Die Kiste

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Markus Veith

Mitglied
Der Talkessel gleicht einem Kolosseum und ist so breit, dass man einen Tag bräuchte, um ihn zu durchqueren. Tief und weit unten liegt ein einzelnes Dorf, umgeben von Feldern und dichtem Wald, der bis an die ansteigenden Ränder heranreicht. Die Dorfbewohner sind frühe Nächte und späte Tage gewohnt. Die tief stehende Sonne füllt das Tal mit Schatten. Entlang des hohen runden Felsgrades stehen in weiten Abständen etliche Menhire. Ihre Schatten ragen lang über die Unendlichkeit außerhalb des Talkessels. Hier ist das Land wüst und leer. Raureif über eisigem Geröll, so weit man sehen kann.
Es herrscht absolute Stille.
Ein Stein in der Reihe der Menhire sieht anders aus als die anderen. Mit diesem hat der Wind ein seltsames Spiel getrieben: Er ist eine ausgehöhlte Halbkugel, die aufrecht, die Öffnung der Geröllwüste zugewandt, auf einem Sockel thront. Ein junger Mann sitzt im Innern dieses Steinsessels. Er trägt die Kleidung eines Jägers, hat jedoch keine Waffen bei sich. Die Hände zwischen seinen verschränkten Beinen, sitzt er einfach nur da und blickt über die Ebene, verbitterte Enttäuschung in den hellblauen Augen. Im Schoß hält er ein Holzkistchen. Liebevoll streichelt er es.
Vom Tal her nähert sich ein Schnaufen und hinter dem Steinsessel taucht eine Gestalt auf. Er ist ebenfalls ein Jäger und genauso alt wie der Jüngling in der Halbkugel, trotzdem keucht er schwer und hält sich erschöpft am Rand des Steines fest. Die Kälte hat ihm die Gelenke steif gemacht, und gefrorener Atem hängt in seinem Bart.
Unverwandt schaut der Sitzende den Ankömmling an, sieht die Entrüstung in dessen Gesicht. Seine Wangen glühen nicht allein von der Kälte. Allmählich kommt er wieder zu Atem. „Und?“
Sein Freund wendet den Blick wieder der Ebene zu. Seine Kiefermuskeln treten hervor. „Wo warst du?“ fragt er leise.
„Wo ich war?“ Die dichten Brauen des Jägers ziehen sich verständnislos zusammen. „Na, daheim. Wo denn sonst?“
„Ich bat dich, schon am gestrigen Tag hier zu sein. Nicht erst heute.“ Seine Stimme vibriert. „Wo warst du?“
Die Stimme des anderen ist um so bestimmter. „Mein Lieber, ich hatte zu tun. Im Gegensatz zu dir habe ich eine Familie satt zu kriegen. Ich kann nicht alles stehen und liegen lassen, nur weil du rufst und mir sagst, ich solle hier her kommen ...“ – „Ich habe dich gebeten, zu mir hier her zu kommen“, unterbricht ihn der Jäger in dem Stein.
Der Andere verdreht die Augen. „Meinetwegen. Ich habe jedenfalls andere Sorgen. – Außerdem erschien es mir nicht ... so dringend.“ Bei diesen Worten zuckt der Sitzende zusammen und senkt den Blick. „Ich wollte erst gar nicht kommen“, fährt der Jäger lapidar fort. „Und hätte ich gewusst, welch anstrengenden Weg es bedeutet, hätte ich mich gar nicht erst aufgemacht. Wer geht denn freiwillig bis hier hinauf?“ Er blickt mürrisch über die unendliche eisgraue Fläche. „Hier ist doch nichts. Keine Tiere, keine Fallen, keine Arbeit, kein Nutzen. Als du mir den Weg beschrieben hast, klang es nach wer weiß was Tollen und es läge gleich hinterm Wald.“
Der Sitzende nickt langsam. „Mir ging es ähnlich. Im Dorf laufen wir stets mit gesengtem Blick. Man schafft den Weg nach oben nur, wenn man ihn nie vorher gesehen hat.“
Hinter den beiden Jägern drückt sich die Sonne langsam in den Horizont. Die Schatten schieben sich übereinander. Der jenseitige Felsenkamm entflammt. Das abnehmende Licht verziert ihn mit einer goldenen Kruste.
