die letzten nachrichten des tages

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
die letzten nachrichten des tages


wir senden die letzten nachrichten des tages
und der nacht
im tag versteckt:

immer neu erglänzt die wirklichkeit
und unvergleichlich und undenkbar wirft der augenblick
dir seine fragen vor
was gilt dir da vergangenheit
und was vermag ein plan in fremden welten
da nun der tag zu ende geht und seine letzte antwort
der schlaf
dich sättigt und dein blindes fragen
zerträumt?

war tags er noch ein glitzertropfen
in den gedanken der berauschten dichter
ein abglanz pubertärer selbstsucht
sog nach gestern in den süszen tod

so reitet jetzt in seinem mosaik mit wein bekränzt
dionysos als perserprinz auf einem wilden tiger
blut und parfüm umflossen in mäandern dem wahnsinn zu
einander durchdringendes hin und her hellblau und rot
braungoldner kampf und sieg der jungen kraft umgleiten stets

im alten spiel von schlinggewächs
und regenbogen schlangenhaut
dies schwarze auge nacht

glanz und stumpfer samt verborgen in dem stolzen blick
der dich mit sanfter macht durchbohrt
und tigeraugenweich
um deine seele einen bann von traum und staunen zieht
mit einem ring aus deinen eingeschmolznen tagen
der sterne iris

blüht ein perlmuttkreis in bleichem glanz
um deinen schwarzen schlaf
dein letztes glück
 

Scal

Mitglied
Ein großartiger lyrischer Dämmerungsvollzug!
Bei "undenkbar wirft der augenblick / dir seine Fragen vor" stutzte ich insofern etwas, weil undenkbar zugleich auf die Anwesenheit des Denkens verweist.
"Undurchdenkbar" die heranpulsierenden und mäandernden Frageaugenblicke ...
Wunderbare Lyrik!

LG
Scal
 

Mimi

Mitglied
Hallo Hansz,
also ich war wirklich überrascht... ist das wirklich ein Mondnein-Gedicht ?...
Ja, es ist in der Tat ein pulsierendes Stück Lyrik und es gefällt mir besonders gut.

Grüße
Mimi
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ja, danke Scal, danke Mimi,

dieses und auch das andere namens "theseus in dionysischem wahn", diese beiden Gedichte stammen aus den Siebziger Jahren, vielleicht war ich noch Schüler, vielleicht schon Zivi.

Ich stehe ihnen heute kritisch gegenüber. Sie sind zu pathetisch. Und spielen zugleich im Unkonkreten, im Innenwelt-Seelischen, in poetischen Worthülsen ohne außenweltlich aufkeimende Samenkerne.

Nun ja, ich habe vor zwei Jahren mal die Samen meiner himmelblauen Kaiserwinden eingesammelt, habe sie enthülst, deren Hülsen und noch einige kümmerliche Reste dann in einen großen Pott am Balkongeländer geworfen, und sieh da: es sproßten mehr Ranken aus dem Abfall hervor als aus der bewußt gesetzten Auslese.

grusz, hansz
 

Tula

Mitglied
Hallo Hansz
Diese Art von Pathos ist aber angenehm, weil er nicht verkrampft, sondern sogar leicht selbst-ironisch wirkt

... ein glitzertropfen
in den gedanken der berauschten dichter
ein abglanz pubertärer selbstsucht


LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Und natürlich ist es dann Sprachmusik, und das heißt: Das Schwergewicht liegt in der Dynamik, im Schwung, in der exzentrischen Schleuder des hyperbolischen Pathos.

Ich habe eben ein wenig über Pollock nachgelesen, weil ich vom Film "The accountant" so fasziniert war. Jetzt sehe ich lauter Pollock in den Sprachschlieren.
 



 
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