Die Legende des Jimmy Knopf: 2. Das Teehaus

Freakingcat

Mitglied
2. Kapitel

Gerade einmal 23 Jahre alt, blassgesichtig, schlankwüchsig und schlaksig; Dreadlocks hängen ihm ins Gesicht; eine Augenbraue ist von mehreren Piercings durchstochen; ein Fleshtunnel in einem Ohr; Arme, Hände und Hals von Tätowierungen bedeckt, unter seinem rechten Auge weint eine gestochene Träne. Damien heißt der Junge, den es von London nach Indien verschlagen hatte, ein zerschmetterter Engel von einst unsagbarer Schönheit, dessen Leid dunkle Ringe unter seine Augen gebrannt hatte, seine Hände wie die eines Greises erzittern ließ und die Traurigkeit einer zerfallenen Welt über seine Augen legte.

Er sitzt an einem Tisch, vor ihm ein Teller Idli und Vadai, mit pikanter Sambar Sauce übergossen. Mit seiner rechten Hand tunkt einen der runden indischen Reiskuchen in Kokosnuss-Chutney ein, beißt ein Stück davon ab und lässt den wundersamen, exotischen Geschmack auf seiner Zunge zergehen.

Ein ungewöhnlicher Anblick, aber nichts, dass die Punjabi Dhaba, ein kleines Restaurant mit einem Teehaus vorn angebaut, welches wie ein rot-weiss gestreiftes Zirkuszelt aussieht und direkt neben dem vielbefahrenen Puducherry - Thindivanam National Highway 32 liegt, in seinen vielen Jahren in denen es hungrige Reisende, Schüler und Studenten der nahen Koot-Road und selbst Bessergestellte aus dem Umland mit üppigen Portionen von scharfem Biryani mit Huhn oder Ziege, ofenheißen Naan Broten und anderen nordindischen Gerichten verköstigt, noch nicht gesehen hätte.

Gestern Abend, als der Himmel seine Schleusen geöffnet und heftiger Monsunregen die sonst so belebten Strassen von Menschen leergewaschen hatte, kam Damien nach einer elendslangen Fahrt aus Kerala kommend am Busterminal von Pondicherry an.
Dort hatte er in den letzten Wochen die berühmten Backwaters erkundet und sogar einige Tage im Ashram vom Mata Amritanandamayi verbracht, einer indischen Heiligen, die von allen „Amma“, Mutter, genannt wird und alle Menschen ohne Unterschied umarmt und liebkost, als ob sie kleine Kinder wären. Damien hatte viel über ihre wundersamen Kräfte gehört und gehofft, dass ihre göttliche Umarmung seiner gequälten Seele Trost spenden, seinen unbändigen Geist beruhigen und sein verschlossenes Herz öffnen würde, doch nichts dergleichen geschah. Als er nach stundenlangen, monotonen Bhajan Gesängen der Gläubigen, die in ihren Liedern ihrer Liebe und Hingabe zu Gott ekstatisch Ausdruck verliehen, gelangweilt und vollkommen frustriert, sich in einer stillen Ecke des Ashrams einen fetten Joint anzündete wurde er dabei von einem Bhakti gesehen und sofort an Sicherheitsleute verraten, was seinen sofortigen Rausschmiss zur Folge hatte. Damien hatte die Nase gestrichen voll von weiß-gekleideten Anhängern der Heiligen, die für ihn päpstlicher als der Papst erschienen, schnappte sich seinen Rucksack und sprang in den nächsten Bus Richtung Osten.

Das Gästehaus in dem er eine schlaflose Nacht voller Albträume und Angstzuständen verbracht hatte, vermietete ihm einen Motorroller. Nur weg von hier, dachte er sich und fuhr einfach los, schlängelte sich durch enge, heillos verstopften Strassen, vorbei an heruntergekommenen, ehemals stattlichen Villen und Herrschaftshäusern der französischen, holländischen und britischen Kolonialherren, rollte die Strandpromenade mit der überlebensgroßen Bronzestatue Gandhis entlang, bis er auf eine der breiten Ausfahrtsstrassen gelangte und die Stadt verließ. Als er auf dem National Highway einen KFC an sich vorüberziehen sah, spürte er wie hungrig er eigentlich war, schließlich hatte er außer einer Packung Masala Kartoffelchips im Bus seit 24 Stunden nichts gegessen, doch war er nicht nach Indien gekommen um seinen Hunger mit einem amerikanischen Fast Food Frühstück zu stillen. Als er kurz darauf auf der anderen Strassenseite das Zirkuszelt einer runtergekommenen Dhaba erblickte, zögerte er nicht lange und kehrte ein.

