Sie wandert nach Einbruch der Dunkelheit durch Stadtwälder, Gärten und Parkanlagen. Man bekommt sie äußerst selten zu Gesicht, hört aber ihr anklagendes Meckern, das durch Mark und Bein geht. Es heißt, dass empfindliche Menschen, im Innersten getroffen, nach Hause laufen, sich aufs Bett werfen und mit dem Kopfpolster die Ohren zuhalten müssen. Im Gegensatz dazu stehen die Wahrnehmungen anlässlich der seltenen Sichtungen. Die Kummerziege meckert nicht so erbärmlich, weil sie den Anschluss an ihre Herde verloren hat, weil sie hungrig ist oder ihr jemand nach dem Leben trachtet. Nein! Sie übt die Arie der Königin der Nacht aus Mozarts "Zauberflöte", und zwar die, in der es um die Rache geht. Dabei steht sie mit den Vorderhufen auf einem Stein, einer Stufe oder einem Sockel, hat den Kopf zurückgeworfen, das Maul weit offen und die Oberlippe über die Zähne gepresst. Ihre gelben Augen leuchten in der Dunkelheit.
Wie die meisten Opernbesucher auch hat die Kummerziege keine Ahnung, worum es in der "Zauberflöte" oder in dieser Arie eigentlich geht, aber sie spürt, dass man sehr zornig sein muss, um sie richtig zu singen. Immer wieder hat sie die schönen Koloraturen aus dem offenen Fenster eines Vorgartens vernommen, so oft, dass nun diese vielen Töne wieder heraus müssen, um nicht ihren Brustkorb zu sprengen. Ein ungerechter Schöpfer hat ihr die hohen Oktaven verwehrt, aber sie sagt sich, dass beständiges Üben diese Benachteiligung ausgleichen werde.
Um in die rechte Stimmung zu kommen, denkt sie an ihre Familie, vor allem an die Töchter. Es sind lauter prächtige Mädels, die vielleicht ein bisschen neugierig und vorwitzig sind, aber alles in allem gut gelungen. Auch an den Söhnen ist nichts zu beanstanden. Rauflustige hornstarke Kämpfer sind sie, mit vielen Verehrerinnen. Bliebe der umtriebige Tristan. Einmal hier, einmal dort, immer mit einer anderen, der alte Bock. Die Kummerziege atmet durch, das Bild des Treulosen vor Augen, und erhebt ihre Stimme. Aber was da aus ihrem Maul kommt, tönt nach Unzufriedenheit und Vorwurf, von kochender Rache keine Spur. Sicher liegt es daran, dass sie selbst hin und wieder dem Charme eines jungen Draufgängers erlegen ist. Genau genommen, oft hin und wieder.
Über wen also könnte sie ihren musikalischen Zorn ergießen? Bestürzt muss sie feststellen, dass kein Mitglied der Sippe ihre Rache verdient, und was die übrigen Gefährten anlangt, so muss man froh sein, dass man sie hat. Wird ihr also das dreigestrichene f für immer verwehrt bleiben? Das wäre sehr ärgerlich. Oder eher traurig? Wann ist das Traurige ärgerlich und umgekehrt, das Ärgerliche traurig? Ist es besser, rachsüchtige Koloraturen singen zu können, oder besser, eine passable Familie zu haben und sich mit einfachen Liedern zu begnügen?
Die Kummerziege steigt von ihrem Sockel und trottet gedankenverloren durch die Nacht. Wie soll man das entscheiden können, denkt sie. Wenn man die Arie nie gehört hat, ist es leicht. Aber wenn sie einem nicht mehr aus dem Kopf geht? Was soll die beste Familie, wenn die künstlerische Entwicklung auf der Strecke bleibt? Man ist ja nicht nur Tier, man hat Ambitionen! Jedes Jahr zwei neue Würmchen, die einem zwischen den Beinen herumlaufen, in den Bauch stoßen und auf die Bäume klettern wollen. Das kann nicht alles sein. Vor allem, wenn man eine schöne Stimme hat.
