Die letzte Wette - Kapitel 4

Kapitel 4

Am nächsten Morgen hing wieder dichter Nebel über London. Ein Wetter, das ausgezeichnet zu Sir Arnolds Gemütsverfassung passte. Denn der Bankier fühlte sich genauso wie die Stadt: Benebelt. Er hatte überaus schlecht geschlafen und war auch früh wieder wach geworden. Mit zwei Tassen starken schwarzen Kaffees hatte er versucht am Frühstückstisch seine Lebensgeister wieder zu wecken, aber es war ihm nicht wirklich geglückt. Dafür hatten schon die Feuchtigkeit der nächtlichen Regenschauer, die bei ihm immer zu leichten rheumatischen Beschwerden führte, und die schreibende Zunft gesorgt. Es gab zwar nun eine zusätzliche Verdächtige, denn ein findiger Zeitungsmensch hatte über Hubbards Anwalt herausbekommen, dass Vanessa St. Claire seine Alleinerbin und das Testament erst einen Tag vor Hubbards Ableben aufgesetzt worden war, doch hatte auch sie für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi. Im Augenblick von Hubbards Tod war sie gerade an ihrer aktuellen Wirkungsstätte, dem New Theatre in Westminster, angekommen. Hatte Paul Hubbard also am Abend vorher vielleicht auch schon mit dem Gedanken eines Selbstmords gespielt? Wollte er seine große Liebe, die ihn in seinen Augen nur benutzt hatte, dennoch versorgt wissen? War es wirklich möglich, dass dies die erste Wette war, die er, der Wetter Long, verlieren würde? Nein. Irgendetwas passte da noch nicht zusammen. Der Bankier wurde einfach das Gefühl nicht los noch irgendeinen entscheidenden Hinweis übersehen zu haben. Dies war auch der Grund warum er nun in aller Herrgottsfrühe noch einmal das Büro des Verstorbenen betrat.
»Irgendwo hier muss die Lösung doch sein …«
Sir Arnold schaute sich um. Der Türbeschlag samt Schloss war ausgebaut worden und lag daneben. Scheinbar hatte Dobbs gestern Abend noch mit der Arbeit angefangen wovon auch der Werkzeugkasten kündete. Der Vorsitzende hielt inne. Hatte der Hausmeister nicht ausgesagt, den Kasten bereits am Abend vor dem Todesfall hier stehen gelassen zu haben? Der Wetter bückte sich und untersuchte den Werkzeugkasten und die herumliegenden Gerätschaften. Es war nichts wirklich Auffälliges dabei: Schrauben und Nägel in verschiedenen Größen, mehrere Arten von Schraubenziehern, Schraubenschlüsseln und Zangen, Stahl- und Kupferdraht in verschiedenen Stärken, ein großer und ein kleiner Hammer, zwei Pinsel, ein Maßband, ein altes Messer und ein paar weitere Werkzeuge und Kleinigkeiten, die er als Nicht-Handwerker nicht benennen konnte. Nichts also, was ihm wirklich weiterhelfen würde.
Sir Arnold erhob sich wieder und ging nun weiter zu dem Fenster, aus dem Hubbard sich augenscheinlich gestürzt hatte. Den Schreibtisch und den Papierkorb ließ er außen vor. Den hatte er am vorherigen Tag zusammen mit Chefinspektor Rouch schon ohne Ergebnis untersucht. Es waren keine Unterlagen vorhanden, die Aufschlüsse über die Tat gegeben hätten. Also nun das Fenster. Der Wetter öffnete es und untersuchte es noch einmal genau. Die Polizei hatte dieses Fenster außen vor gelassen und sich nur auf das Fenster neben der Feuerleiter konzentriert. Sein Blick fiel auf den hölzernen Rahmen. Er wies in der Nähe der Fensterbank einige Kratzspuren auf. Sir Arnold blickte zurück zu der nun fehlenden Türklinke. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Bürotür, der Schreibtisch und das Todesfenster eine direkte Linie bildeten.
Der Wetter schloss das Fenster wieder, drehte sich zum Schreibtisch und bückte sich um dessen Unterseite zu untersuchen. Das Erste auf das er stieß war ein gebrauchtes Kaugummi unter der Schreibtischplatte.
