Die letzte Wette - Kapitel 1

Kapitel 1

Nervös spielte der Vorsitzende der Western und Somerset Bank mit einem vergoldeten Füllfederhalter. Er saß an einem massiven Eichenschreibtisch und wartete auf seinen Stellvertreter. Es gab eine lästige Pflicht zu erfüllen, eine Rüge zu erteilen. Es war die erste, die er diesem verdienten Mitarbeiter zukommen lassen musste und doch war sie notwendig. Als es klopfte schaute der ergraute Bankier auf.
»Herein.«
Ein kleiner Mann Mitte Vierzig mit geckenhaftem Einstecktuch, runder Nickelbrille und leicht füchsischem Einschlag betrat den Raum. Eine Wolke aufdringlichen Herrenparfüms folgte ihm.
»Sie wollten mich sprechen, Sir Arnold?«
Der Vorsitzende nickte.
»Das ist in der Tat der Fall, Mr. Hubbard.«
In der Regel war der Umgangston nicht so förmlich, war Hubbard doch schon Jahrzehnte mit der Familie Sir Arnolds verbunden gewesen. Als Sir Arnold als Quereinsteiger vor fünfundzwanzig Jahren in das Bankiersgeschäft eingestiegen war, war der junge Hubbard ein Schützling von seinem Vater, Sir Godley, gewesen. Und seit dem Tod des alten Herrn, der vor neun Jahren bei einem Luftangriff der Deutschen ums Leben gekommen war als eine Bombe in das Hauptgebäude des Finanzinstituts eingeschlagen und dort detoniert war, war er zu einer wichtigen Stütze von Sir Arnold geworden. Es gab wohl kaum einen Angestellten in der Bank, dem er mehr vertraute. Hubbard spürte die unangenehme Atmosphäre im Raum, sagte jedoch nichts dazu.
»Bitte setzen Sie sich«, wies der ältere Mann an.
Hubbard näherte sich also den eckigen Besuchersesseln mit der niedrigen Lehne und ließ sich in einem nieder. Seine Bewegungen waren etwas steif. Ein Andenken an den Krieg, hatte er sich während des Angriffs doch ebenfalls in der Bank befunden.
»Es geht um Ihre Transaktionen bezüglich dieser Stiftung zur Hilfe von Kriegsversehrten«, fuhr Sir Arnold fort und kam damit auch gleich direkt zur Sache. Eine Eigenheit, die er wohl noch aus seiner Zeit als Polizeibeamter hatte. »Ich weiß natürlich, dass die Western und Somerset Bank es sich nach dem Krieg zur Aufgabe gemacht hat, verschiedene karitative Organisationen mit ihren Gewinnen zu unterstützen, doch sind diese Ausgaben auf das Genaueste kalkuliert. Das, was Sie diesem Molony zukommen lassen haben, übersteigt dieses Limit bei Weitem.«
Hubbard schaute schuldbewusst durch seine dünnen Brillengläser.
»Sir Arnold, ich …«
Der Vorsitzende hob seine Hand und bedeutete Hubbard so zu schweigen. Ein versöhnliches Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit und auch sein Ton wurde wieder freundlicher.
»Ich weiß natürlich um Ihre Lage, Paul. Sie sind immerhin frisch verlobt und da sind die Gedanken gerne mal woanders. Deshalb gehe ich auch nur von einer simplen Fahrlässigkeit Ihrerseits aus. Sie haben eine Woche Zeit diese Transaktionen rückgängig zu machen. Geschieht dies nicht werde ich davon ausgehen, dass Sie die Stiftung aus Ihrem Privatvermögen unterstützen.«
Sir Arnold schob seinem Angestellten ein Schriftstück zu.
»Unterschreiben Sie bitte, dass Sie den Fehlbetrag bis zum Stichtag als Sicherheit hier in der Bank hinterlegen.«
Hubbard griff zögerlich nach dem Blatt Papier.