„Du warst komisch in der letzten Zeit“, bricht der eine Jäger endlich das Schweigen, ohne seinem im Stein hockenden Freund einen Blick zu gönnen. „Allen ist deine Nachlässigkeit aufgefallen. Du kommst nicht mehr in den Gasthof, gehst nicht mehr zur Jagd, gerbst deine Felle nicht ...“
„Rauche nicht mehr.“ Der Jäger mit den hellblauen Augen schaut auf. „Esse und trinke nichts. Schlafe nie.“
„Ja“, sagt sein Freund er heftig. „Und in deinem Haus sieht es aus, als hätten Kraut und Rüben dich bereits vertrieben. Aber statt dich zu besinnen, läufst du über die Felder und durch den Wald, ohne deine Augengläser vermutlich halbblind, hältst diese seltsame Kiste vor dir her und starrst die ganze Zeit gebannt darauf, als seiest du irre im Kopf.“ Der bärtige Jäger schüttelt entrüstet den Kopf. Dann schaut er scheel auf den Sitzenden herab. „Was ist denn drin? Muss ja ein ordentliches Geheimnis sein, wenn du es nie öffnest und es allen Blicken verschließt.“
„Du hast also bemerkt, dass ich mich verändert habe, alles Gewohnte für mich unwichtig wurde.“ Der andere Jäger schaut auf. „Warum hast du mich nie gefragt, um was es sich dabei handelt? War es zu fremdartig? Oder warst du ... neidisch? Weil du gesehen hast, wie glücklich ich war? – He! Warum schaust du nun weg, mein Freund? Sieh mich an. Stimmt es?“ Er hält ihm sein hölzernes Kleinod entgegen. „Ich will dir sagen, was es mit dieser Kiste auf sich hat: Ich glaube mich zu erinnern, dass sie mir in einem Traum gegeben wurde, weiß aber nicht mehr, von wem. Anfangs gelang es mir nicht sie zu öffnen. Ich versuchte alles, den Mechanismus zu finden, der sie von innen verschlossen hielt, denn mein Verlangen ihren Inhalt zu sehen wurde von Tag zu Tag größer.
Schließlich entdeckte ich, dass ich den Deckel einen Spalt weit anheben konnte, wenn ich mich an bestimmten Orten befand. Überall versuchte ich, meine Kiste vollends zu öffnen. Und je weiter ich lief um so mehr ließ sich der Deckel heben. Doch selbst wenn ich mein Auge dicht an den Spalt legte, gelang es mir nicht etwas zu erkennen. Trotzdem war ich mir sicher, so sicher, wie ich mir nie in meinem Leben zuvor war, dass sich etwas in dieser Kiste befinden musste. Und der Drang dieses Etwas zu besitzen, seine Eigenart herauszufinden, war so neu, so geheimnisvoll und berauschend, dass nichts anderes mir mehr wichtig erschien. Denn dieses Etwas ... Ich spürte wie es wuchs. In mir reifte. Einer Vollendung entgegeneiferte. Es quoll bereits aus mir heraus und schärfte mir die Sinne:
Zuerst glaubte ich, meine Augengläser seien kaputt. Bis ich sie abnahm und alles klar sehen konnte. Klarer, als ich es mit den Gläsern jemals hatte sehen können. Ich sah die Käfer unter der Baumrinde. Die einzelnen Tropfen einer Wolke. Ich weiß nun, woraus Licht besteht und wir, du und ich.
Und meine Ohren. Freund, ich hörte das Wachsen des Waldes. Das Recken der Hölzer. Den Herzschlag des Maulwurfs. Ich roch Düfte, wie ich sie nie wahrgenommen hatte. Den süßlich Südwind und den würzigen Westwind. All das lernte ich kennen. Und mein Geist flog in die Höhe, empor zu den Sternen und Monden und Sonnen. Ich betastete sie, schloss Freundschaft mit ihnen, und nachts winken sie mir zurück.
