Die Komplexität der Spontaneität

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„Mein Ziel für heute ist es, kein Ziel zu haben“, verkündete Marie bestimmt, die im Schneidersitz auf dem weichen Teppich gegen die Balkontür gelehnt saß und ihre Hände an einer Tasse Kaffee wärmte. Zuvor war sie wie jeden Morgen Laufen gewesen - obwohl es draußen schneite und für ihren Geschmack deutlich zu kalt war -, hatte eine kalte Dusche genommen und sich ein ausgiebiges Frühstück zubereitet, von dem ihr Gatte den Rest aufessen durfte.
„Wie kommst du auf diese Idee?“, fragte dieser irritiert, der bereits ihre neue Sitzposition merkwürdig fand. Sie stellte das Kaffeehäferl neben sich auf den Boden und strich sich mit der linken Hand die Haare aus dem Gesicht, dann antwortete sie: „Es ist ja schön und gut, einen festen Tagesablauf zu haben. Man bringt einfach viel mehr unter, wenn man nicht zwischendrin nachdenken muss, was als nächstes zu erledigen ist. Aber man lässt damit keine Zeit frei, um etwas spontan zu machen.“ Er hatte sich inzwischen auf die Couch gesetzt. Anstatt verbal zu antworten, nickte er nur, in der Hoffnung, dass sie ihre Gedanken weiter aussprechen würde. „Deswegen dachte ich, dass es mal an der Zeit ist, einfach einen Tag lang das zu machen, was mir in den Sinn kommt“, setzte sie fort. „Mit was willst du beginnen?“, fragte ihr Mann. Marie griff sich an die Stirn und antwortete unsicher: „Das ist das Problem. Es sind mir viel zu viele Sachen in den Kopf gekommen, die ich machen oder ausprobieren könnte; also wollte ich diese aufschreiben und dann entscheiden, welches am wichtigsten erscheint.“ Er blickte ihr kritisch in die Augen und kommentierte: „Das würde doch den Sinn der Sache verfehlen.“ „Warum ist spontan sein so kompliziert?“, jammerte sie verzweifelt und legte ihren Kopf in den Nacken. Von ihrer Überforderung belustigt, stand ihr Mann von der Couch auf, ging zu ihr, nahm sie an den Händen und zwang sie zum Aufstehen. „Komm, du kannst mir beim Kekse-Backen helfen“, forderte er sie auf und zerrte sie in die Küche.

Er nahm die Schüssel mit dem Mürbteig aus dem Kühlschrank, und rollte ihn auf der Arbeitsfläche der Kücheninsel aus. Marie suchte währenddessen die Keks-Ausstecher, doch wie jedes Jahr war sie erneut planlos, wo sich in der Küche die Backutensilien befanden. Zwar kochte sie beinahe genauso oft, wie ihr Mann, doch das Backen überließ sie ihm und machte nur in der Weihnachtszeit mit. „Schatz, die sind in der zweiten Lade von oben, einen Schrank weiter links“, half er weiter. „Wie soll mich das gemeinsame Backen bei meinem heutigen Plan weiterbringen?“, fragte sie, als sie endlich fündig wurde. „Ich dachte, du hast heute keinen Plan?“, neckte er sie. Wortlos blickte sie ihn zynisch an. Erneut ernst setzte ihr Mann fort: „Es bringt doch nichts, wenn du deine spontanen Ideen niederschreibst, und danach aussuchst, was am besten ausschaut. Du musst schon direkt die Idee umsetzen, sobald sie in deinem Kopf erscheint, dann gibst du deinem Gehirn die Chance, diese weiter auszubauen. Wenn du dich erst später für sie entscheidest, nachdem du bereits zig andere hattest, sind all‘ diese zusätzlichen Inspirationen weg.“ „Das klingt ziemlich logisch“, bemerkte Marie, während sie die ersten Kekse mit einer Herzform auszustechen begann. „Aber das beantwortet trotzdem meine Frage nicht.“ Ihr Mann berührte sie mit beiden Händen an den Schultern und erklärte: „Du hast alle deine Ideen, die dir im Wohnzimmer gekommen sind, schon beinahe niedergeschrieben. Als spontan kannst du die sicher nicht mehr bezeichnen. Daher hab‘ ich dich in die Küche geschleppt, damit dir hier neue Ideen kommen können, die du dann direkt umsetzen kannst.“ Er ging weiter zum Backofen und schaltete ihn zum Vorheizen auf 170 Grad ein.
Plötzlich kam ihr eine Idee. „Haben wir Lebensmittelfarbe daheim?“, fragte sie ihn aufgeregt. „Ich hab‘ keine gekauft. Ich tunke die Kekse nur in Schokolade“, antwortete er. Sie eilte aus der Küche, schnappte sich die Autoschlüssel und rief: „‘Bin gleich wieder da!“ Draußen konnte man den Motor aufheulen hören, als sie aus der Garage raste.

Nach einer halben Stunde wieder daheim angekommen, sperrte sie mit der rechten Hand die Haustür auf, während sie mit dem linken Unterarm die Fläschchen mit Lebensmittelfarbe vor dem Abstürzen bewahrte. Normalerweise hätte sie einen Korb mitgenommen, doch dafür hatte Marie heute zu übereilt das Haus verlassen und sie wollte nicht extra ein Sackerl für die wenigen Artikel kaufen.
„Das war doch schon deutlich spontaner“, sagte ihr Mann lächelnd, als sie zu ihm in die Küche ging. „‘Bin schon gespannt, ob deine Malkünste noch so gut wie früher sind. Übrigens, die ausgestochenen Teigstücke hab‘ ich derweil in den Kühlschrank gegeben“, sagte er und verschwand in sein Arbeitszimmer. Zu sehr auf das Ausprobieren ihrer bereits in Gedanken gezeichneten Motive fokussiert, wunderte sie sich nicht über sein Verschwinden, und begann die Farbe auf die Kekse aufzutragen. Nach einiger Zeit kam er mit seiner Gitarre und einem Notenständer, den er auf einem Stapel Noten balancierte, zurück. Überrascht beäugte sie ihn und äußerte lachend: „Die hast du doch seit Jahren nicht mehr benutzt! Hab‘ ich dich leicht mit meiner Idee angesteckt?“ „Nachdem du mal spontan sein wolltest, dachte ich mir, dass ich das auch mal wieder sein könnte“, begründete er, während er den Notenständer aufklappte und das erste Notenheft auflegte. „Als du weg warst, hab‘ ich sie gesucht. Tatsächlich sind in der Zeit noch keine Saiten gerissen und diese klingen noch gut genug, um spontan ein paar Weihnachtslieder zu begleiten.“
 



 
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