Die Lesende

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Der Neue

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Erst nach mehreren hundert Metern kam ihm der Gedanke, es könnte dieselbe Frau gewesen sein. Als er sie auf einem Mauervorsprung über der Schleuse sitzen gesehen hatte, lesend, vor der gleißenden Mittagshitze durch den Schatten des steinernen Wehrs geschützt, die Füße über dem bräunlichen Wasser hängend, hatte er den Impuls unterdrücken müssen sie zu fotografieren.

Das Bild wäre Kunst gewesen, redete er sich ein, „die Lesende“ hätte er es genannt. Sie war unberührbar und ganz bei sich und ihrem Buch, ihr Vorhandensein auf diesen dunklen Steinen ein Statement, für alle sichtbar, aber radikal privat. Sie trotzte dem Mahnen der geebneten Wege und sauberen Sitzgelegenheiten, sich ihrer zu bedienen. Weder sein scheues Starren noch etwa die mahnende Stimme eines Schleusenwärters hätten sie je erreichen können.

Ein solcher hätte seinem Weltbild nach eigentlich erscheinen, auf ein rostiges Verbotsschild deuten und die Lesende vertreiben müssen. Bei diesem gedanklichen Exkurs war er wiederum ganz bei sich, dachte er grimmig. Das waren heute die Bahnen, in denen sein Denken verlief.

Er schaltete einen Gang hoch und trat nun langsamer, aber gleichmäßig kräftig in die Pedale.

Noch immer kämpfte er mit dem Verlangen umzukehren und das Versäumte nachzuholen. Aber wie armselig wäre das, wie voyeuristisch, ein Abbild eines Moments zu stehlen, der nicht der seine war. Um was damit zu tun?

Und da fiel ihm die andere junge Frau ein. Einige Tage zuvor, auf einer Brücke ganz in der Nähe, war sie unwissentlich barfuß in sein Blickfeld geschlendert. Sie hatte ein Top und einen langen Rock getragen, ihre Sandalen in der rechten Hand gehalten und einen Gesichtsausdruck zur Schau gestellt, den er als Ausdruck von postadoleszentem Weltschmerz und falsch verstandener, aber wirksamer Coolness gedeutet hatte. Er hatte das reizende Bild mehrere Kilometer seines Heimweges mit sich getragen, bis der Fahrtwind es allmählich verdünnt und schließlich davongeblasen hatte.

Mit Verschwörungstheoretikern und Gläubigen hatte er die Bereitschaft gemeinsam, Muster zu sehen. Und hier war eines. Es wurde dieselbe Frau, während er den alten Treidelweg entlangfuhr. Sie bedeutete etwas. Sie lebte ein Leben, für das er keine Worte hatte, nur eine vages Gefühl, gespeist aus Romanen, Erinnerungen, alten Sehnsüchten und dem duftigen Flirren des Sommers. Er fragte sich, ob nicht dieses Gefühl alleine schon Verrat an seiner Existenz war. Oder umgekehrt.

Sie las, sie trotzte, sie überquerte Brücken. Von dem rasch sich entfernenden Radler mit der Kamera hatte sie nicht die geringste Ahnung. Viele schauten an diesem Tag zu ihr hinüber, keinen nahm sie wahr, einer trug einen Entschluss davon.

Dieses Bild würde entstehen. Es brauchte keine Kamera dafür. Er würde Worte dafür finden. Es gab nichts nachzuholen, sondern nur aufzuholen. Das war möglich. Eines Tages, malte er sich aus, würden seine Texte verlegt werden und sie würde ein Exemplar seines Buches mit auf die Steine nehmen und ihre eigene Geschichte lesen. Sie würde sich vielleicht erkennen und lächeln.

Er schaltete noch einen Gang hoch und ließ sich vom Fahrtwind kühlen auf dem Weg nach vorne, nach Hause.

Zwei Tage später hatte er den ersten Satz:

„Erst nach mehreren hundert Metern kam ihm der Gedanke, es könnte dieselbe Frau gewesen sein.“
 
Zuletzt bearbeitet:

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Der Neue,

schön, dass du zu uns in die Leselupe gefunden hast. Wir freuen uns auf einen konstruktiven Austausch und weitere Texte von dir.
Herzlich willkommen!

Deine Kurzprosa habe ich sehr gerne gelesen. Ein Text, der davon handelt, wie er selbst entstanden ist. Man merkt an der Sprache, dass du auch Lyriker bist, das ist sehr bildhaft und poetisch.
Du könntest nur durch eine Überarbeitung einige Schönheitsfehler, wie Wortwiederholungen, entfernen.

Zum Beispiel:

Sie war unberührbar und ganz bei sich und ihrem Buch. Ihr Vorhandensein auf diesen dunklen Steinen war ein Statement, für alle sichtbar, aber radikal privat.
Das zweite "war" nach "Steinen" ist entbehrlich. Man kann die beiden Sätze auch verbinden:

Sie war unberührbar und ganz bei sich und ihrem Buch, ihr Vorhandensein auf diesen dunklen Steinen ein Statement, für alle sichtbar, aber radikal privat.

Auch das eine oder andere "hatte" ist eigentlich nicht nötig.
So gleich am Anfang:

Er musste den Impuls unterdrücken, sie zu fotografieren.

Liebe Grüße
Manfred
 

Der Neue

Mitglied
Hallo,

vielen Dank für das Feedback! Ich freue mich besonders über alle Tipps, die in Richtung weiterer Kürzung und Straffung gehen und die Sperrigkeit der vielen Plusquamperfekt-Formen etwas reduzieren.
Viele Grüße!
 

Kaetzchen

Mitglied
Hallo Der Neue
Deine Geschichte gefällt mir sehr gut. Du hast das Bild mit deinen Worten vor mir entstehen lassen, als hättest du mir ein Foto von ihr gezeigt. es hat mich berührt.
LG Kaetzchen
 



 
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