Erinnerst du dich, wie ich dir dieses Holzkistchen zeigte und versuchte, dir meine neuen Empfindungen zu beschreiben. Doch du hast sie gedreht und gewendet und nur gesagt: ‚Das ist bloß eine einfache Holzkiste, wie jede andere auch. Und sie klemmt auch noch.’ So sagtest du, nicht wahr?“
Langsam erhebt er sich aus dem windgeformten Stein. In diesem Moment verabschiedet sich die Sonne mit ihren letzten Strahlen vom alten Tag. Dunkelheit legt sich über die ganze Umgebung.
„Da kam ich schließlich zu diesem Ort, zu diesem Stein, und plötzlich wusste ich alles. Was. Wann. Warum. Wie. – Ich sah dieses Alles deutlich vor mir. Und wie eine Pflanze fühlte ich den Drang, mich entfalten zu wollen. Groß zu werden ... wunderbar. Aber ich war noch nicht soweit.
Ich rannte zu dir und bat dich, unbedingt zu kommen, hierher zu mir. Damit du siehst, was in mir ist und raus wollte. Weißt du noch? Ich wollte dir dieses Alles zeigen.“
„Dann zeig es mir jetzt“, fordert ihn ein Schemen in der Dunkelheit auf. „Jetzt sind wir hier zusammen. Also, was willst du mir zeigen, hm?“
Der andere Schemen hält etwas Dunkles an die Brust gepresst. In der Finsternis glimmen zwei hellblaue Lichter wie nebeneinander schwebende Funken. Dann flüstert er: „Ich saß da und schaute um mich her. – Zu allen Seiten war nichts. Rund um den Talkessel, den wir unser Leben lang unsere Heimat nennen. Es ist ein großes Nichts. Ödes, eisig kaltes Land. Plötzlich wusste ich, was mich verändert hatte. Ich habe endlich dieses Nichts wahrgenommen, das uns umgibt. Und dann habe ich meinen Schatz geöffnet.“
Langsam hebt sich der Deckel und ein lächelndes Gesicht wird von einem hellblauen Glimmen aus dem Innern beleuchtet.
„Da wuchs ich mit einem Male und wurde gleichzeitig winzig klein. Die ganze Welt rauschte in mich hinein und aus mir heraus und an mir vorbei und über mich hinweg. Und nicht nur die Welt. Alles. Plötzlich wurde mir bewusst: Ich war die
Mitte.
Die Mitte
war in mir.
Ich war nur noch Geist.
War nur noch Alles in meiner Hand, die ich hob.
Hoch. Höher. Ganz hoch.
Die Welt erbebte unter mir und brüllte wie ein Volk, das seinem König zujubelt.
Mit einer winzigen Bewegung meiner Hand
forderte ich sie auf, sich zu erheben
und Alles türmte sich vor mir auf.
Eine erdige Flutwelle, die erstarrte und blieb, wie ich es wollte.
Ich erschrak so sehr, dass ich Angst vor mir selbst bekam.
Und ich schlug die Hände vor mein Gesicht, und alles krachte vor mir
zusammen und war sofort wieder schweigend friedlich. – Die Kiste. Ich nahm die Hände vom Gesicht und sah sie vor mir. Geöffnet. Schwebend. Und da war weiterhin dieses Gefühl. Als lege mir jemand seine Hand auf die Schulter und lächle. Ich spürte, wie es begann. Aber du warst noch nicht da. Und ich konnte, durfte nicht mehr warten. Also breitete
Ich
meine Hände über das Land, spaltete den Horizont, formte ihn nach meinem Belieben, stemmte ihn hoch und auseinander. Gewaltige steinerne Gesellen mit kaltweiß bestäubten Häuptern.
Meine Ohren waren wie betäubt von ihrem Spektakel.
Und dabei brüllte ich:
‚Wo bist du?!’
Meine Stimme ging unter in schöpferischem Lärm. Trotzdem brüllte ich immer wieder: ‚Wo bist du?! Warum bist du nicht hier, wo ich dir etwas bedeuten möchte?!’
Ich durfte nicht innehalten, musste weitermachen.
