Die letzte Wette - Kapitel 3

Kapitel 3

»Es sieht so aus als ob Sie diesmal Ihre Wette verlieren würden, Sir Arnold.«
Chefinspektor Rouch hatte sich in dem Besucherstuhl niedergelassen in dem gestern noch der nun verstorbene Paul Hubbard gesessen hatte. Neben ihm saß schweigend die Schauspielerin Vanessa St. Claire. Der Bankdirektor blickte den Polizeibeamten aus strengen Augen an.
»Berichten Sie.«
»Nun …« Rouch hielt inne und stopfte seine Pfeife. »Der einzige Mann, der ein Motiv hätte und dessen Drohungen gegenüber Hubbard bezeugt wurden – Mr. Dobbs – hat ein einwandfreies Alibi. Er war in der Loge beim Pförtner und hat uns von dort angerufen kurz bevor Hubbard sich hinunterstürzte. Und die einzige andere Person neben dem Hausmeister, die ebenfalls Schlüssel für Hubbards Büroräume hat – Miss Bryant – war mit uns im Vorzimmer als es passierte. Auf diesem Wege konnte keiner zu Mr. Hubbard gelangen ab dem Zeitpunkt als Miss Bryant zum Lunch ging. Und für die Zeit davor haben wir ihre Aussage, dass Mr. Hubbard keinen Besuch empfangen hat. Auch dem Pförtner ist niemand aufgefallen.«
Rouch entzündete ein Streichholz, hielt es in den Pfeifenkopf und fing an zu paffen.
»Ist das alles?«
»Nein.« Der Inspektor schüttelte den Kopf und wedelte das Streichholz aus. »Einen Besucher gab es. Allerdings schon am frühen Vormittag. Reverend Molony von der Stiftung zur Hilfe von Kriegsversehrten.«
»Der in Gefahr war eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes für die Stiftung zu verlieren«, warf der Bankier ein.
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Sir Arnold. Die Stiftung ist sauber. Und Molony ist immerhin deren Bevollmächtigter und kein Leiter eines dubiosen Mädchenheims.« Rouch stieß eine Rauchwolke in die Luft. »Miss Bryant hat ihn zwar nicht gehen sehen, aber sie hat ja selbst zugegeben nicht ständig am Platz gewesen zu sein. Außerdem wird er sich wohl nicht die Mühe gemacht haben sich mehrere Stunden in einem Schrank oder ähnlichem zu verbergen um auf die beste Möglichkeit zu warten Hubbard aus dem Fenster zu stoßen.«
»Die Feuerleiter …«
Doch der joviale Rouch schüttelte nur den Kopf.
»Keine Einbruchsspuren am Fenster. Und selbst wenn Mr. Hubbard seinen Mörder selbst eingelassen hätte, niemand hat eine verdächtige Gestalt bemerkt.«
»Es war bis zum Mittag hin neblig«, gab der Wetter zu bedenken. »Und es handelt sich um eine ruhige Seitenstraße.«
»Die aber auch nicht mehr ruhig war nachdem man Hubbard am Fenster entdeckt hatte. Der Schrei der Passantin hat zudem noch weitere Leute aus den umliegenden Häusern gelockt. Ein Geistlicher wäre sicherlich jemandem aufgefallen. Und mehr Leute mit einem Motiv gibt es nicht. Sie haben ja selbst gesagt, dass sich Mr. Hubbard bis auf diese Stiftungsgeschichte nichts hat zuschulden kommen lassen.« Rouch hielt inne und schaute den Bankier fest an. »Und das ist auf jeden Fall ein Straftatbestand. Der Kassierer hat mir bestätigt, dass er Mr. Hubbard nach dem Erhalt der Zahlungsanweisung ebenfalls noch einmal auf den erhöhten Betrag angesprochen hat. Spätestens dann hätte Mr. Hubbard seinen Irrtum doch bemerken müssen, denken Sie nicht? Sie haben da viel zu nachsichtig gehandelt, Sir Arnold.«
»Aber das ist doch kein Grund für einen Selbstmord!«
»Nein. Wohl nicht.« Der Inspektor zog an seiner Pfeife. »Aber …«
Er schaute auffordernd zu seiner Sitznachbarin, die sich krampfhaft an ihrem Spitzentaschentuch festhielt, bemüht, Fassung zu bewahren. Ihr modisches Kostüm mit den hellen Farben und dem Petticoat wollten so gar nicht zu ihrer Trauer passen was ihre Erscheinung etwas absurd, aber nichtsdestotrotz dennoch bewegend erscheinen ließ.
