Die Kleinfamilie

In jenen Jahren sah man das auffallende Paar häufig auf den Straßen von ***. Es waren, wie leicht zu erkennen, Mutter und Sohn, sie eine stattliche Frau jenseits der sechzig, er in seinen Zwanzigern, so schien es zunächst. Ich zögere nicht, den großgewachsenen jungen Mann schön zu nennen. Wir, die beiden und ich, wohnten in zwei benachbarten Stadtteilen, die ein Wäldchen trennte. Hohe, alte Buchen ließen es aus der Distanz viel größer erscheinen, als es tatsächlich war. Ging ich zu Fuß von meiner Wohnung ins Zentrum der kleinen Stadt, kam es vor, dass Mutter und Sohn plötzlich auf der Bühne erschienen und mir ins Blickfeld gerieten – sie waren gerade aus dem Wald gekommen und hatten den engen Durchlass unter der Eisenbahnbahnbrücke davor passiert. Jenseits von ihr bog die Straße scharf rechts ab. Auf diese Weise hatte für mich das Paar oft einen etwas theatralischen Auftritt und ebenso traten sie heimwärts wie auf eine Regieanweisung hin plötzlich ab.

Ob wir uns stadteinwärts oder –auswärts begegneten, ich überholte sie immer, da sie langsam einherschritten, und warf dabei ein, zwei Blicke auf sie. Alles an ihnen strahlte Würde, Anmut, gesittetes Wesen aus. Der junge Mann blickte dabei viel auf seine stets unbewegt erscheinende Mutter. Sie sprachen gewöhnlich nicht miteinander. Allerdings richtete sie in der Fußgängerzone schon mal das Wort an ihn, selten zwar und wenn, dann immer knapp, gebieterisch, mit leichter Schärfe. Er zuckte nun zusammen, wie eben einer, der sich zusammenzunehmen hat. Dies geschah immer dann, wenn er auch nur Miene machte, ein etwas lebhafteres, weniger folgsam gravitätisches Verhalten anzunehmen. Ich begriff allmählich, dass er geistig behindert war und auf der Stufe eines Sieben- oder Achtjährigen verharrte. Wie ein solcher gehorchte er sogleich und kehrte zu unauffälligem Betragen zurück. Sie hatte ihn vollkommen unter Kontrolle, und ich fand weiterhin, sie gäben ein harmonisches Bild ab, das außerdem zu Herzen ginge. Nie sah ich einen von beiden allein. Sie machte ihre Besorgungen, er begleitete sie stumm und trug einen Teil ihrer Einkäufe auf dem Heimweg.

Das ging so Jahre hin, dann war von heute auf morgen die Mutter nicht mehr zu sehen. Der Sohn hatte von nun an zum Begleiter und Führer einen alten Herrn, in dem ich seinen Vater vermuten durfte. Sie verkehrten anders miteinander, lockerer. Der Sohn schien neuerdings an viel längerem Zügel zu gehen und es zu genießen. Er war oft munter, fröhlich, wechselte unterwegs das eine oder andere Wort mit dem Alten. Wenn ich an ihnen vorüberging und sie fast wie beliebige Mitbürger wirkten, sah ich in dem Sohn keinen sehr jungen Mann mehr vor mir wie früher. Sowie seine Mimik sich belebte, bemerkte ich die Falten, das schon etwas Verlebte und der Zucht und Ordnung langsam Entwöhnte. Er war ein Mann von bald vierzig Jahren, sein Vater mochte Mitte bis Ende siebzig sein.

Es kam zu öffentlichen Szenen, die der Alte sichtlich fürchtete. Sein Sohn lief dabei hin und her, spektakelte ein wenig, gebärdete sich wie ein Pubertärer. Einmal spielte sich das in einem Schlachterimbiss ab. Ich stand an einem Verzehrtisch und wurde Zeuge, wie andere Gäste leicht angerempelt wurden, und hörte den Sohn lauter werden als dort üblich. An ihm war jetzt etwas Aufsässiges. Sein Vater machte dem rasch ein Ende, indem er seine Bestellung am Tresen abbrach, ihn am Arm packte und ihn wegzerrte und vor sich hertrieb: „Los, raus jetzt!“

