Die letzte Wette - Kapitel 2

Kapitel 2

Am nächsten Tag verzog sich der Morgennebel, der von der Themse her zog, erst in der Mittagszeit. War es noch diesig als Florence Bryant in das kleine Restaurant gegenüber von dem imposanten Bankgebäude ging, so erfreute sie sich jetzt auf dem Rückweg von ihrem Lunch, dass sie gemeinsam mit ihrem Vater, der als Arzt schon längst zur Ruhe getreten war, eingenommen hatte, an den ersten Sonnenstrahlen des Tages. Sie fühlte sich befreit und wie neu geboren. Nachdem sie sich herzlich von ihrem gichtigen, aber sonst noch sehr rüstigen Vater verabschiedet hatte, betrat sie zuversichtlich das Bankgebäude durch das säulengeschmückte Portal, grüßte freundlich den Portier und betrat den holzverkleideten Paternoster, der sie in das vierte Obergeschoss brachte. Vor der Tür ihres Büros wartete schon ein älterer, fülliger Herr im Trenchcoat auf sie. Er war in ein Gespräch mit Sir Arnold vertieft.
»Dann stehen Sie also kurz vor der Pensionierung, Rouch?«
Rouch nickte.
»Als Chefinspektor, ja. Etwas, dass Sie ja schon geschafft hatten als Sie noch nicht einmal halb so alt waren als ich es jetzt bin.«
»Der Fall Shelton.«
»Für den Sie im Yard immer noch berühmt sind, Sir Arnold.« Rouch schwieg einen Augenblick. Sein Gesicht nahm einen betroffenen Ausdruck an. »Es tut mir übrigens sehr leid was mit Ihrem Vater im Krieg passiert ist.«
»Danke für Ihre Anteilnahme, Rouch. Dr. Bryant, der neben der Bank wohnt, war nach dem Bombeneinschlag gleich zur Stelle. Ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben begab er sich in die Trümmer. Aber für meinen Vater war es zu spät. Er konnte ihm nicht mehr helfen. Eine schwarze Stunde für die Western und Somerset Bank. In vielerlei Hinsicht.«
»Ich hörte davon. Die deutsche Bombe soll ja den Tresorraum gesprengt haben.«
»Das hatte sie«, bestätigte Sir Arnold. »Papiergeld, Aktien, Wertpapiere, alles verbrannt. Wir mussten ein Großteil unseres Privatvermögens aufbringen um die Bank zu retten.«
Die Aufmerksamkeit des Vorstands wendete sich von dem Kriminalbeamten ab als er eine Bewegung wahrnahm.
»Ah, Miss Bryant. Wir sprachen gerade über den Mut Ihres Vaters«, lächelte er väterlich.
Florence schien diese Lobpreisung allerdings eher etwas unangenehm zu sein, so dass sie nicht weiter darauf einging.
»Wir?«, fragte sie daher nur und schloss beiläufig das Büro auf.
»Oh, verzeihen Sie mir«, entschuldigte sich Sir Arnold. »Darf ich vorstellen? Chefinspektor Rouch von Scotland Yard. Florence Bryant, die Sekretärin von Mr. Hubbard.«
Rouch deutete eine Verbeugung an.
»Angenehm, Miss Bryant.«
»Ebenfalls, Inspektor. Kommen Sie doch herein.«
Florence ließ die Herren ins Vorzimmer eintreten.
»Mr. Hubbard ist wohl noch nicht von seinem Mittagsmahl zurück, was?«, bemerkte der Inspektor.
»Ich wüsste nicht, dass er überhaupt weg gewesen wäre. Als ich ging war er jedenfalls noch in seinem Büro«, gab Florence Auskunft.
»Ich dachte weil die Tür zum Vorzimmer abgeschlossen war.«
Florence errötete leicht.
»Oh, das ist wohl meine Schuld. In der Regel verlässt Mr. Hubbard das Büro mittags immer vor mir, so dass ich das Zimmer gewohnheitsmäßig abschließe wenn ich es verlasse.«
»Verstehe. Dann schauen Sie doch bitte ob Mr. Hubbard da ist.«
Florence trat hinter ihren Schreibtisch und streckte ihre Hand zur Sprechanlage aus.
»Mr. Hubbard?«
Keine Antwort.
»Mr. Hubbard?«, versuchte es seine Sekretärin erneut etwas eindringlicher.
Es kam wieder keine Antwort.
»Er scheint tatsächlich nicht im Büro zu sein.« Florence ließ die Sprechanlage los und schaute zu dem Polizeibeamten. »Darf ich fragen, was Sie eigentlich von Mr. Hubbard wollen?«
Rouch strich sich nachdenklich über sein Kinn.
»Dürfen Sie, dürfen Sie. Mr. Hubbard hat mich hierher bestellt, da er eine Aussage machen wollte.«
»Oh.« Florence war erstaunt. »Worüber denn?«
»Über etwas, das ihn selbst belasten würde. Er hat es leider nicht präzisiert.«
Sir Arnold runzelte die Stirn. Das gefiel ihm gar nicht. Doch bevor er seine Gedanken äußern konnte klingelte das Telefon. Florence nahm ab.
»Vorzimmer von Mr. Hubbard … Was? … Oh mein Gott! … Ja. Ja, ich verstehe.«
Kreideweiß legte sie den Hörer auf. Sir Arnold hob die Augenbrauen.
»Miss Bryant?«
»Das … Das war Mr. Dobbs. Er ist unten beim Pförtner«, antwortete die Sekretärin verstört. »Er hat gesagt, dass Mr. Hubbard auf dem Fenstersims sitzt und nach unten starrt als ob er springen wollte. Ein Streifenpolizist ist schon alarmiert.«
Sofort kam Leben in die Anwesenden. Chefinspektor Rouch riss sogleich die Führung an sich.
»Wir müssen ihn davon abhalten. Wir dürfen jetzt nichts Vorschnelles tun.«
»Man sollte seine Verlobte holen«, schlug Sir Arnold vor. »Vielleicht kann sie etwas erreichen. Sie müsste jetzt wohl im New Theatre in Westminster sein.«
Rouch nickte, schob die hilflose Florence beiseite und griff zum Telefon.
»Ich werde sie von einem Polizeiwagen herbringen lassen. Reden Sie derweil mit ihm. Versuchen Sie in seine Nähe zu kommen.«
Sir Arnold ging zu Hubbards Bürotür und klopfte.
»Hubbard?! Hören Sie mich?! Werfen Sie Ihr Leben nicht weg! Wir können sicher für alles eine Lösung finden, Paul!«
Keine Antwort.
»Ich komme jetzt rein zu Ihnen!«
Sir Arnold griff zur Klinke und drückte sie herunter. Verschlossen. Er schaute zurück.
»Miss Bryant, der Schlüssel! Schnell!«
Florence eilte herbei und kramte ihren Schlüsselbund hervor. Doch noch bevor sie den passenden Schlüssel gefunden und ins Schloss gesteckt hatte gellte ein lauter Schreckensschrei von der Straße hinauf.
Es war zu spät.

