Die Liebe der Evelyn D.

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flammarion

Foren-Redakteur
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1. Kapitel

Es war sechs Uhr morgens. Freundlich lächelte die Sonne auf die Welt, hinein in ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer der Privatklinik eines berühmten Professors, in welcher die zwanzigjährige Evelyn sich von einem lästigen Übel befreien lassen wollte.
Sie war freudig erregt. HEUTE, so sagte der Professor, würden die Verbände abgenommen werden. HEUTE würde sie erfahren, ob die scheußlichen Warzen wenigstens von ihrem Gesicht und ihren Händen verschwunden waren. Und sie bemühte sich vergeblich, ruhig zu bleiben.
Sieben Uhr. Visite. Der Professor versprach, um neun die Verbände abzunehmen.
Acht Uhr. Frühstück. Evelyn bekam keinen Bissen herunter; sie trank nur eine Tasse Tee. "Teetrinken und abwarten", dachte sie belustigt.
Neun Uhr. Endlich! Vorsichtig löste der Professor Schicht für Schicht des dicken Verbandes von Evelyns Händen und vom Gesicht. Er sah sehr besorgt aus, doch Evelyn hielt die bläulichen Narben an ihren Händen für ganz normal, sie war schließlich operiert worden, da bleiben nun einmal Narben zurück. Sie werden vergehen, dachte sie hoffnungsfroh, und sie werden längst nicht so abstoßend wirken wie die Warzen. Der Professor betupfte die Narben vorsichtig mit einer scharfen Flüssigkeit, und Evelyn hörte ihn sagen, dass sie sehr tapfer sei. Sie begriff atemlos, dass die Operation misslungen ist. Sie betrachtete unablässig ihre Hände und versuchte sich einzureden, dass man die Narben eines Tages überhaupt nicht mehr sehen werde. Ihr Gesicht konnte doch kaum anders aussehen als ihre Hände. Warum nur hatte der Professor angeordnet, dass es wieder verbunden wird? Sollte wirklich alles umsonst gewesen sein? Sie zergrübelte den Rest des Vormittags.
Am Mittag ignorierte sie den Hasenbraten und ass appetitlos nur das Kompott, obwohl es sich hierbei um ihre Lieblingsspeise - süße Birnen mit heißer Schokoladensoße - handelte.
Nachmittags kam ihre langjährige Freundin Martina zu Besuch und überredete sie, im Park spazieren zu gehen, denn es war ein herrlicher Sommertag und es käme einer Sünde gleich, im Zimmer zu bleiben.
Evelyn nahm die Umwelt nur wie durch einen Schleier wahr. Die Stimme ihrer Freundin drang wie durch Watte zu ihr, obwohl sie ebenfalls der Meinung war, dass die Narben sich wie alle Narben verwachsen würden und dass das Gesicht kaum schlimmer aussehen konnte als vorher. Die Freundinnen waren einhellig der Meinung, dass Narben niemals so abstoßend wirken wie Warzen und dass sich der Professor wahrscheinlich nur darüber ärgerte, dass überhaupt Narben blieben. Dennoch - trotz der munteren Unterhaltung mit der Freundin - konnte Evelyn sich des Eindrucks nicht erwehren, dass etwas Unheimliches auf sie zu kam.