Einige Wochen später gingen beide noch einmal vor mir heimwärts, und zwar auf der anderen Straßenseite, so dass ich sie eine Zeitlang schräg von hinten in ihrem Dahinziehen betrachten konnte. Sie trugen Einkaufstaschen und dem Alten fiel das Vorankommen erkennbar schwer. Er ging sehr langsam, blieb oft stehen und setzte seine Last ab, um neue Kräfte zu sammeln. Sein Sohn schritt viel rascher aus, gewann Abstand, hielt ebenfalls inne, sah sich nach dem Vater um, rief ihm etwas zu, lachte spöttisch und zuckte mit den Schultern. Hier geht etwas zu Ende, sagte das lebende Bild vor mir. Sie zottelten weiter, erreichten den Durchlass unter der Brücke, wandten sich nach rechts, den hohen, alten Buchen zu, und waren sogleich aus meinem Blickfeld verschwunden – für immer, wie ich heute weiß, ohne erfahren zu haben, welches ihr Weiterweg im Leben war. Vermisst habe ich sie noch lange Zeit.
 
Zuletzt bearbeitet:
Eine schöne Erzählung, Arno.

Die Sprache wirkt etwas antiquiert, was ich u.a. an diesen Sätzen ausmache:
Ich zögere nicht, den großgewachsenen jungen Mann schön zu nennen.
Wie ein solcher gehorchte er sogleich
Sowie seine Mimik sich belebte
spektakelte ein wenig, gebärdete sich
Von daher dachte ich, die Erzählung spiele in der "Vergangenheit", auf dem Dorfe, dann passte aber die Fußgängerzone nicht so recht ins Bild, das ich vor Augen hatte.

Auf jeden Fall gute Beobachtungsgabe des Erzählers. Hat mir gefallen.

Schönen Sonntag und
LG, Frankyln Francis
 
Danke, Franklyn Francis, für Lob und Kritik. Richtig, die Sprache ist hier und da ein wenig in einem älteren Stil. Das ist mir beim Niederschreiben selbst aufgefallen und ich habe es nicht ändern wollen. Es schien mir zum Stoff zu passen, gerade auch zum Ort, an dem diese Leute lebten. Ich nenne ihn hier aber besser nicht. Die Zeit? Ca. 15 - 25 Jahre zurückliegend. Eine Fußgängerzone fand man damals auch schon in mancher sehr kleinen Stadt.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

John Wein

Mitglied
Die Geschichte richtig zu verstehen gelingt nur nach mehrmaligem lesen. Ich habe das intensiv und lange getan, um den Kern, um den es geht, zu erfassen. Ich möchte aber nicht zu allem etwas anmerken, sondern nur an einer Passagen meine Anmerkung verdeutlichen:

Ging ich zu Fuß von meiner Wohnung ins Zentrum der kleinen Stadt, kam es vor, dass Mutter und Sohn plötzlich auf der Bühne erschienen und mir ins Blickfeld gerieten – sie waren gerade aus dem Wald gekommen und hatten den engen Durchlass unter der Eisenbahnbahnbrücke davor passiert. Jenseits von ihr bog die Straße scharf rechts ab
Auf meinem Weg ins Zentrum, kam es (mitunter) vor, dass Mutter und Sohn mir begegneten.

> du willst jetzt hier die Unmittelbarkeit verdeutlichen, ich hätte das in einem zweiten Satz untergebracht<

Sie waren aus der Dunkelheit des Wäldchens gekommen (oder getreten) und ganz plötzlich aus der Enge der Eisenbahnbrücke aufgetaucht (oder erschienen),

Jenseits von ihr (der Brücke?) bog die Straße scharf rechts ab. Dieser Nachsatz ist schwer zu verstehen. Ich denke die Straße knickt vor (jenseits) der Brücke scharf ab und du wolltest die Unmittelbarkeit damit erneut unterstreichen. Ich denke du kannst das weglassen, es verwirrt und klingt recht sperrig.

Ansonsten, LG; John
 
Danke, John, für deine Anmerkung. Ich gebe dir darin recht, dass die erwähnte Stelle etwas sperrig wirkt. Ich wollte hier ein Bühnenbild mit Kulissen schaffen und es der realen Situation dort nachbilden. Und diese ist in der Tat ausgesprochen sperrig, d.h. unübersichtlich und gefährlich. Die scharf abknickende Straße will ich nicht weglassen, sie gehört zu dieser Kulisse und spielt ja auch am Ende des Textes noch einmal eine Rolle.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
Oben Unten