Die kleinen Dinge

Rebecca Iser

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An manchen Tagen fühlt Nina sich, als gäbe es kein Licht mehr. Sie fragt ständig nach dem Sinn von allem, vor Allem in ihrem Leben, und liegt im Bett mit wild kreisenden Gedanken. Oft weiß sie gar nicht warum sie eigentlich hier ist und wofür es sich noch lohnt aufzustehen. Von außen betrachtet, würden Einem bestimmt viele Gründe einfallen, warum Nina das Bett verlassen sollte. Sie muss zum Beispiel arbeiten, um ihre Miete zu bezahlen. Und weil es für sie ein wichtiger Wert ist, sich weiterzubilden und später ihren Job gut zu machen, solltesie eigentlich weiter ihre Uni-Kurse besuchen. Oder ihre Freunde zurückrufen. Immerhin wähnt sie sich selber als gute Freundin, stets als Teil einer Gemeinschaft. Sie sollte zudem aufstehen und sich etwas bewegen, schließlich bezeichnet sie sich selbst als sportlich und möchte ihrem eigenen Körperideal entsprechen. Naja, seien wir ehrlich, eigentlich dem Ideal der Gesellschaft oder so, wie sie glaubt, dass ihr Freund sie haben will. Ja, auch deshalb sollte sie aufstehen, sie hat eine Beziehung zu managen, sie möchte gerne weiter eine tolle, unkomplizierte, fröhliche Freundin sein, um ihren Freund zu halten. Außerdem ist sie ja 22. Also erwachsen. Sie sollte wirklich aufstehen und das ganze Chaos um sie herum beseitigen, denn wie jeder weiß, zeigt sich am Zustand der eigenen Wohnung , ob man sein Leben im Griff hat oder nicht. Und sie hatte hart gearbeitet, in den letzten Jahren, viel runtergeschluckt und alles getan, damit sie sagen kann, dass sie ein erfolgreiches Leben führt. In allen Bereichen, versteht sich.
Doch jetzt gerade, in diesem Moment, fühlt sie sich nicht sehr erfolgreich. Sie liegt, immer noch im Schlafanzug, zusammengekauert, in ihrem Bett, die Luft zum Schneiden dick und gegessen hat sie bis jetzt nur Dinge, die in unmittelbarer Reichweite ihres Bettes waren. Darunter fallen ein paar alte Chips und glutenfreie, vegane Gummibärchen. Ekelhaft.
Schon wieder ein Grund zu weinen. Ja, eigentlich ist gerade alles zum Weinen. Sie liegt, wie eine Versagerin, im Bett und fühlt sich abwechselnd leer oder so verzweifelt, dass sie Angst kriegt. Manchmal kommt ihr bester Freund vorbei und leistet ihr ein bisschen Gesellschaft, während sie weint. Das macht sie oft noch trauriger, weil sie sonst immer stark und lustig und voller Energie war und er sie nun so gesehen hat. Kaum mehr eine ganze Person.
Irgendwann kann sie nicht mal mehr das Haus verlassen, um einzukaufen. Noch mehr Junkfood also, Halleluja. Auch ihre Arbeit und ihre Wohnung kündigt sie, zieht zu ihrem Freund und hofft still darauf, am nächsten Tag aufzuwachen und sich normal zu fühlen. Mittlerweile ist sie oft nicht mehr nur verzweifelt oder leer, sondern in solcher Angst vor allem, am meisten vor sich selbst, und diesem Monster, das in ihr sitzt und ihr nach und nach alles wegnimmt, sie von innen auffrisst, bis sie sich selber nicht mehr erkennt, dass sie kaum noch atmen kann, ihr Körper ihr entgleitet und sie zu einem unkontrolliert zitterndem und hyperventilierendem Häufchen Elend wird, dass weder sieht noch hört, was um es herum geschieht. Zunächst kommen diese Attacken, wenn sie wieder mal daran denkt, was sie alles verloren hat. Doch mit der Zeit werden sie unberechenbar. Nina fragt sich manchmal, ob sie vielleicht nur träumt und eigentlich gesund ist, und wenn sie wirklich am Boden ist, glaubt sie das sogar. Dann fühlt sie sich wie in einem Film und gleichzeitig so verwirrt, dass ihr Kopf schwirrt, als sei sie betrunken. Sie erkennt sich dann im Spiegel nicht wieder und fühlt ihre eigene Präsenz außerhalb ihres Körpers. Diese Momente machen ihr besonders Angst. Denn dann verliert sie komplett den Bezug zu sich selber. Ihr Vertrauen in ihre Wahrnehmung und ihre Erinnerungen schrumpft so, immer weiter, kaum noch auszumachen, so ähnlich wie ihr Selbstwertgefühl, zumal ihr oft gesagt wird, dass sie ihren eigenen Gedanken nicht trauen darf. Oder ihrem Gefühl. Was bleibt ihr dann noch übrig, als verstummt oder schreiend im Bett zu liegen und ihr Leben zu hassen? Es so sehr zu hassen, dass sie sich manchmal wünscht, sie wäre tot. Oder sich zu fragen ob man ihrem Körper ansieht, was sich in ihrer Seele abspielt? Dass ihre Brust, wenn sie wieder mal den ganzen Tag geweint hat, nicht leichter ist, sondern droht zu zerspringen vor lauter Schmerz und ihre Gefühle und ihre Energie innerlich an ihr reißen und sie, wie in einem Tornado, hin und her schmeißen, außer Kontrolle? Wenn sie dann nachts oder einfach so beim Frühstück schlimme Erinnerungen heimsuchen, darf sie dann bedrückt sein, verstört, hilflos und gestraft mit Übelkeit?
