Die letzte Flucht

Seize

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Klaudia saß bei ihrer einzigen richtigen Freundin völlig verzweifelt auf der Wohnzimmercouch. Sie hielt eine Tasse Tee in ihren zittrigen Händen, während sie Anja ihr Leid klagte.
„Du warst doch schon so oft beim Arzt. Immer wenn er dich mal wieder so zugerichtet hat. Warum hat der nie etwas unternommen?“, fragte Anja.
„Ich war so dumm und habe Bernd auch noch gedeckt. Ich habe dem Doktor immer erzählt, dass ich selbst schuld war und die Treppe hinuntergefallen bin“, erklärte Klaudia. „Aber damit ist jetzt Schluss!“
„Weißt du dann schon, was du jetzt tun willst?“, fragte Anja und berührte sie sanft. Klaudias Blick ging einen Moment ins Leere. In Gedanken war sie kurz in einer schöneren Zukunft. Wie so häufig spielte ihre Hand mit dem Jesus-Kreuz um ihren Hals. Im Glauben fand sie immer Zuflucht und Halt.
„Ich hole die Kinder und werde mit ihnen gemeinsam ins Frauenhaus gehen. Weiter weiß ich noch nicht. Wichtig ist nur, dass wir so schnell wie möglich wegkommen und er uns nicht finden kann. Dieses Mal endgültig. Ich kann nicht mehr.“
Klaudia nahm die Hand vom Kreuz. Ihr trauriges Lächeln sollte Zuversicht ausstrahlen. Dann läutete es an der Tür. Klaudia zuckte erschrocken zusammen und schaute Anja mit aufgerissenen Augen an.
„Du rührst dich nicht und gibst keinen Mucks von dir. Ich regle das!“
Anja stand auf und verschwand im Flur. Klaudia konnte hören wie sie die Türe öffnete und seine Stimme durch die Wohnung drang. Anja redete immer lauter, bis sie anfing zu schreien. Als nächstes sah Klaudia den Kopf ihres Mannes im Türrahmen. Ihre Hand umschloss wieder das Kreuz.

„Klaudia, da bist du ja“, sagte er sanft. „Ich habe mir Sorgen gemacht und suche dich schon überall. Warum sagst du mir denn nicht, dass du bei Anja bist?“, Bernd ging vor ihr auf ein Knie und ergriff ihre freie Hand mit beiden Händen.
„Komm doch mit mir nach Hause, dann wird alles wieder gut. Du weißt doch, wie wichtig du für mich bist und ich nicht weiß wie ich ohne dich leben soll“.
Klaudia wollte etwas erwidern, aber Bernd redete einfach weiter: „Willst du, dass ich wieder in mein früheres Leben abstürze? Ohne dich würde ich das mit Sicherheit, denn du bist mein Anker. Du hast einen besseren Menschen aus mir gemacht und hältst mich im Gleichgewicht.“
„Nein, sie wird nicht mit dir mitkommen! Sie hat genug von dir. Verlass sofort meine Wohnung, oder ich ruf die Polizei!“, schrie Anja vom Flur her, aber er hörte ihr nicht zu, sondern hielt Klaudia fest im Blick.
„Wir müssen uns nur etwas mehr Mühe geben, dann können wir alles erreichen. Wir sind doch füreinander bestimmt. Das siehst du doch auch so?“
Klaudia fing an zu zittern. Sie blickte Bernd an, wie er vor ihr kniete, ihre Hand hielt, ihr in die Augen sah und lächelte. Es erinnerte sie daran, wie schön und harmonisch es war, als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte. Dann wanderte ihr Blick zu Anja, die sie fast hypnotisierend anstarrte und demonstrativ den Kopf schüttelte. Dann schaute sie wieder Bernd an und knickte ein.
„Ja, du hast recht“, antwortete sie kleinlaut. „Wir sind füreinander bestimmt.“
Klaudia stand auf und ließ sich von ihrem Mann aus der Wohnung führen. Den Blick hielt sie gesenkt, um Anja nicht in die Augen blicken zu müssen.

„Weißt du denn nicht mehr was du mir geschworen hast? Das du mich in guten wie in schlechten Zeiten ehren willst, bis dass der Tod uns scheidet“, erklärte Bernd zu Hause. Er packte sie mit festem Griff an den Handgelenken, bis sie vor Schmerzen stöhnte. Bernd fing an sie zu küssen. Je mehr Klaudia versuchte sich ihm zu entziehen desto begieriger wurde er. Er hielt sie noch grober fest und drängte sie ins Schlafzimmer, warf sie aufs Bett und riss ihr hektisch die Kleider vom Leib. Klaudia fing an zu weinen. Sie ekelte sich vor ihm und wollte sich wehren, aber sie wagte es nicht. Als sie beim letzten Mal verweigern wollte, wurde er so brutal, dass sie Tage später noch Blutergüsse und Schmerzen hatte. Also ließ sie es über sich ergehen. Sein Gesicht war eine wilde Grimasse der Lust und er keuchte wie ein Ochse. Ihre Hände hielt er fest, also konnte sie das Kreuz um ihren Hals nicht erreichen, aber sie spürte, dass es da war. Sie schloss die Augen und fing an tonlos das Ave Maria zu beten.
Danach lag sie noch lange wach. Sie fühlte sich schmutzig und benutzt und schwor sich noch am nächsten Morgen die Kinder einzupacken und zu fliehen. Sie würde sich nicht mehr zurückholen lassen. Er würde sich nicht nochmal an ihr vergehen oder ihr weitere Schmerzen zufügen.