»Ich habe Schuld«, brachte Vanessa leise hervor. »Nur ich. Ich habe Paul gestern gestanden, dass ich aus armen Verhältnissen stamme und bereits eine Zweckehe hinter mir habe. Er … Er dachte wohl ich wollte ihn auch nur wegen seines guten Rufes in der Londoner Gesellschaft und seines Geldes wegen heiraten. Er war so ein dummer Junge.«
Vanessa atmete tief durch und tupfte sich die feuchten Augen ab.
»Sehen Sie, Sir Arnold«, riss Rouch das Wort wieder an sich. »So ein Glaube kann schon den Unterschied machen zwischen einer Selbstanzeige oder einem Selbstmord. Das müssen sie einsehen.«
Der Wetter kniff die Lippen zusammen. Da konnte er nicht viel gegen sagen. Vanessa ließ ihre Hand wieder sinken.
»Glaube? Ein Irrglaube war es!« Sie hob etwas theatralisch ihre Stimme. »Ich hätte Paul auch ohne einen Penny genommen. Mit Vorstrafe und selbst als Sträfling. Und nun … Nun habe ich ihn auf dem Gewissen.«
Die Schauspielerin sackte in sich zusammen. Rouch ergriff väterlich ihre Hand bevor er sich wieder Sir Arnold zuwendete.
»Selbst die Hämatome an Hubbards Hinterkopf können ohne weiteres Folgen des Sturzes sein. Das haben sowohl Dr. Bryant als auch der Polizeiarzt bestätigt. Es gibt wirklich keine Anzeichen für Fremdverschulden. Tut mir leid, Wetter Long.«
»Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten, Rouch.« Sir Arnold stand auf um den pragmatisch gestrickten Inspektor und die Schauspielerin, die so perfekt in ihrer Trauer und Bestürzung wirkte, zu verabschieden. »Noch einmal mein herzlichstes Beileid, Miss St. Claire.«
Als die beiden gegangen waren griff der Bankier zu seinem Telefon.
»Ich brauche eine Verbindung nach Canterbury. Zur Hauptverwaltungsstelle der Stiftung zur Hilfe Kriegsgeschädigter. … Ja, ich warte. …«
Als Sir Arnold aufblickte bemerkte er Dobbs, der in der geöffneten Tür stand.
»Sie sagten vorhin, Sie wollten noch einmal mit mir sprechen, Sir Arnold?«
Der Wetter schaute den Hausmeister kurz etwas irritiert an, doch dann fiel es ihm wieder ein.
»Ach ja. Bitte tauschen Sie, jetzt wo die Polizei weg ist, den Türbeschlag in Mr. Hubbards Büro aus. Die Klinke ist auf der Innenseite ganz zerkratzt. Das wäre dann alles, Dobbs.«
Sir Arnold war zwar kein Snob, dennoch konnte er es nicht haben wenn Kleinigkeiten das Gesamtbild der Bank trübten. Der Hausmeister nickte und entfernte sich. Der Wetter konzentrierte sich wieder auf das Telefongespräch.
»Ja, hallo? Sir Arnold Long hier von der Western und Somerset Bank …«

Russell Mortimer verließ ohne Eile die Holloway Road Station der Londoner Untergrundbahn und kaufte sich beim nächsten Zeitungsverkäufer eine Abendausgabe. Die Reporter hatten schnell gearbeitet und so fand sich dort schon ein entsprechender Artikel zu dem Selbstmord von Paul Hubbard. Mortimer schlug die passende Seite auf und las ihn sehr interessiert auf dem Weg zu seiner bescheidenen Bleibe. Er bewohnte zwei Kammern in einem heruntergekommenen Mietshaus. Als er vor seiner Wohnung stand faltete er die Zeitung zusammen, steckte sie sich unter den Arm, kramte seinen Schlüssel hervor und steckte ihn in das Türschloss. Zu seinem eigenen Erstaunen war nicht abgeschlossen.
»Wie nachlässig von mir«, murmelte er, glaubte aber nicht wirklich an eigene Nachlässigkeit. Dazu war er viel zu misstrauisch und die Gegend, in der er wohnte, zu gefährlich. Langsam glitt seine Hand in die rechte Jackentasche und umfasste etwas Metallisches.