2. Kapitel

Der erste warme Sommertag des Jahres war zufällig der Sonntag, an welchem Sabine von Barkhausen ihren zehnten Geburtstag feierte. Wie es sich für einen zehnten Geburtstag gehörte, gab es ein großes Fest. Herr von Barkhausen hatte alle Verwandte und Freunde mit ihren Kindern eingeladen, den Geburtstag seiner einzigen Tochter festlich zu begehen. Während die Erwachsenen sich bei Sekt und Kaviar über einige für sie hochinteressante Belanglosigkeiten unterhielten, tollten die Kinder in Haus und Garten herum. Niemandem kam es in den Sinn, die Kinder direkt zu beaufsichtigen. Daher konnten sich unbemerkt drei Knaben in das obere Stockwerk schleichen, wo sich ein Kaminzimmer befand. Die jungen Helden wollten gern wie Indianer an einem Lagerfeuer sitzen, aber sie wussten, dass solches nicht im Garten gestattet werden würde. Wozu taugt ein Kamin im Sommer? Für ein Lagerfeuer natürlich!
Plötzlich erblickte einer der Geburtstagsgäste Rauchschwaden im Fenster des Kaminzimmers und schrie: "Feuer! Feuer!" Frau Dankwart hatte kurz vorher ihre Tochter Evelyn in das Haus laufen sehen und lief nun ebenfalls hinein, um sie gegebenenfalls aus der Gefahr zu retten. Die besorgte Mutter wusste nicht, dass die kleine Evelyn sogleich zum Hinterausgang wieder hinausgelaufen war, und eilte die Treppe hinauf. Die Tür zum Kaminzimmer war leicht zu finden anhand der Rauchschwaden, die aus allen Ritzen drangen. Vor Frau Dankwart lief einer der Butler der Barkhausens mit einem Feuerlöscher. Er riss die Tür des Brandzimmers auf und setzte den Feuerlöscher in Betrieb. Frau Dankwart drängte sich an ihm vorbei und stürzte ins Zimmer, den Namen der geliebten Tochter auf den Lippen. Sie hörte ein heiseres Krächzen zu ihren Füßen und fand einen der drei unfreiwilligen Brandstifter. Sie hob das Kind auf und trug es zur Tür, wo es ihr von einem kräftigen jungen Mann abgenommen wurde.
Sie warf sich erneut in die Flammen, denn sie war überzeugt davon, dass da zwei Stimmen gekrächzt hatten. Sie suchte und fand tatsächlich auch noch einen zweiten Jungen. Sie trug auch ihn zur Treppe und war froh, dass der kleine Dicke ihr dort ebenfalls sogleich von einem hilfsbereiten jungen Mann abgenommen wurde, denn ihre ganze Sorge galt doch ihrer vermissten Tochter.
Inzwischen hatten sich auch andere Leute in das Brandzimmer gewagt und den dritten Jungen gefunden. Es wurde definitiv festgestellt, dass sich kein Kind mehr im Zimmer befand, doch Frau Dankwart war wie von Sinnen, sie hatte doch ihre Tochter ins Haus laufen sehen! Sie musste mit Gewalt aus dem Zimmer geführt werden. Als sie dann im Garten ihre Tochter wohlbehalten an der Hand des Vaters stehen sah, fiel sie in eine wohltätige Ohnmacht.
Sie hatte unzählige Brandwunden davongetragen, nur die Sorge um die Tochter hatte sie so lange aufrecht gehalten. Nun sie das Mädchen gesund und munter wusste, war alles gut. Mit einem Aufschrei stürzte Herr Dankwart zu der am Boden liegenden und kniete fassunglos neben der Schwerverletzten. Evelyn begriff erst am Abend, dass dieses furchterregende schwarze Gespenst ihre Mutter war. Der armen Frau war soviel Haut verbrannt, dass sie noch in der Nacht ihren Verletzungen erlag. In dieser Nacht hatte Evelyn schweres Fieber. Jetzt erst wirkte sich der Schock mit aller Macht auf das kleine Mädchen aus. Als nach einigen Tagen alles überstanden zu sein schien, begannen die hässlichen schwarzen Warzen zu wachsen. Überall an dem zarten Kinderkörper wucherten kleine schwarze Warzen. Sie verunstalteten auch das Gesicht. Aber ein fünfjähriges Mädchen schaut nicht oft in den Spiegel. Evelyn wurde ihr Aussehen erst als Teenager bewusst, als ein Schulkamerad eine abfällige Bemerkung machte.

3. Kapitel

Indes, nachdem sie den Tod der Mutter verwunden hatte, wurde sie ein ausgeglichenes, fröhliches Mädelchen, lernte zeichnen und Klavier spielen und war so der Sonnenschein ihres Vaters, der allerdings den Tod der geliebten Frau niemals verwinden konnte. Er betäubte seinen Schmerz mit rastloser Arbeit, sodaß er bald zu den drei reichsten Männern des Landes gezählt werden konnte. Diesem Reichtum und ihrem herzlichen Wesen sicherte der fast erwachsenen Evelyn einen umfangreichen Bekanntenkreis aus den angesehensten Familien der Stadt. Nur einen Freund, einen zukünftigen Ehemann, konnte sie nicht finden.
Nach der Verlobung ihrer besten Freundin schüttete ihr Evelyn eines Tages dann ihr Herz aus. Die Freundin versuchte, sie zu trösten, so gut sie konnte, dass sie nämlich bei ihrem Reichtum mit Sicherheit bald einen Mann finden würde. Aber Evelyn erwiderte: "Einen Mann ja, aber ob er mich auch liebt?" Und ob dieses Zweifels unterzog sie sich einer Operation, die wenigstens ihr Gesicht und ihre Hände von den scheußlichen Warzen befreien sollte. Die Warzen wurden auch restlos entfernt, aber an den Narben wuchsen Wucherungen, denen mit keinem Mittel beizukommen war. Evelyn wurde unansehnlicher als je zuvor. Nur ihr Mund war verschont geblieben. Sie gewöhnte sich an, eine große dunkle Brille zu tragen, verdeckte die Stirn mit einer modischen Ponyfrisur und versuchte, das restliche Gesicht hinter einem Seidenschal zu verbergen. An Spiegeln ging sie sehr schnell vorüber. Entspannung fand sie nur auf einsamen, ausgedehnten Waldspaziergängen, beim Klavierspielen und beim Malen.