Wow, diese Augen! Schwärzer als die dunkelste Nacht, tiefer als das Meer, mit durchdringendem, samtenen Blick, voller Unschuld einer Welt, die ihm so fremd war, ließen Damien vergessen dass er einen Milchtee bestellt hatte, den der Dhaba Boy vor ihm auf den Tisch stellte. Bekleidet in einem zerrissenen, vor Dreck stehenden T-shirt, einer abgetragenen Trainingshose und ausgetretenen Sandalen erschien er Damien als indischer Prinz, der aus seinen sehnlichsten Träumen entstiegen war und ihm nun seiner Sinne beraubte.

Auch der Boy blickte ihn an, doch war es aus reiner Neugier, denn niemals zuvor hatte er einen Vellaikaran mit so vielen Tätowierungen und Piercings gesehen, und dabei war er trotz seiner jungen Jahre schon viel rumgekommen und hatte zu viel erlebt. Als er zwölf Jahre alt war tauchten in seinem Dorf, irgendwo in Bihar, Männer auf, die seinem Vater, der froh war einen Esser weniger durchfüttern zu müssen, ein wenig Geld zahlten und ihn nach Delhi mitnahmen, wo sie den Buben heftig verprügelten und ihn drei Tage lang ohne Essen in ein Zimmer in einem runtergekommenen Haus in einem Slum an der Stadtgrenze sperrten. Danach erklärten sie ihm, dass er von nun an Mitglied einer Bande sei, die aus einem Dutzend oder mehr Kindern bestand, die Tag für Tag in den Straßen Delhis Diebstähle, Betrügereien und andere Verbrechen begingen. Vier Jahre lang musste er sich fügen, bezog regelmäßig Prügel wenn er an manchen Tagen zu wenig stahl und wurde von Drogen abhängig gemacht, nur damit er nicht weglaufen konnte. Als er von der Polizei geschnappt, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und dort von unzähligen Männern vergewaltigt wurde, nutzte er die Gunst der Stunde am Tag seiner Entlassung und floh in den Süden Indiens, wo er jede Arbeit annahm die er finden konnte, nur um nicht zu verhungern, bis er eines Tages eine Anstellung in der Punjabi Dhaba fand, die ihm ein kärglichen Einkommen und einen Schlafplatz bot.

„You, Auroville?“, fragte der Boy.

Damien verstand nicht.
Der Boy schenkte ihm ein Lächeln und ging zurück in die Küche, um Geschirr abzuwaschen.
„Auroville?“ Damien war verwirrt. Was hatte sein indischer Prinz damit gemeint? Damien kramte sein Telefon hervor und befragte Google.
„Auroville möchte eine universelle Stadt sein, in der Männer und Frauen aller Länder in Frieden und fortschrittlicher Harmonie über alle Glaubensrichtungen, alle Politik und alle Nationalitäten hinweg leben können. Der Zweck von Auroville ist die Verwirklichung der menschlichen Einheit“, spuckte die Suchmaschine aus, untermalt mit dem Bild eines gigantischen goldenen Golfballs. Ein Blick auf die die Landkarte verriet ihm, dass sich dieser experimentelle und esoterische Ort nur wenige Kilometer entfernt befand. Damien hatte keine Vorstellung davon, was ihn dort erwarten würde, aber wusste ganz genau, dass er Auroville einen Besuch abstatten musste.

Ende Kapitel 2, Fortsetzung folgt...
 

Freakingcat

Mitglied
2. Versuch

Gerade einmal 23 Jahre alt, blassgesichtig und schlaksig; Dreadlocks hängen ihm ins Gesicht; eine Augenbraue ist von mehreren Piercings durchstochen; die Leere eines Fleshtunnels ziert ein Ohr; Arme, Hände und Hals von Tätowierungen bedeckt, unter seinem rechten Auge weint eine gestochene Träne. Damien heißt der Junge, den es von London nach Indien verschlagen hatte, ein zerschmetterter Engel von einst unsagbarer Schönheit, dessen Leid dunkle Ringe unter seine Augen gebrannt hatte, seine Hände wie die eines Greises erzittern ließ und die Traurigkeit einer zerfallenen Welt über seine Augen legte.