Mortimer holte ein Klappmesser hervor und ließ es aufschnappen. Der drahtige Mann hielt es fest in der Hand und stieß mit einem kräftigen Tritt seines Fußes die Tür auf. Mortimer zuckte zusammen als ihn das kantige Gesicht eines etwa dreißigjährigen Mannes mit kurzem, dunklem Haar anfunkelte. Der Garderobenspiegel. Mortimer atmete tief durch. Langsam ging er an der Garderobe vorbei in die kleine Wohnküche. Sein Herz schlug rascher und seine Muskeln waren angespannt. Mit Bedacht setzte er einen Fuß vor den anderen, seine Augen flitzten umher. Alles war still. Doch war diese Stille trügerisch, unbehaglich. Alles andere als dazu geeignet ihn zu beruhigen. Auch trug der Tod von Hubbard dazu bei, dass er jetzt um sein Leben fürchtete. Er war im Besitz einer Information, die auch Hubbard besessen hatte. Natürlich, im Zeitungsbericht stand Selbstmord und nicht Mord, doch er wusste, dass diese Information potentiell tödlich sein konnte. Dafür kannte er sich gut genug aus im kriminellen Milieu.
Mortimers Stirn wurde feucht. Angstschweiß. Nur mit dem Geräusch seines eigenen flachen Atems im Ohr ging er weiter, zu der Ecke hinter der sich sein Schlafraum befand. Mit einem Satz überwand er diese letzte Hürde – und sah sich einem hoch gewachsenen, kräftig gebauten Geistlichen mit grauen Haaren und grauem Schnurrbart gegenüber. Klappernd fiel sein Messer zu Boden. Mortimer wollte zurückweichen, doch der Kirchenmann war schneller, packte ihn hart an und warf ihn gegen das Bett.
»Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie?« keuchte Mortimer und blickte angsterfüllt zu dem anderen hoch.
»Letzteres möchte ich von Ihnen wissen«, gab der andere in harschem Tonfall zurück und entledigte sich der Perücke, des Schnurrbartes und des Priesterkragens. Nun erkannte ihn Mortimer.
»Sir Arnold Long!«
»Derselbe«, nickte der Bankier. »Und wer sind Sie? Sie sind nicht Reverend Molony. Trotz dieser hübschen kleinen Maskerade, die ich hier gefunden habe. Ohnehin ein sehr zweifelhafter Wohnort für einen kirchlichen Würdenträger. Ich weiß jedenfalls mittlerweile, dass das Empfehlungsschreiben von der katholischen Diözese in Dublin, das Sie der Stiftung vorgelegt hatten, eine Fälschung ist. Was für ein Spiel spielen Sie? Packen Sie aus!«
»Einen Dreck werde ich!«, spie Mortimer aus, sprang auf und versuchte an dem Wetter vorbei zu kommen. Auch dieses Mal ohne Erfolg. Sir Arnold hatte ihn als ehemaliger Amateursportboxer schnell im Griff und drehte ihm den Arm um.
»Reden Sie besser oder ich breche Ihnen den Arm. Damals beim Yard war ich gefürchtet für meinen ›vierten Grad‹. Ich wette darauf, dass Sie regelmäßig Teile der Spendengelder, die für die Stiftung bestimmt sind, unterschlagen.«
Mortimer schnaufte.
»Also?«
»Ja … Ja«, presste Mortimer schmerzerfüllt hervor. »Bitte … Bitte lassen Sie meinen Arm los … Ich werde Ihnen alles sagen, was sie wissen wollen.«
Der Wetter ließ ihn frei. Mortimer atmete tief durch, setzte sich auf das Bett und rieb sich den Arm.
