zu.

Dann ging er zum Auto zurück, ließ den Motor an und stellte ihn wieder ab.

Man kann immer nur neu an dem Punkt beginnen, an dem man gerade ist, egal wie man dahin gekommen ist, dachte er.
Neu beginnen ist deshalb nur „weiter machen“.

Er stieg aus, ließ die Tür offen stehen und ging zum Meer hinab, kehrte dann noch einmal um und ging ins Haus.

Das Wasser umspülte seine Füße, dann seine Schenkel, er schaute sich nicht mehr um, er hielt den Plüschelefanten an sich gedrückt.
 

Retep

Mitglied
Hallo flammarion,

du hast dir eine wahnsinnige Arbeit mit den Korrekturvorschlägen gemacht. Ich konnte es nicht glauben, dass ich solche Fehler gemacht hatte, sah sie dann aber.
Hoffe, dass ich alles berichtigt habe.

Dein Kommentar hat mich natürlich sehr gefreut.


Gruß

Retep
 

Retep

Mitglied
Hallo Clara,

danke für deinen Kommentar.

- "ohne den kleinen elefanten an der kette wäre mir wohl ein verstehen nicht so leicht gefallen."

Ja, den kleinen Elefanten finde ich auch sehr wichtig in meinem Text.

Gruß

Retep
 

Retep

Mitglied
Hallo,

wenn ich in nächster Zeit keine Kommentare abgebe, nicht auf Kommentare antworte, keine Texte mehr einstelle, bedeutet das nicht, dass ich kein Interesse mehr hätte. Ich werde für etwa drei Monate in Südamerika sein, in Gegenden, wo es wahrscheinlich keinen Internetzugang gibt.
Wünsche allen eine gute Zeit.

Gruß

Retep
 



 
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