»Sie bekommen natürlich eine Quittung darüber.«
Der Bankier hielt seinem Stellvertreter den Füllfederhalter hin. Hubbard machte keine Anstalten ihn zu greifen.
»Und was soll ich Reverend Molony sagen, wenn ich den Zahlungsauftrag einfach so zurückziehe? Es sieht doch dann aus wie ein Vertrauensbruch.«
Sir Arnold winkte ab.
»Ich habe schon mit dem Geistlichen gesprochen. Er scheint ein vernünftiger Kerl zu sein und war sehr verständnisvoll. Und es liegt ja jetzt an Ihnen sich wie ein Ehrenmann zu verhalten und die Stiftung privat zu unterstützen. Die Western und Somerset Bank sieht sich jedoch ohne weitere Referenzen, die Molony leider nicht vorweisen kann, außerstande ihn über unser Limit hinaus zu unterstützen.«
»Ich verstehe.«
Hubbard fügte sich also widerstrebend und leistete seine Unterschrift. Nun war er in Sekundenbruchteilen um mehrere tausend Pfund ärmer geworden.

Paul Hubbard hatte nicht vor sich wie ein Ehrenmann zu verhalten. Gerade jetzt brauchte er jeden Penny seines Vermögens selbst. Für seine zukünftige Ehefrau, eine bekannte und mondäne Theaterschauspielerin, die er über alles liebte und vergötterte. Und die ihn ebenfalls liebte. Trotz seiner schmächtigen Gestalt und seines auch im herausgeputzten Zustand eher kümmerlichen Äußeren, das sich jetzt so perfekt mit seiner derzeitigen Situation zu decken schien. Er war in der Tat in einer prekären Lage, in die er sich auch noch selbst aus Unvorsicht gebracht hatte. Der Bankangestellte war sich bewusst, dass er Gelder der Bank veruntreut hatte und Sir Arnold ihn ebenso gut hätte anzeigen können – ein Umstand, den er seinem Vorgesetzten hoch anrechnete – und doch hatte er irrigerweise geglaubt damit durchzukommen. Nun galt es eine Lösung zu finden. Eine möglichst elegante.
Mittlerweile hatte Hubbard sein Büro im vierten Stock erreicht als ein Geräusch ihn aus seinen Gedanken auffahren ließ.
»Nanu. Was machen Sie denn hier, Dobbs?«
Inmitten des kleinen Raumes stand der ungeschlachte Hausmeister, neben ihm eine Werkzeugkiste.
»Ich habe eine Glühbirne ausgetauscht«, presste Dobbs etwas undeutlich hervor, da er nebenbei lässig ein Kaugummi kaute.
»Es war doch gar keine kaputt.«
»Muss mit Ihnen sprechen. Persönlich.«
Hubbards Augen verengten sich. Sein Blick fiel auf eine geöffnete Schreibtischschublade.
»Sie haben mir hinterher spioniert. Erklären Sie sich!«
»Mhm, habe ich«, gestand Dobbs ungeniert. »Und es hat sich gelohnt. Jetzt habe ich den Beweis, was für ein Schuft der feine Herr Bankier eigentlich ist.«
Hubbard schrak zusammen als der Hausmeister einen Briefumschlag aus seiner Tasche zog.
»Eine Nachricht von Ihnen an ihre Liebste in dem Sie ihr mitteilen, dass Sie heute Abend wieder nebenan auf sie warten werden.«
»Ja und? Daran ist nichts Verwerfliches.« Hubbard fing an zu transpirieren. »Dr. Bryant ist ein langjähriger Freund von mir und eine junge Dame fühlt sich doch auch immer sicherer, wenn bei einem Treffen noch eine Anstandsperson dabei ist.«
»Aber nicht wenn es, wie in Ihrer Mitteilung erwähnt, in einem geheimen Boudoir stattfindet«, lachte Dobbs kalt auf. »Für so naiv brauchen Sie mich doch nicht halten. Und den alten Doc kriege ich damit ebenfalls dran wegen Kuppelei.«
Mit einem wütenden Aufschrei und dem Mut der Verzweifelten sprang Hubbard auf den deutlich größeren und deutlich kräftigeren Mann zu und versuchte ihm den Umschlag zu entreißen. Doch das Handgemenge währte nur kurz. Dobbs hatte schnell die Überhand gewonnen und schleuderte den anderen von sich weg. Hubbard strauchelte, stolperte über den Werkzeugkasten und stieß hart gegen den Schreibtisch, der fest im Boden verankert war und deshalb nicht nachgab. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entrang sich der Kehle des schmächtigen Mannes. Als er versuchte sich aufzurichten stieß er gegen einen Stapel Geschäftsbücher, die daraufhin polternd zu Boden fielen. Schwer atmend sandte er einen zornigen Blick in die Richtung von Dobbs, der hämisch grinste.