»Wie sind Sie eigentlich hier herein gekommen?«
»Ganz einfach. Ich habe Ihre Hauswirtin ganz nett gebeten. Sie stimmte mit mir überein, dass ein Bankdirektor ein besserer Besuch für Sie wäre als eine Gruppe Polizeibeamter.«
»Verstehe. Was wollen Sie wissen?«
»Warum hat Hubbard die Stiftungsgelder der Bank für Sie erhöht?«
»Hm«, zögerte Mortimer leicht. »Ich habe Ihn erpresst.«
»Weiter«, befahl Sir Arnold. »Die ganze Geschichte.«
»Nun gut«, seufzte Mortimer. »Ich habe mich bei Mr. Hubbard eingeschmeichelt. Er hielt mich natürlich für einen echten Geistlichen. Vor ein paar Wochen kam er zu mir und wollte eine Beichte ablegen. Ich verwehrte es ihm natürlich nicht, es hätte meine Maskerade gefährdet. Er hatte – seinen eigenen Worten nach – die Frau seines Lebens getroffen und wollte vor einer tieferen Bindung sein Gewissen erleichtern. Er beichtete mir von seiner vormaligen Unkeuschheit und dass er Kenntnis über einen der größten unentdeckten Bankraube Englands hätte und dass er dieses Wissen auf erpresserische Weise nutzte um sich einen anderen Menschen gefügig zu machen. Er nannte keine Namen. Dennoch reichte dieses Wissen aus, dass er mich dafür bezahlte dicht zu halten.«
»Verstehe. Was wollten Sie heute morgen bei ihm?«
»Hubbard bat mich zu sich. Er hielt mich wohl immer noch für so etwas wie seinen Beichtvater. Hubbard erzählte mir, dass seine Liebe auf dem Prüfstand stehen würde. Er wollte sich selbst anzeigen und ein umfassendes Geständnis über die Gegebenheiten, die er mir mitgeteilt hatte, ablegen. Er sagte mir, dass er mich nicht außen vor lassen könnte.«
»Aha. Ein Motiv.«
»Ein Motiv? Für was?« Ungläubig starrte Mortimer den anderen an. »Für einen Mord an Hubbard? Ich habe damit nichts zu tun! Wirklich nicht! Das werden Sie mir nicht anhängen.«
»Wie sieht es aus mit Ihrem Alibi für die Tatzeit? Wo waren Sie heute Mittag?«
»Dazu werde ich nichts sagen.«
»Dann wollen Sie also doch im Eigenversuch herausfinden wie sich ein oder sogar zwei gebrochene Arme anfühlen, was?«
Mortimer wurde hektisch.
»Hören sie. Hubbard bot mir an meine Person aus der Sache herauszuhalten wenn ich die Maskerade als Molony aufgebe und aus der Stadt verschwinde.«
»Und sich damit viel Geld entgehen lassen?« Der Wetter zweifelte an dem Gauner vor ihm. »Ich fürchte wir kommen nicht um Ihr Alibi herum. Also?«
Sir Arnold knetete seine Hände. Man konnte deutlich sehen wie Mortimer mit sich rang. Seine Stirn glänzte immer noch vor Schweiß. Schließlich lenkte er ein.
»Ich habe mit einem befreundeten Herrn im Restaurant des Ritz Hotels zu Mittag gegessen und den Nachmittag mit ihm in seinem Hotelzimmer verbracht. Danach bin ich mit der Piccadilly Linie nach Hause gefahren.«
»Wer ist dieser befreundete Herr?«
»Das werde ich Ihnen nicht sagen.«
»So?« Der Wetter hob die Augenbrauen. »Dann ist diese Freundschaft wohl so tief, dass sie schon strafbar ist, was?«
»Dazu werde ich mich nicht äußern, Sir Arnold. Der Herr gehört den besseren Kreisen an und ich werde ihn nicht kompromittieren. Sie brauchen doch lediglich mein Alibi für die Mittagszeit und im Restaurant haben mich genug andere Leute speisen sehen. Das sollte Ihnen reichen.«
»Ja, das reicht mir«, nickte der Bankier leicht. Innerlich jedoch seufzte er auf. Soeben hatte sich sein Hauptverdächtiger in Luft aufgelöst und er war drauf und dran seine Wette zu verlieren.
»Werden Sie mich jetzt der Polizei übergeben, Sir?«
Der Wetter schaute auf das zusammengesunkene Häufchen Elend auf dem klapprigen Bett. Eigentlich war er es seinem verstorbenen Freund wohl schuldig sich nun ebenso edelmütig zu dem falschen Reverend zu verhalten wie dieser es getan hatte. Es fragte sich nur eines nach der Kenntnisnahme der Beichte des Paul Hubbard: Wie edelmütig war sein Stellvertreter eigentlich wirklich gewesen?
»Nein«, lautete schließlich Sir Arnolds Antwort.
 



 
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