»Dobbs. Dieser degoutante Kerl«, murmelte Sir Arnold, ging auf die Knie und legte sich schließlich auf den Teppich. Eine etwas unwürdige Haltung für einen Bankdirektor, doch es lohnte sich. Knapp über dem Boden, an der rückseitigen Verblendung, fand er ebenfalls Kratzer und sogar eine kleine Rille im Holz. Der Wetter erhob sich mit der befriedigenden Gewissheit den Tathergang nun genau rekonstruieren zu können. Seine Entdeckung warf ein völlig neues Licht auf die Alibis der Verdächtigen. Jetzt wo das ›wie‹ geklärt war, war das ›wer‹ nur noch eine reine Formsache für den erfahrenen Kriminalisten.
Sir Arnold griff zum Telefon und ließ sich nacheinander mit dem New Theatre, einer Taxigesellschaft und dem Ritz Hotel verbinden. Dann verließ er Hubbards Büro. Die letzten Gespräche wollte er lieber persönlich führen. Eines davon führte ihn zum Portier, ein anderes in das Restaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite und das letzte schließlich zu Dr. Bryant.

Es war immer noch feucht draußen und der Nebel kroch Sir Arnold in die Knochen als er draußen auf der Straße unterwegs war. Er zog seinen dunklen Lodenmantel fester um sich und stützte sich auf seinen schwarzen Stockschirm. Dann überquerte er die Fahrbahn. Sein Weg führte ihn am Bankgebäude vorbei in eine der Seitenstraßen. Er seufzte leise als sein Blick auf die vernebelten Baugerüste fiel wo man in ein paar Stunden wieder versuchen würde die letzten Reste der Zerstörung durch den Bombeneinschlag zu beseitigen. Doch noch war es früher Morgen und kein Arbeiter war zu sehen.
Sir Arnold ging auf ein Haus im viktorianischen Stil zu und betätigte die Türglocke. Während er auf Antwort wartete fiel sein Blick auf eine undeutliche Gestalt in der Nähe, die augenscheinlich damit zugange war am Motor eines Wagens herumzuwerken. Wer es war, konnte er allerdings nicht erkennen. Als sich die Tür öffnete blickte der Wetter schließlich in das gelbe, faltige Gesicht des Dr. Bryants. Ein Ausdruck des Erstaunens lag auf dessen Gesicht.
»Sir Arnold. Zu so früher Stunde. Ist etwas geschehen?«
»Guten Morgen, Dr. Bryant. Darf ich hereinkommen? Im Haus redet es sich besser.«
»Oh ja, natürlich. Bitte. Gehen Sie doch durch.«
Der alte Arzt, der noch im Morgenrock war, machte Platz und ließ Sir Arnold eintreten. Hinter ihm verschloss er die Tür wieder. Der Wetter schaute sich um als er zum Wohnraum weiter ging. Bryant schien ein Sammler von Antiquitäten und Kuriositäten aus der ganzen Welt und nicht unvermögend zu sein. Letzteres erstaunte Sir Arnold trotz des Anbetrachts, dass Bryant durch seine frühere Sanatoriumsstelle wohl kaum das nötige Geld dazu hätte haben können, jedoch keineswegs. Der Arzt schlurfte gebeugt heran und ließ die Tür zum Flur hinter sich angelehnt.
»Bitte nehmen Sie doch Platz, Sir Arnold. Wie kann ich Ihnen helfen? Geht es um die Bank? Meine Tochter ist noch nicht auf. Sie hat immer einen sehr tiefen Schlaf.«
»Nur indirekt.« Sir Arnold öffnete seinen Mantel und setzte sich. Seinen Schirm lehnte er neben sich an die Wand. »Im Grunde ist mein Besuch eher privater Natur. Und ich wollte auch nicht zu Ihrer Tochter, sondern zu Ihnen.«
»Oh.« Bryant nahm ebenfalls Platz. »Dann geht es vielleicht um ihren Cousin Henry? Bei meinem letzten Besuch bei Ihnen war sein Zustand doch zufrieden stellend. Sagen Sie nicht, dass der arme Kerl einen Rückfall hatte.«
»Nein, Dr. Bryant. Henry geht es den Umständen entsprechend gut und ich bin Ihnen auch sehr dankbar, dass sie sich nach dem Tod meines Vaters Sir Godley verstärkt seiner angenommen haben.« Der Wetter atmete tief durch. »Ich bin allein wegen Ihnen gekommen. Und wegen dem, was sie getan haben. Heute und damals im Krieg.«
Bryant befeuchtete seine Lippen.