Gestern Abend, als der Himmel seine Schleusen geöffnet und heftiger Monsunregen die sonst so belebten Strassen von Menschen leergewaschen hatte, kam Damien nach einer elendslangen Fahrt aus Kerala kommend am Busterminal von Pondicherry an.
Dort hatte er in den letzten Wochen die berühmten Backwaters erkundet und sogar einige Tage im Ashram vom Mata Amritanandamayi verbracht, einer indischen Heiligen, die von allen „Amma“, Mutter, genannt wird und alle Menschen ohne Unterschied umarmt und liebkost, als ob sie kleine Kinder wären. Damien hatte viel über ihre wundersamen Kräfte gehört und gehofft, dass ihre göttliche Umarmung seiner gequälten Seele Trost spenden, seinen unbändigen Geist beruhigen und sein verschlossenes Herz öffnen würde, doch nichts dergleichen geschah. Als er nach stundenlangen, monotonen Bhajan Gesängen der Gläubigen, die in ihren Liedern ihrer Liebe und Hingabe zu Gott ekstatisch Ausdruck verliehen, gelangweilt und vollkommen frustriert, sich in einer stillen Ecke des Ashrams einen fetten Joint anzündete wurde er dabei von einem Bhakti gesehen und sofort an Sicherheitsleute verraten, was seinen sofortigen Rausschmiss zur Folge hatte. Damien hatte die Nase gestrichen voll von weiß-gekleideten Anhängern der Heiligen, die für ihn päpstlicher als der Papst erschienen, schnappte sich seinen Rucksack und sprang in den nächsten Bus Richtung Osten.

Das Gästehaus in dem er eine schlaflose Nacht voller Albträume und Angstzuständen verbracht hatte, vermietete ihm einen Motorroller. Nur weg von hier, dachte er sich und fuhr einfach los, schlängelte sich durch enge, heillos verstopften Strassen, vorbei an heruntergekommenen, ehemals stattlichen Villen und Herrschaftshäusern der französischen, holländischen und britischen Kolonialherren, rollte die Strandpromenade mit der überlebensgroßen Bronzestatue Gandhis entlang, bis er auf eine der breiten Ausfahrtsstrassen gelangte und die Stadt verließ. Als er auf dem National Highway einen KFC an sich vorüberziehen sah, spürte er wie hungrig er eigentlich war, schließlich hatte er außer einer Packung Masala Kartoffelchips im Bus seit 24 Stunden nichts gegessen, doch war er nicht nach Indien gekommen um seinen Hunger mit einem amerikanischen Fast Food Frühstück zu stillen. Als er kurz darauf auf der anderen Strassenseite das Zirkuszelt einer runtergekommenen Dhaba erblickte, zögerte er nicht lange und kehrte ein.

Eine Windhose aus Damien und Straßenkot aus rötlichem Sand weht und dreht sich, wirbelt und staubt durch die Speisehalle des Restaurants mit seinen elendslangen Tischen vor denen rote, weiße und ausgebleichte rosa Monoblocs herumlungern bereit auf ihnen die Ärsche der Gäste zu empfangen, die sich einer fast schon perversen Völlerei üppiger Portionen scharfen Biryanis mit Huhn oder Ziege, ofenheißen Naan Broten, Huhn 65, Palak Paneer, Tandoori und hunderter anderer Gerichte aus dem Schlaraffenland von Punjab, täglich zu Mittag und abends, bis spät in die Nacht, hingeben.

Am anderen Ende der mit Palmenblättern gedeckten Speisehalle und fern des Eingangs, neben dem sich die vor Dreck stehende offene Küche befindet, speit der sich verflüchtigende Wirbelwind Damien aus, der auf einen Stuhl plumpst, was der geschirrspühlende Dhaba-Boy missmutig „Verdammt, auf den letzten Platz muss der sich setzen!“ kommentiert, sich seine Hände an dem zerschlissenen verdreckten T-shirt abtrocknet, seine viel zu weite, löchrige Trainingshose hochzieht und bloßfüssig mit einer in Plastik laminierten schmuddelig-klebrigen Speisekarte zu dem Vellaikaran hinüberzottelt.