Immer kommt in solchen Nächten auch der Zweifel, ob sie wohl eine Königin der Nacht sein kann, eine furiose Sängerin, die so schöne spitze Schreie ausstößt, dass sie fremde Brustkörbe zum Erzittern bringt. - Und jedes Mal lautet die Antwort: doch! Nur nicht aufgeben, nur nicht nachlassen, nur nicht dreinfinden. Dann steigt die Kummerziege mit den Vorderhufen wieder auf einen Stein, eine Stufe oder einen Sockel, wirft den Kopf zurück und öffnet ihr Maul.
Wie die meisten Opernbesucher auch hat die Kummerziege keine Ahnung, worum es in der "Zauberflöte" oder in dieser Arie eigentlich geht, aber sie spürt, dass man sehr zornig sein muss, um sie richtig zu singen. Immer wieder hat sie die schönen Koloraturen aus dem offenen Fenster eines Vorgartens vernommen, so oft, dass nun diese vielen Töne wieder heraus müssen, um nicht ihren Brustkorb zu sprengen. Ein ungerechter Schöpfer hat ihr die hohen Oktaven verwehrt, aber sie sagt sich, dass beständiges Üben diese Benachteiligung ausgleichen werde.
Um in die rechte Stimmung zu kommen, denkt sie an ihre Familie, vor allem an die Töchter. Es sind lauter prächtige Mädels, die vielleicht ein bisschen neugierig und vorwitzig sind, aber alles in allem gut gelungen. Auch an den Söhnen ist nichts zu beanstanden. Rauflustige hornstarke Kämpfer sind sie, mit vielen Verehrerinnen. Bliebe der umtriebige Tristan. Einmal hier, einmal dort, immer mit einer anderen, der alte Bock. Die Kummerziege atmet durch, das Bild des Treulosen vor Augen, und erhebt ihre Stimme. Aber was da aus ihrem Maul kommt, tönt nach Unzufriedenheit und Vorwurf, von kochender Rache keine Spur. Sicher liegt es daran, dass sie selbst hin und wieder dem Charme eines jungen Draufgängers erlegen ist. Genau genommen, oft hin und wieder.
Über wen also könnte sie ihren musikalischen Zorn ergießen? Bestürzt muss sie feststellen, dass kein Mitglied der Sippe ihre Rache verdient, und was die übrigen Gefährten anlangt, so muss man froh sein, dass man sie hat. Wird ihr also das dreigestrichene f für immer verwehrt bleiben? Das wäre sehr ärgerlich. Oder eher traurig? Wann ist das Traurige ärgerlich und umgekehrt, das Ärgerliche traurig? Ist es besser, rachsüchtige Koloraturen singen zu können, oder besser, eine passable Familie zu haben und sich mit einfachen Liedern zu begnügen?
Die Kummerziege steigt von ihrem Sockel und trottet gedankenverloren durch die Nacht. Wie soll man das entscheiden können, denkt sie. Wenn man die Arie nie gehört hat, ist es leicht. Aber wenn sie einem nicht mehr aus dem Kopf geht? Was soll die beste Familie, wenn die künstlerische Entwicklung auf der Strecke bleibt? Man ist ja nicht nur Tier, man hat Ambitionen! Jedes Jahr zwei neue Würmchen, die einem zwischen den Beinen herumlaufen, in den Bauch stoßen und auf die Bäume klettern wollen. Das kann nicht alles sein. Vor allem, wenn man eine schöne Stimme hat.
Immer kommt in solchen Nächten auch der Zweifel, ob sie wohl eine Königin der Nacht sein kann, eine furiose Sängerin, die so schöne spitze Schreie ausstößt, dass sie fremde Brustkörbe zum Erzittern bringt. - Und jedes Mal lautet die Antwort: doch! Nur nicht aufgeben, nur nicht nachlassen, nur nicht dreinfinden. Dann steigt die Kummerziege mit den Vorderhufen wieder auf einen Stein, eine Stufe oder einen Sockel, wirft den Kopf zurück und öffnet ihr Maul.
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