»Ich weiß nicht worauf Sie anspielen. Absolut nicht.«
»Ich denke Sie wissen das ganz genau, Doktor. Es geht um Paul Hubbard und um seinen Tod, der kein Selbstmord war, sondern Mord.«
Bryant schrak zusammen. Fahrig wischte er sich mit der Hand über das runzlige Gesicht.
»Ich bin kein Mörder.«
Sir Arnold blieb ruhig.
»Ich weiß. Sie …«
Ein Geräusch von der Haustür her ließ den Bankier umfahren, doch es war nichts weiter zu entdecken. Die Tür zum Flur jedenfalls hatte sich nicht bewegt und war immer noch leicht geöffnet. Er musste sich wohl geirrt haben und wendete sich dann wieder dem Arzt zu, der auch nichts bemerkt zu haben schien.
»Sie sind etwas anderes und Sie haben vielleicht meinen Vater auf dem Gewissen. Der Mörder von Hubbard jedoch … bin ich.« Dr. Bryant starrte ihn an als wäre er verrückt geworden. Doch Sir Arnold sprach weiter. »Es war ein Stahldraht gespannt von Hubbard, der bewusstlos war, unter dem Schreibtisch hindurch zur Türklinke, an der eine lockere Schlaufe befestigt war. Mit dem Hinunterdrücken der Klinke unterschrieb ich Hubbards Todesurteil. Der Schreibtisch, der glücklicherweise am Boden festgeschraubt ist, bildete dabei den Garant dafür, dass die Schlaufe auch wirklich nach unten rutschte. Wahrscheinlich war auch noch irgendein Schmiermittel im Spiel. Den Rest erledigte Hubbards eigenes Körpergewicht. Und Sie mussten natürlich der Erste bei der Leiche sein um den verräterischen Stahldraht von ihr zu entfernen.«
»Eine wirre Theorie ist das, nichts weiter«, wiegelte Bryant ab.
»Eine Theorie, die ich beweisen kann«, hielt der Wetter dagegen.
»Was wollen Sie dann von mir?« brummte der alte Bryant müde. »Mich erpressen?«
Sir Arnold schüttelte den Kopf.
»Nein, Doktor. Ich will Ihnen die Chance geben sich selbst zu stellen und ein umfassendes Geständnis abzulegen. Etwas, von das Hubbard durch seinen Tod gehindert wurde. Sie wird jedoch keiner daran hindern, Dr. Bryant. In drei Stunden werde ich zur Polizei gehen. So lange haben Sie Zeit darüber nachzudenken.«
»Gut«, nickte Bryant. »Sie sind wirklich ein Ehrenmann, Sir Arnold. Ich werde es mir überlegen.«
Langsam stand er auf und trottete nachdenklich zu einer nahe gelegenen Kommode, auf der eine Karaffe und mehrere Gläser standen.
»Ich habe Ihnen ja noch gar nichts zu trinken angeboten.« Bryant goss zwei Gläser ein. Eines davon reichte er dem Bankdirektor. »Ein vorzüglicher Sherry. Da können Sie doch nicht nein sagen, Sir Arnold.«
Der Wetter stand auf und hielt die Hände abwehrend vor sich.
»Ich fürchte ich muss dennoch ablehnen, Doktor.«
Bryant lächelte verschmitzt und hielt ihm dann das andere Glas hin.
»Sie können natürlich auch meines haben.«
Doch Sir Arnold wendete sich zum Gehen. Enttäuscht stellte Bryant die Gläser wieder ab.
»Es tut mir leid. Aber ich werde sicher nicht den Fehler meiner jungen Kollegen machen und von einem verbrecherischen Arzt irgendein Getränk annehmen. Entschuldigen Sie mich.«
Mit diesen Worten ging der Wetter zur Tür. Doch noch ehe er sie richtig aufgestoßen hatte spürte er einen harten, dumpfen Schlag auf seinen Kopf niedergehen. Schwärze umfing seine Gedanken und er sackte leblos zu Boden.
 



 
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