Dieser beäugt gerade einen Wasserkrug aus grellgrünem Plastik in dem er vermeint ein ihm zuzwinkerndes Bataillon eines Salmonellenheeres entdeckt zu haben, als vor ihm der junge Mann erscheint, ein exotischer Prinz von gerade mal 18 Jahren, mit Augen schwärzer als die dunkelste Nacht und tiefer sogar als das Meer, dessen durchdringender, samtener Blick ihn umfängt und sprachlos die gereichte Speisekarte aus seinen Händen empfangen lässt.

Ein klaffendes Loch im Ohr und von der Augenbraue baumelnde Silberringe und eine gestochene feuerspeiende Schlange die sich den Hals hinaufschlängelt, spindeldürre muskellose Arme über und über bedeckt mit gewaltverherrlichenden und skurrilen Bildnissen, nein, so etwas hatte er noch nie zuvor gesehen, und dass obwohl fast täglich weiße Männer in die Dhaba kommen.

Sie blicken einander lange an, der eine betört von unschuldiger Schönheit, der andere seltsam fasziniert von bizarrer Andersartigkeit, bis endlich ein Wort die Stille dieses unsäglichen Augenblicks durchbricht.
„Milktea?“
Wie aus wundersamem Opiattraum gerissen, schüttelt Damien sich, richtet seinen Blick auf die zusammengeklebten Seiten der schmuddligen Speisekarte, doch ist er unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, um sich etwas zu essen zu bestellen.
„Huh?“, haucht Damien, was ihm sofort peinlich ist und fügt mit tiefer, männlicher Stimme zu: „What do you have to eat?“
„Only idli and vadai with coconut chutney and sambar. Cooking chef not here“, antwortet der Boy.
Ohne zu wissen, was sein Prinz gerade vorgeschlagen hatte, bestätigt Damien nickend: „Okay, I have this with a milk tea.“
Der Bursche dreht sich um und entschwindet, Damien sieht ihm nach, mit seinem Blick gierig jedes Detail in sich aufsaugend, das rabenschwarze ins Gesicht hängende Haar, sein drahtiger Körper mit einem sexy kleinen Arsch, und dann ist er noch barfuß, männliche, schmutzige Füsse, an denen er sich aufgeilt.
Kurze Zeit später sitzt Damien verlegen vor einem Plastikteller, tunkt mit seiner rechten Hand einen der runden indischen Reiskuchen in eine Sauce, beißt ein Stück davon ab und lässt den wundersamen, exotischen, scharfen, viel zu scharfen! Geschmack auf seiner Zunge zergehen, währenddessen ihn der Dhaba-Boy dabei genauestens beobachtet.
„You like?“
„Very good!“, antwortet Damien, dem Schweißperlen wegen der Schärfe der Chillisauce ins Gesicht steigen und der versucht cool zu bleiben und sich nicht anmerken zu lassen, dass in seinem Schlund ein biblisches Höllenfeuer lodert, welches er mit einem Schluck viel zu heißen Milchtees zu löschen versucht.
„You Auroville?“, fragt der Boy neugierig und Damien versteht die Frage nicht.
„Auroville?“, dampft es aus Damiens verbrühtem Mund heraus.
Der Boy zuckt nur mit den Achseln, ohne einen Versuch einer Erklärung zu machen, dreht sich um und geht wieder in die Küche zurück, wo Berge von schmutzigem Geschirr auf ihn warten.
Damien ist verwirrt. Was hat sein indischer Prinz damit gemeint?
Er kramt sein Telefon hervor und befragt Google: „Auroville möchte eine universelle Stadt sein, in der Männer und Frauen aller Länder in Frieden und fortschrittlicher Harmonie über alle Glaubensrichtungen, alle Politik und alle Nationalitäten hinweg leben können. Der Zweck von Auroville ist die Verwirklichung der menschlichen Einheit“, spuckt die Suchmaschine aus und untermalt es mit dem Bild eines gigantischen goldenen Golfballs. Ein Blick auf die eingeblendete Google-Map verrät ihm, dass er sich nur ein paar Kilometer von diesem „Auroville“ entfernt befindet.
Keine Ahnung, was sich dort abspielt, aber ich muss da hin!
 



 
Oben Unten