Hubbards Büro war dunkel als die Anwesenden es betraten. Der Sonnenschein hatte nur kurz gewährt. Nun hing eine dicke Wolkendecke am Himmel. Florence war an der Tür stehen geblieben, Sir Arnold schaute sich im Raum um. Rouch ging weiter. Er schlängelte sich am Schreibtisch vorbei zu dem geöffneten Fenster und blickte hinaus.
»Wer ist der alte Mann dort unten bei der Leiche?«
Nun trat Florence hinzu, steckte rasch das Taschentuch, das sie in der Hand hielt, in ihre Tasche und schaute ebenfalls hinab.
»Das ist mein Vater.«
»Dr. Bryant?«
»Ja.«
Florence wendete ihren Blick wieder ab. Nachdenklich zog Rouch den Kopf zurück als ein lautes Geräusch ihn und die anderen auffahren ließ. Ein Luftzug hatte die Tür zuschlagen lassen. Sir Arnold entdeckte den Grund zuerst. Er deutete auf ein angelehntes Fenster auf der anderen Seite.
»Dort.«
Der Polizeibeamte ging hin und untersuchte es.
»Führt zur Feuertreppe. Kein Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens«, lautete sein Urteil. »Scheinbar hat Hubbard doch lieber den Tod gesucht als sich selbst anzuzeigen.«
»Es war kein Selbstmord. Es war Mord. Ich wette!«
Erstaunt, aber nicht wirklich überrascht schaute Rouch zu Sir Arnold. Schon damals im Yard war Arnold Long unter dem Spitznamen ›Wetter‹ bekannt gewesen. Was er jetzt aber von dieser Wette halten sollte, das wusste er nicht so recht.
 



 
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