"Es reicht mir jetzt langsam mit dir. Du kannst dich doch nicht so gehen lassen!" Wütend rüttelte Birgit an der Schulter ihres schlafenden Mannes, der in einer Lache aus Erbrochenem auf dem Sofa lag.
"Was... was ist denn? Wie spät ist es?" stammelte dieser orientierungslos.
"Wie viel hast du gestern getrunken?", fragte Birgit ihn mit schneidender Stimme, ohne auf seine Frage einzugehen.
Robert kniff die Augen zusammen und strich sich die Haare aus dem Gesicht. "Nicht viel", gab er nach einigen Sekunden schwerfällig zurück. "Kann ich jetzt erstmal wach werden?"
Birgit schüttelte entnervt den Kopf und entfernte sich Richtung Badezimmer.
Das Schockierendste an Roberts Zerfall war die Tatsache, wie schnell es gegangen war. Noch vor drei Monaten hatte er ein, so nahm sie zumindest an, einigermaßen zufriedenes Leben mit geregeltem Tagesablauf geführt. Er hatte ja auch keinen Grund, sich zu beschweren; Ihre Ehe war nach jedem möglichen Maßstab mindestens durchschnittlich erfüllend. Die Beziehung zu den beiden Töchtern war immer eng und unkompliziert gewesen. Kummer hatten sie ihnen nur selten bereitet. Er war Professor für Soziologie an der Universität Tübingen, ein Beruf, der ihn bis vor Kurzem mehr als erfüllt hatte.
Jede Menge junge Studentinnen, die an seinen Lippen kleben. Mindestens mal im metaphorischen Sinn. Und ich? Ich sollte hier die Depression haben, dachte sich Birgit.
Dann, vor wenigen Monaten, hatte er plötzlich Probleme damit bekommen, morgens aufzustehen. Tagsüber wirkte er kraftloser als sonst und war schneller gereizt. Als Birgit ihn darauf ansprach, reagierte er ungeduldig.
"Man muss doch nicht immer auf Schönwetter machen, oder? Manche Tage sind halt scheiße. Kannst du dir vorstellen, wie viel Stress ich in meinem Beruf habe?"
Das konnte Birgit sich gut vorstellen. "Vermutlich nicht besonders viel", hätte sie getippt. Ihr Mann war noch nie ein Held der Arbeit gewesen. Aber in letzter Zeit überforderte ihn einfach alles. Er half ihr nicht mehr im Haus, versäumte sämtliche Termine. Seit Monaten hatte er jetzt den Zahnarztbesuch schon aufgeschoben. In das Gemenge aus Speichel und Zahnpasta, das er, ohne es wegzuwaschen, in die Spüle spuckte, mischte sich in letzter Zeit immer häufiger Blut.
Schließlich stellte sie ihn zur Rede. Er sollte ihr erklären, was das alles zu bedeuten habe. Mühsam begab er sich in eine aufrechte Position und schaute sie mit müden Augen an.
"Du glaubst wohl, es wäre falsch von mir, so zu leben. Aber wie begründest du das? Es macht doch überhaupt keinen Unterschied. Wenn ich als respektierter Professor in den Ruhestand gehe, der zwei glückliche Kinder hat und im besten Fall nicht geschieden ist, dann wird mein Leben von der Gesellschaft als gelungen bezeichnet. Wenn eine Ameise ein Leben lang für ihre Königin schuftet und dann abkratzt ist ihr Leben in den Augen der Natur ebenfalls gelungen. Ist doch alles Blödsinn. Das Universum ist 13 Milliarden Jahre alt. Wie ich meine 80 Jahre auf der Erde verbringe ist doch Jacke wie Hose. Apropos, wo ist eigentlich meine Hose?", endete er, während er sich mühselig vom Sofa erhob. An der Spitze des Abdruckes, den sein Penis unter den Boxershorts bildete, war ein nasser Fleck zu erkennen.
Ich geb's auf , dachte Birgit und verließ das Wohnzimmer.
Einige Tage später erwachte sie vom Stöhnen ihres Mannes, der neben ihr im Bett lag. Hektisch drehte sie sich zu ihm um.