»Und, Hubbard? Möchten Sie noch mehr oder haben Sie genug?«
Bevor der Angesprochene jedoch antworten konnte, öffnete sich die Bürotür und die Vorzimmerdame trat ein. Es war eine nicht mehr ganz junge Frau, die aber das seltene Glück hatte jünger auszusehen als sie war, worum sie viele der anderen Sekretärinnen im Haus beneideten.
»Ist etwas passiert? Ich hörte Krach aus dem Raum kommen.«
Hubbard nahm wieder Haltung an und räusperte sich.
»Nein, Florence. Es ist schon gut. Ich bin lediglich gestolpert. Und Mr. Dobbs wollte auch gerade gehen.«
»Das wäre mir neu«, spie dieser verächtlich aus.
»Dann verraten Sie mir bitte endlich was verflucht noch mal Sie von mir wollen.«
Hubbard war immer noch aufgebracht. Dass eine Dame im Zimmer war ignorierte er.
»Lassen Sie ihre Finger von Vanessa! Diese Frau gehört mir!«, tönte es aus Dobbs heraus.
Hubbard starrte den Hausmeister ungläubig an. So als fürchtete er, dass der rohe Knabe seinen Verstand verloren hätte.
»Sie sind doch von Sinnen«, brachte er diese Befürchtung auch sogleich zum Ausdruck. »Diese Frau spielt weit über ihrer Liga, Dobbs. Sie wird ihnen niemals gehören. Sie wird in Kürze meine Ehefrau sein. Wir sind fest verlobt.«
»Oh«, entwich es der Sekretärin und sie hielt sich erstaunt die Hand vor den Mund. Doch dies wurde von niemandem bemerkt, da der Hausmeister sogleich weiterdonnerte.
»Lösen Sie diese Verlobung oder Sie werden es bitter bereuen. Ich sage es Ihnen nur noch einmal: Lösen Sie die Verlobung, Hubbard!«
»Da habe ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden.«
Unbemerkt von allen hatte das eigentliche Objekt der Auseinandersetzung das Büro des leitenden Bankangestellten betreten: Vanessa St. Claire, der gefeierte Bühnenstar. Gehüllt in einem eng taillierten, schwarzen Traum von Dior mit Etui-Rock, Handschuhen und echtem Perlenschmuck war sie die Eleganz in Person und ließ Florence in ihrem biederen karierten Mantelkleid wie das hässliche Entlein neben einem stolzen Schwan wirken.
»Du solltest gehen, Lester, bevor mein Verlobter noch die Polizei holt.«
Vanessa nickte Hubbard zu. Dieser griff zum Telefon.
»Na gut ich gehe«, knurrte Dobbs. »Aber in dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!«
Mit einer letzten Drohgebärde verließ der Hausmeister das Zimmer. Florence atmete hörbar auf. Die gespannte Atmosphäre im Raum hatte ihr doch sehr zugesetzt. Aber noch etwas anderes lag ihr auf dem Herzen.