Alles aus mir rauslassen, bevor es mich selbst sprengte.
Oh, welch ein Gefühl!
Wie es mir gehorchte. Wie ich es führen und dirigieren konnte.
Ich durchfurchte das Land, holte Wasser zu mir her, schuf eine Küste, kratzte Läufe für Flüsse. Wie einen Teppich legte ich fruchtreichen Boden aus. Aus meinen Handflächen blies ich Samen in den Wind, der in Sekundenschnelle aufging.Bäume zwängten sich knarrend aus der Erde, drangen in den Himmel. Meine Handflächen strichen Auen und Blumenwiesen glatt. Ihre Ausläufer schlängeln sich in die Senken, lassen sich über Felsen fallen, spielen rauschende Spielchen mit dem Sonnenlicht, sammeln sich zu Spiegeln und gründen bunt blühendes Leben. Teppiche mit eingewebten Blumen in den Niederungen, vielgestaltig und kunstvoll um die Füße der Bäume ausgelegt. Dann schaute ich mir Hänge aus, von denen herrlich Bäche herab fallen konnte, bohrte mit einen Finger, ließ sie sprudeln, lenkte ihren Lauf, ließ ihr Wasser auf Steinen tanzen
und rührte es zu Spiegeln. Und ich ließ Wolken aufziehen. Groß und weiß, wie gewaschene Watte. Allein meine Gedanken türmten sie über einander. Und ich bespuckte sie von unten und Regen strömte herab auf
meine Schöpfungen und mich.
Und ich sah, dass es gut war.
Ich fühlte mich wie in einem tobenden Rausch.
Für einen Moment, für einen kleinen Teil meines Lebens, hatte ich die Macht der Mitte.
Die Erlaubnis, die Welt ganz allein nach meinem Willen zu gestalten.
Ich wusste, bald musste das Wunder vollbracht sein.
Und du warst noch immer nicht da.
Ich bildete mir ein, du seiest es gewesen, der mir seine Hand auf die Schulter gelegt und mir Mut gemacht hatte, aber ich schaute hinter mich und dort war niemand. Nur der Talkessel, mein altes Gefängnis, in dem die Insassen zu Mittag schliefen. Wieder schrie ich nach dir. Du solltest dich beeilen. Noch sei es nicht zu spät. Ich wolle den Rest für dich aufsparen.
Denn ich spürte die Ideen in mir, wie sie sich aufbauten. Ideen von großen Städten. Von Türmen, die sich in die Sonne bohrten. Von gewaltigen Monumenten, die den Himmel einnahmen. Ich hielt sie zurück. Ich litt Schmerzen.Es wollte mich schier zerreißen.
Und dann,
ganz unvermittelt,
war das Alles
vorbei.
Ich sackte in mich zusammen und es war mir, als keuche aller Atem der Welt aus mir heraus. Leer war ich. Und allein. Ohne dich. – Aber trotzdem: Ich verbeugte mich und glaubt an stummen Applaus.“
Dann schweigt die Dunkelheit in absoluter Stille. Bis zum Morgengrauen.
Als die Sonne jenseits der endlosen, öden Ebene aufgeht, wacht der junge Mann auf. Er fröstelt, gefrorener Atem hängt in seinem Bart. Er blinzelt verschlafen und schaut um sich. Neben ihm ragt ein großer Menhir. Solcherart stehen viele entlang des weiten Talkesselgrades. Aber dieser aufrechte Stein hier erweckt den Eindruck, als sei er während der Nacht aus dem felsigen Grund gewachsen. Die Morgenkühle lässt ihn dampfen. Ihm zu Füßen findet der Jäger ein kleines Kistchen. Mit sanfter Gewalt bemüht sich der Jäger es zu öffnen, doch gelingt es ihm nicht. Irritiert runzelt er die Stirn.
„Was mache ich jetzt damit?“ murmelt er, wobei er zärtlich über den Holzdeckel streichelt. Schließlich geht er den beschwerlichen Pfad die Senke hinunter, dem Dorf entgegen. Dabei lächelt er still vor sich hin.


November 1995
überarbeitet im August 2003
 



 
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