"Ich glaube, du musst mich ins Krankenhaus fahren. Irgendwas in meinem Mund tut höllisch weh", jammerte Robert.
Sie warf einen Blick auf die leuchtende Digitalanzeige des Weckers. Es war 3:52 Uhr.
"Alles klar, die Notaufnahme wird ja geöffnet sein".
Sie zog sich zügig an, während sie versuchte, sich an den Traum zu erinnern, aus dem sie so abrupt gerissen worden war.
Der noch junge Arzt schüttelte fassungslos den Kopf, nachdem er mit einem Spiegel das Innere von Roberts Mund begutachtet hatte.
"Ich verstehe nicht, wie sie das so lange aushalten konnten. Das ist die schlimmste Zahnfleischentzündung, die ich je gesehen habe"
"Ich hab dir doch gesagt, dass du das ansehen lassen musst", ging Birgit ihren Mann an. "Ist das gefährlich?" wandte sie sich dann an den Arzt.
"Allerdings", antwortete er. "Die Bakterien können von der Mundhöhle ins Blut gelangen. Unter Umständen kann sowas sogar zu einem Herzinfarkt führen. Unabhängig davon, ist so eine Entzündung für den Körper eine riesige Belastung. Ihm fehlt dann die Kraft für alles andere. Viele fühlen sich dann ausgelaugt oder entwickeln sogar eine Depression. Damit hätten sie wirklich früher kommen sollen. Ich verschreibe ihnen jetzt ein Antibiotikum. Wenn sich die Entzündung innerhalb einer Woche nicht zurückgebildet hat, machen sie bitte einen Termin bei ihrem Hausarzt aus"
Auf der Heimfahrt über die nächtliche Landstraße sprachen die beiden nur wenig. Birgit saß am Steuer und trommelte mit den Fingern über das Lenkrad. Sie blickte zu ihrem Mann und lächelte. "Gleich morgen früh nimmst du dieses Medikament. Und in Zukunft hörst du auf mich, ok?"
Dieser war schon halb eingeschlafen und antwortete leise nuschelnd "Meinetwegen. Ist ja auch schon egal"
Zwei Wochen später hatte Robert seine Lebenskrise überwunden.
"Was... was ist denn? Wie spät ist es?" stammelte dieser orientierungslos.
"Wie viel hast du gestern getrunken?", fragte Birgit ihn mit schneidender Stimme, ohne auf seine Frage einzugehen.
Robert kniff die Augen zusammen und strich sich die Haare aus dem Gesicht. "Nicht viel", gab er nach einigen Sekunden schwerfällig zurück. "Kann ich jetzt erstmal wach werden?"
Birgit schüttelte entnervt den Kopf und entfernte sich Richtung Badezimmer.
Das Schockierendste an Roberts Zerfall war die Tatsache, wie schnell es gegangen war. Noch vor drei Monaten hatte er ein, so nahm sie zumindest an, einigermaßen zufriedenes Leben mit geregeltem Tagesablauf geführt. Er hatte ja auch keinen Grund, sich zu beschweren; Ihre Ehe war nach jedem möglichen Maßstab mindestens durchschnittlich erfüllend. Die Beziehung zu den beiden Töchtern war immer eng und unkompliziert gewesen. Kummer hatten sie ihnen nur selten bereitet. Er war Professor für Soziologie an der Universität Tübingen, ein Beruf, der ihn bis vor Kurzem mehr als erfüllt hatte.
Jede Menge junge Studentinnen, die an seinen Lippen kleben. Mindestens mal im metaphorischen Sinn. Und ich? Ich sollte hier die Depression haben, dachte sich Birgit.
Dann, vor wenigen Monaten, hatte er plötzlich Probleme damit bekommen, morgens aufzustehen. Tagsüber wirkte er kraftloser als sonst und war schneller gereizt. Als Birgit ihn darauf ansprach, reagierte er ungeduldig.
"Man muss doch nicht immer auf Schönwetter machen, oder? Manche Tage sind halt scheiße. Kannst du dir vorstellen, wie viel Stress ich in meinem Beruf habe?"