»Sie hätten mir ruhig von Ihren Hochzeitsplänen erzählen können, Mr. Hubbard.«
»Das wollte ich heute Abend tun, Florence«, entschuldigte sich der Bankier. »Bisher weiß es ohnehin nur Sir Arnold, der mein Trauzeuge werden wird. Sobald der Termin und alles Weitere fest steht wäre es natürlich freundlich von Ihnen uns bei der Organisation zu helfen.«
»Natürlich, Mr. Hubbard«, bestätigte Florence dienstbeflissen und ohne jegliche Emotion. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Nein danke. Wenn ich etwas benötige werde ich Sie rufen.«
Florence nickte der zukünftigen Mrs. Hubbard noch einmal höflich zu, konnte allerdings die Missgunst in ihrem Blick nicht gänzlich verbergen, und verließ dann ebenfalls das Büro. Die Tür schloss sich hinter ihr.
Hubbard ließ sich müde in seinen großen Schreibtischsessel nieder. Es wurde doch etwas viel heute. Vanessa trat zu ihm.
»Florence ist sicher nicht die einzige Sekretärin in London, die sich insgeheim Hoffnungen auf ihren Chef gemacht hat«, bemerkte sie, denn der Gesichtsausdruck der Sekretärin war ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen. Immerhin lebte sie als Schauspielerin ja auch davon Ausdrücke zu studieren und nachzubilden.
»Was?« Hubbard hob verwirrt den Kopf. »Das kann nicht sein. Die Beziehung zwischen Florence und mir ist ganz anderer Natur.« Er seufzte leise. »Aber hören wir mit Miss Bryant auf. Sag mir lieber woher du diesen Dobbs kennst.«
»Hm.« Die Schauspielerin zögerte. Langsam ließ sie sich auf dem Schoß ihres Verlobten nieder. »Ich sollte dir vielleicht mal ein Geständnis machen.« Ihre Hand fuhr langsam über die Hemdknöpfe ihres zukünftigen Ehegatten nach oben. »Spätestens auf dem Standesamt hättest du es ja doch erfahren.«
Hubbard schaute sie ruhig und ohne Vorwürfe, aber dennoch mit dem berechnendem Blick eines intelligenten Geistes an.
»Du kannst mir alles sagen, Vanessa. Das weißt du doch.«
Seine Verlobte kniff die Lippen zusammen.
»Damit fängt es schon an. Das ist nicht mein richtiger Name. Vanessa St. Claire ist ein Künstlername. In Wahrheit heiße ich Ethel Smith. Und ich stamme aus Whitechapel. Was das bedeutet kannst du dir wohl denken. Lester Dobbs arbeitete damals als Bühnenbauer. Ich heiratete ihn und hoffte selbst für das Theater entdeckt zu werden. Mein Plan gelang. Nachdem ich meine ersten Erfolge feierte, ließ ich mich von ihm scheiden. Und dann … Dann lernte ich dich irgendwann kennen.«
Hubbard schluckte. Sein Blick wurde traurig.
»Und welchen Plan hast du mit mir vor?«, fragte er tonlos.
»Keinen natürlich!«, entrüstete sich Vanessa sogleich. »Ich liebe dich, Paul. Und nur dich. Nicht dein Geld und auch nicht deinen Status.«
Hubbards Herz schlug schwer. Sollte er das glauben? Ihr? Der derzeit größten Tragödin Englands? Der Frau, die mit erstaunlich präziser Diktion und Akzentuierung, mit unangestrengt wirkenden Gesten und natürlicher Mimik alle Kritiker und das Publikum einvernehmlich zu Beifallsstürmen hinriss? Der Bankangestellte wollte es so gerne, doch spürte er innerlich, dass er dem Ruin noch nie näher war als jetzt in diesem Augenblick. Dem beruflichen ebenso wie dem privaten. Was hatte er auch anders erwartet? Jede Unregelmäßigkeit rächte sich einmal und für die meisten Frauen war er ohnehin noch nie männlich und attraktiv genug gewesen. Warum sollte es also gerade jetzt bei Vanessa anders sein?
Seine Verlobte versuchte ihn zu küssen, doch Hubbard wich ihr aus. Es gab wohl nur noch eine Lösung für all seine Probleme: Der Sprung in den Abgrund.
 



 
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