Die Zeit vergeht, quälend langsam und doch zu schnell. Irgendwann kommt dann plötzlich ein guter Tag. Ein Tag, der sich etwas leichter anfühlt und sie Mensch ist, statt Patientin, trotz Medikamenten. Was hat sich verändert? Nach und nach drängt sich Nina ein Gedanke auf. Sie ist tatsächlich nicht tot. Sie ist noch nicht gestorben an all dem Schmerz und an all den Stunden voller Kummer. Zwar hat sie schon oft gehört, dass man nicht sterben kann vor Kummer oder vor Angst, aber geglaubt hat sie es, in den schwärzesten Momenten, nicht. Heute hat sie sogar gesehen, wie es schneit. Zwar nur kurz, aber sie hat es gesehen und es hat ihr gefallen. Ihr hat auch gefallen, als sie heute Morgen jemand am Kaffeeautomaten angelächelt hat und als sie in der Nachmittagskälte spazieren war. Später fällt ihr auch noch ein, dass sie ein neues Lied gehört hat, dass schön war und dass ihr der Hausmeister netterweise den Aufzug aufgehalten hat, als sie gehetzt, mit roten Wangen sausend, spät dran war. Im Aufzug hat Nina in den Spiegel geguckt und sich stark gefühlt. Sie hat schon zwei ganze Tage geschafft, ohne zu weinen und heute sieht es auch gut für sie aus. Sie lächelt ein bisschen, als sie daran zurückdenkt, wie sie wortwörtlich am Boden lag und dachte, sie wurde nie wieder lachen können. Das ist zwar letzte Woche erst gewesen, aber dennoch ein Schritt nach vorne, denkt sie. Gerade kann sich Nina überhaupt nicht vorstellen, wie sie auf diesen Gedanken gekommen ist.
Am nächsten Morgen schreckt sie aus einem Alptraum hoch und kann den ganzen Morgen nicht aufhören zu weinen. Wieder weiß sie nicht, wie sie je wieder ein normales Leben führen will und denkt an all die Menschen und die Taten, die sie geschädigt haben und die sie wohl nie vergessen wird. Sie geht nicht zum Frühstück und auch nicht zum Mittagessen, am liebsten würde sie den Tag verschlafen und auch den danach und den danach. Als sie im Schlafanzug über den Flur schlurft, um ihre Tabletten zu holen, muss sie an einer derPutzfrauen vorbei. Diese kann kein Deutsch und Nina hat sie noch nie vorher bemerkt. Dass sie müde aussieht und geweint hat, sieht man. Da stupst die Frau sie überraschend von der Seite an und beginnt zu tanzen, schüttelt sich von Kopf bis Fuß und singt, in einer Sprache, die Nina nicht erkennt. Sie wirft Nina Küsse zu und umarmt sie. Ein Mal. Zwei Mal. Da stimmt Nina in ihr Lachen ein, ein bisschen mehr und mehr, bis sie sich kaum noch halten kann. Als sie nachts schlafen geht, denkt sie an die Frau zurück. Eigentlich hatte siegedacht, dass der Tag ganz furchtbar verlaufen sei. Klar, sie hatte geweint, sie war treppauf, treppab gelaufen, immer wieder, um ihre Anspannung loszuwerden und sich nicht mehr zu fühlen, wie eine tickende Zeitbombe. Aber sie hatte auch gelacht. Und hey, sie war aufgestanden. Mit einem guten Gefühl schläft sie nun ein. Ab dann überlegt sie jeden Abend, ob sie gelacht oder was ihr ein gutes Gefühl gegeben hat. Sie versucht nicht zu sehr nur zu sehen, was ihr weh tut und was noch nicht so läuft, wie sie es gerne will. Natürlich ist nicht von jetzt auf gleich alles wieder gut. Nina wacht immer noch morgens auf, mit einem etwas mulmigen Gefühl, nie wissend, ob es ein heller oder ein dunkler Tag werden wird. Doch jeden Abend, werden ihr mehr und mehr, die Nuancen bewusst und sie sieht oft, dass ein Tag helle und dunkle Seiten hat, wie eigentlich alles im Leben. Das gibt ihr Zuversicht und ein bisschen Sicherheit. Denn egal, wie trüb ihre Gedanken manchmal sind und wie hart das Aufstehen und Weiterkämpfen sich anfühlt, weiß sie dennoch, dass sie sich auf eins verlassen kann: die kleinen Dinge. Die kleinen Momente an Glück, würden ihr immer wieder begegnen, egal wo sie ist, und diese würden ihr bleiben, egal wie dunkel das Leben ihr auch manchmal scheint. Mit dieser Erkenntnis ließ sich das Leben doch bezwingen, denkt Nina und schließtberuhigt die Augen, um in einen traumlosen Schlaf zu gleiten.Gute Nacht.
 



 
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