Das konnte Birgit sich gut vorstellen. "Vermutlich nicht besonders viel", hätte sie getippt. Ihr Mann war noch nie ein Held der Arbeit gewesen. Aber in letzter Zeit überforderte ihn einfach alles. Er half ihr nicht mehr im Haus, versäumte sämtliche Termine. Seit Monaten hatte er jetzt den Zahnarztbesuch schon aufgeschoben. In das Gemenge aus Speichel und Zahnpasta, das er, ohne es wegzuwaschen, in die Spüle spuckte, mischte sich in letzter Zeit immer häufiger Blut.
Schließlich stellte sie ihn zur Rede. Er sollte ihr erklären, was das alles zu bedeuten habe. Mühsam begab er sich in eine aufrechte Position und schaute sie mit müden Augen an.
"Du glaubst wohl, es wäre falsch von mir, so zu leben. Aber wie begründest du das? Es macht doch überhaupt keinen Unterschied. Wenn ich als respektierter Professor in den Ruhestand gehe, der zwei glückliche Kinder hat und im besten Fall nicht geschieden ist, dann wird mein Leben von der Gesellschaft als gelungen bezeichnet. Wenn eine Ameise ein Leben lang für ihre Königin schuftet und dann abkratzt ist ihr Leben in den Augen der Natur ebenfalls gelungen. Ist doch alles Blödsinn. Das Universum ist 13 Milliarden Jahre alt. Wie ich meine 80 Jahre auf der Erde verbringe ist doch Jacke wie Hose. Apropos, wo ist eigentlich meine Hose?", endete er, während er sich mühselig vom Sofa erhob. An der Spitze des Abdruckes, den sein Penis unter den Boxershorts bildete, war ein nasser Fleck zu erkennen.
Ich geb's auf , dachte Birgit und verließ das Wohnzimmer.
Einige Tage später erwachte sie vom Stöhnen ihres Mannes, der neben ihr im Bett lag. Hektisch drehte sie sich zu ihm um.
"Ich glaube, du musst mich ins Krankenhaus fahren. Irgendwas in meinem Mund tut höllisch weh", jammerte Robert.
Sie warf einen Blick auf die leuchtende Digitalanzeige des Weckers. Es war 3:52 Uhr.
"Alles klar, die Notaufnahme wird ja geöffnet sein".
Sie zog sich zügig an, während sie versuchte, sich an den Traum zu erinnern, aus dem sie so abrupt gerissen worden war.
Der noch junge Arzt schüttelte fassungslos den Kopf, nachdem er mit einem Spiegel das Innere von Roberts Mund begutachtet hatte.
"Ich verstehe nicht, wie sie das so lange aushalten konnten. Das ist die schlimmste Zahnfleischentzündung, die ich je gesehen habe"
"Ich hab dir doch gesagt, dass du das ansehen lassen musst", ging Birgit ihren Mann an. "Ist das gefährlich?" wandte sie sich dann an den Arzt.
"Allerdings", antwortete er. "Die Bakterien können von der Mundhöhle ins Blut gelangen. Unter Umständen kann sowas sogar zu einem Herzinfarkt führen. Unabhängig davon, ist so eine Entzündung für den Körper eine riesige Belastung. Ihm fehlt dann die Kraft für alles andere. Viele fühlen sich dann ausgelaugt oder entwickeln sogar eine Depression. Damit hätten sie wirklich früher kommen sollen. Ich verschreibe ihnen jetzt ein Antibiotikum. Wenn sich die Entzündung innerhalb einer Woche nicht zurückgebildet hat, machen sie bitte einen Termin bei ihrem Hausarzt aus"
Auf der Heimfahrt über die nächtliche Landstraße sprachen die beiden nur wenig. Birgit saß am Steuer und trommelte mit den Fingern über das Lenkrad. Sie blickte zu ihrem Mann und lächelte. "Gleich morgen früh nimmst du dieses Medikament. Und in Zukunft hörst du auf mich, ok?"
Dieser war schon halb eingeschlafen und antwortete leise nuschelnd "Meinetwegen. Ist ja auch schon egal"
Zwei Wochen später hatte Robert seine Lebenskrise überwunden.
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