Die langfristigen Auswirkungen der Halbstarkenmusik

2,50 Stern(e) 2 Bewertungen
Thomas zuckte zusammen. Er hatte die Eingangstür so heftig zugeworfen, dass sich alle Leute im Café nach ihm umdrehten. Er grüßte hastig nach allen Seiten mit einer Gestik, die eine Entschuldigung ausdrücken sollte.
„Hallo Bernd.“
„Hallo. Du hast es aber eilig, mein Lieber.“
Bernd versuchte, etwas Ruhe in die Atmosphäre hineinzubringen. Bernd war immer gefasst und besonnen. Nicht umsonst nannte man ihn den coolen Bernd.
Die Kellnerin kam herbei. Thomas bestellt Brennnessel Tee mit Kandiszucker. Er schaut sich unruhig um, bis die junge Frau das Getränk abgestellt und sich entfernt hatte. Bernd schwieg.

„In Mexiko ist wieder der Popocatepetl ausgebrochen.“
Bernd hob eine Augenbraue. Das hatte er unendliche Mal vor dem Spiegel geübt. Bernd hatte eine ganze Menge von Mimik aus dem Genre des „film noir“ der 50er Jahre drauf. Jetzt hielt er die Augenbraue für angemessen.
Thomas nippte am Tee. Dann legte er nach.
„Dieser Vulkan ist schon so oft ausgebrochen, das glaubst du nicht. Ich habe im Internet nachgesehen. Beim Popocatepetl handelt es sich um einen Zwillingsvulkan. Davon gibt es nur ganz wenige auf der Welt.“
Er schaute seinen Freund erwartungsvoll an. Dieser zeigte keine Reaktion.
„Vulkane interessieren dich nicht sosehr, oder?“
„Also, ich höre dir gern zu. Und ich unterhalte mich unwahrscheinlich gern mit dir hier im Café. Das ist mein Lieblingsplatz. Ich fühle mich nirgends so wohl wie hier. Der Kaffee ist klasse, die Leute sind nett …“ Bernd machte eine kurze Pause.
„Aber mit den Vulkanen habe ich es nicht so sehr. Worauf willst du eigentlich hinaus?“

Thomas schaute sich rechts und links über die Schulter um. Dabei hätte er sich den Blick über die linke Schulter sparen können. Sie saßen nämlich an der Wand, die ihre linke Seite abdeckte.
„Schau dir das einmal an.“
Thomas wickelte vorsichtig einen etwa zwanzig Zentimeter großen Gegenstand aus einem blütenweißen Taschentuch.
„Das sieht aus wie ein handliches Zepter“, bemerkte Bernd sachkundig. „Es ist allerdings etwas kurz geraten. Die Zepter der Könige in den Filmen sehen immer recht lang aus. Was ist das für ein Ding?“
„Das ist ein Dorje.“ Thomas beugte sich bei diesen Worten näher zu seinem Freund. Er hatte die Stimme wesentlich gesenkt.
Bernd wollte das Gerät in die Hand nehmen. Doch Thomas legte rasch das Taschentuch über den Stab. Bernd lugte unter dem Tuch durch und sah sich den Stab genauer an, soweit dies möglich war.
„Erzähle deine Story. Los, mach schon.“
Thomas nahm den eingewickelten Gegenstand wieder näher zu sich. Er legte beide Arme darüber und fuhr fort.

„Vulkane. Im Netz steht, dass die Griechen natürlich auch Vulkane kannten. Und ihr Vulkangott hieß Hephaistos.“
Thomas machte eine Pause. Bernd schaute ihm geradeaus in die Augen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Also versuchte er, irgendwie wissend dreinzuschauen. Gott sei Dank nahm Thomas den Erzählfaden wieder auf.
„Hephaistos hatte in der Sage eine Menge Gegenstände geschaffen“, fuhr Thomas fort.
„Er war so seine Art Schmied, weiß du?“
„So wie bei uns der Wieland, stimmt`s?“
„Genau.“ Thomas dehnte das „au“ im Wort „genau“ überlang aus. Er wusste, dass er eine Story im Köcher hatte wie kein zweiter in diesem Café.
„Unter den vielen Gegenständen, die Hephaistos herstellte, befand sich auch ein Zepter.“
Thomas wies mit dem rechten Zeigefinger in die Luft. .
„Das Zepter als Königs-Insignie kommt historisch über viele Jahrtausende wahrscheinlich - ich sage wahrscheinlich - aus Tibet.“
Thomas schaute kurz zu seinem Freund hinüber. Aber von Bernd war in diesem Stadium des Gespräches eher weniger Input zu erwarten, das hatte Thomas schon spitz gekriegt.
„Und dieser Dorje ist die Urform des Königszepters.“ Jetzt war es heraus. Thomas ließ hörbar die Luft aus seinem Brustkasten ausströmen.

Bernd wirkte nun etwas blass. Er verzog die Mundwinkel in grotesker Form wie ein Mensch, der etwas zu Saures gegessen hatte.
„Was kostet das Teil denn?“, wollte Bernd wissen.
„Zwanzig Mmchen im Online Shop“, antwortete Thomas wie aus der Pistole geschossen.
„Euro. Wir sind in Euro.“
Thomas ging nicht auf diese Bemerkung ein.
„Mit dem Dorje kann man zaubern, jedenfalls sollen die alten Tibeter damit gezaubert haben.“
Thomas nickte wissend vor sich hin.
„Und – hast du auch etwas gezaubert?“
„Bisher klappte es leider nicht. Ich hatte mit Geld gewünscht. Ich dachte, wenn ich den Dorje drehe, so wie die Leute es auf Youtube tun, weißt du so geschüttelt um das Handgelenk, dann erfüllt er mir meine Wünsche. Aber bisher ist kein Geld angekommen.“
Thomas war fertig mit seinem Sermon.
Bernd faltete die Hände vor seinem Kinn und legte sein Gesicht hinein.

„Kennst du den Schlager vom Popocatepetl Twist?“, fragte er.
„Klar kenne ich den. Das war in den 60er Jahren - Peter Alexander oder diese Richtung. Stimmt`s?“
„Genau.“ Bernd blickte seinen Gesprächspartner nun sehr entschlossen an.
„Und weißt du, was ich glaube. Die Geschichte mit dem Vulkan und dem Zauberstab aus dem Himalaya, das sind die Auswirkungen der damaligen Musikschwingungen. Die Welt ist Klang, und alles hallt über Jahrzehnte fort. Und die Schwingungen von dieser Halbstarkenmusik, die haben jetzt Mexiko erreicht, und deshalb ist der Vulkan ausgebrochen. Und die Schwingungen sind weitergewandert nach Tibet. Und deshalb funktioniert auch dein Zauberstab nicht.“
„Meinst du wirklich“, fragt Thomas mit ängstlichem Gesicht. Er riss die Augen unnatürlich weit auf. Ein Schweißtropfen rannte von seiner rechten Stirnseite in die Augenbraue und verfing sich dort.

Thomas guckt seinen Freund einige Augenblicke verdutzt an. Dann lacht er schallend los. Beide lachten sich krumm. Die anderen Besucher im Café schauen herüber und müssen dann mitlachen. Aber nur Thomas und Bernd, nur sie kannten das Geheimnis des Popocatepetl Twist.
 



 
Oben Unten