Als Bernd am nächsten Morgen das Haus verließ und in die Arbeit fuhr, ergriff sie ihre Chance. Sie packte hastig das Nötigste und die beiden Kinder zusammen, öffnete die Haustür und trat ins Freie. Kaum war sie draußen, trat ihr Bernd in den Weg und schlug ihr mit wutentbrannter Miene ins Gesicht. Klaudia knickte zur Seite weg, fiel auf die Knie und konnte sich nur knapp mit den Händen abstützen. Bernd packte sie am Nacken und brachte sein Gesicht ganz nah an ihr Ohr als er ihr bedrohlich zuflüsterte: „Ich dachte, ich hätte mich gestern klar ausgedrückt. Ich lasse nicht zu, dass du mich verlässt und solltest du das noch einmal versuchen, dann bringe ich dich um!“
Klaudia erschrak. Noch nie hatte er sie so massiv, sogar mit Mord, bedroht. Sie kniete im Kies der Einfahrt, die Steine bohrten sich in ihre Kniescheiben, ihre Wange brannte und sie schämte sich vor ihren Kindern so gedemütigt worden zu sein. Panisch schaute sie auf, den nächsten Schlag erwartend. Doch stattdessen hellte sich Bernds Miene auf. Er nahm sie fast schon zärtlich am Arm und half ihr auf die Beine.
„Ich will das nicht tun, das musst du mir glauben. Aber wenn du dich immer wieder über meine Regeln hinwegsetzt und davonläufst, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dich zurückzuholen, notfalls auch mit Gewalt. Oder willst du, dass wir in der Hölle enden, weil wir keine gottgefällige Ehe geführt haben?“
Klaudias Hand wanderte wieder zu ihrem Hals und berührte das Kreuz. Den Blick hielt sie gesenkt und schüttelte kaum merklich den Kopf. Wieder ließ sie sich von ihm ins Haus führen. Dort angekommen drückte er ihr einen Kuss auf die Wange und meinte, dass sie ihnen ja etwas Leckeres kochen könnte, dann würden sie sich einen schönen Abend machen.

Klaudia saß in der leeren Badewanne, in ihren Händen hielt sie ein großes Messer. Ihre tränengeröteten Augen brannten. Immer wieder schrie sie ihre Verzweiflung wortlos durch das Haus, nur um danach wieder weinend zusammenzusacken. Sie hatte alles probiert. Sie hatte ihm gesagt, dass sie nicht mehr bei ihm bleiben kann und will. Nachdem er eine Trennung abgelehnt hatte, hatte sie ihm eine Therapie vorgeschlagen. Nur für ihn oder eine Paartherapie. Alles hatte er abgelehnt. Für ihn war immer nur sie die Schuldige. Sie hätte sich verändert. Sie würde nicht mehr auf ihn hören. Als es unerträglich wurde, war sie ins Frauenhaus geflohen. Aber er hatte sie geholt. Sie hatte sich bei Freundinnen versteckt, aber er hatte sie gefunden. Er würde alles dafür tun, sie bei sich zu behalten. Niemals würde er sie freigeben. Sie wusste, es gab nur eine Möglichkeit ihm zu entkommen, aber sie konnte diese Entscheidung nicht treffen. Es war ein Frevel an Gottes Schöpfung und sie hatte Angst, Gott würde sie nicht ins Paradies einlassen. Wieder sah sie durch tränenverschleierte Augen auf das Küchenmesser in ihren Händen. Es wäre gleich vorbei, nur ein kurzer Moment und sie wäre erlöst. Dann übermannte sie die nächste Welle der Verzweiflung und sie fing wieder hemmungslos an zu weinen.


Als Bernd am Abend nach Hause kam, lag sie immer noch in der Badewanne. Als er nach ihr rief stand sie auf, wischte sich die Augen und ging in die Küche wo er auf sie wartete.
„Du solltest doch für uns kochen!“, presste er wütend hervor. Sein Gesicht lief schon rot an.
„Wir wollten uns doch heute einen schönen Abend machen, damit wir auf andere Gedanken kommen! Muss ich dir wirklich einprügeln was es heißt, eine gute Ehefrau zu sein und seinem Mann zu dienen? Genau das ist es doch was Gott von den Frauen erwartet, dass sie ihrem Mann Untertan sind!“
Er schnellte nach vorne und holte mit der Hand aus, doch noch bevor er Klaudia erreichen konnte, rammte sie ihm das Küchenmesser in den Bauch. Abrupt kam Bernd zum Stehen und blickte sie erstaunt an, aber Klaudia entgegnete seinen Blick nicht, sondern stach ein zweites und drittes Mal zu. Auch als er schon am Boden lag rammte sie wie von Sinnen das Messer immer wieder in seinen Körper. Während die Tränen über ihre Wangen flossen, legte sie sich atemlos neben den toten Körper ihres Mannes und sein Blut tränkte ihre Kleidung und Haare. Sie weinte um ihre verlorene Seele und lachte vor Erleichterung, weil ihre Qual jetzt endlich vorbei war. Sie weinte um ihre Kinder, die jetzt keinen Vater mehr hatten und lachte, weil sie endlich frei war.
 



 
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