4. Kapitel

Der alte Graf wankte durch die Halle. Die Haushälterin fragte sich: "Ist er nur betrunken oder ist es etwas Ernstes?" Sie kochte sicherheitshalber eine starke Tasse Kaffee und trug sie in das Zimmer des Herrn Grafen. Er saß apathisch in seinem Sessel und reagierte nicht auf die Anwesenheit der besorgten Frau.
Am nächsten Tag wurde das Mobiliar für den Verkauf aussortiert und der Graf bezog mit seinem Sohn eine Mietwohnung in der Stadt. Börsenspekulationen hatten auch die letzten Reste der gräflichen Finanzen aufgezehrt. Nun mussten sie beide von dem Gehalt leben, das der junge Graf bei der Firma Dankwart bezog. Der alte Graf hatte außer Tennis, Golf und Kartenspielen nichts gelernt und beschwor seinen Sohn, recht bald eine reiche Frau zu heiraten, damit der alte Edelmann seinen Verpflichtungen weiterhin nachkommen könnte, die ihm aus seinen diversen Geschäften am Rande der Legalität erwuchsen.
Die Gräfin, die den einzigen Familienspross streng katholisch erzogen hatte, war vor drei Jahren gestorben aus Gram und Verzweiflung über den Lebenswandel ihres Gatten, der sein Erbe so wenig für den Sohn zu bewahren wusste. Deshalb hatte sie darauf gedrungen, dass der Junge studierte, damit er später selbst für seinen Unterhalt sorgen konnte.
Doch nun musste er auch noch für seinen Vater und dessen Schulden aufkommen. Er arbeitete wie besessen, denn er wollte keine Ehe ohne Liebe eingehen. Die reichen Damen, die der Vater ihm nannte, interessierten ihn nicht im geringsten. Es war kein Mädchen nach seinem Herzen dabei.
Eines Tages sagte der alte Graf in aller Schonungslosigkeit: "Hör mal zu, mein Lieber, es wird jetzt wirklich allerhöchste Zeit, dass du heiratest. Das wenige, das du mit deiner Arbeit verdienst, reicht nicht hinten und nicht vorn. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso du jeder Damenbekanntschaft aus dem Weg gehst! Du bist jung, gebildet und gut gewachsen, was will eine Frau mehr? Die Tochter deines Brotherrn z.B. ist so hässlich, dass sie ihrem Schöpfer auf Knien danken müsste, wenn sie einen Mann wie dich bekommen könnte! Und sie hat zehn Millionen Mitgift! Zehn Millionen! Da musst du dich sogar noch beeilen, wenn du die haben willst, denn bei solch einer Summe gibt es bestimmt etliche Bewerber, denen das Aussehen der Braut völlig egal ist! Bei der Trauung ist sie verschleiert und später kann man ihr aus dem Weg gehen, wenn man sie erst mal sicher zu Hause hat und über das Geld verfügen kann. Sieh zu, dass du sie schnappst, und möglichst gestern, denn sonst sehe ich schwarz für dich und deine Zukunft, unsere Geldreserven sind endgültig erschöpft!"
Bernhard von Brockingen war entsetzt über den Zynismus seines Vaters. So kannte er ihn gar nicht! "Wie die Not doch einen Menschen verwandeln kann!", dachte er erstaunt. Und dann voller Zorn: "Daran bist du selbst Schuld mit deinen Spielen und unsicheren Geschäften, mein lieber Herr Vater!" Aber er entgegnete nichts. Es war ihm zu entwürdigend. Er wollte lieber versuchen, mit seinen fundierten Kenntnissen und Gottes Hilfe durch unermüdliche Arbeit sich und seinen Vater ehrlich durchs Leben zu bringen. Er war schon froh, dass sein Vater kein Trinker war und sich auch nicht mit leichtsinnigen Mädchen umgab.
Irgendein Mädchen zu heiraten, nur weil es reich war, das widerstrebte ihm zutiefst. Er empfand das für beide Beteiligten als ungerecht und entwürdigend, als einen unmenschlichen Akt aus vergangener Zeit. Er hatte die Tochter seines Chefs einmal flüchtig gesehen bei einem ihrer höchst seltenen Besuche in der Firma und wusste somit, dass sie ein äußerst bedauernswertes Geschöpf war. Sollte sich ruhig ein anderer an den Millionen laben! Er wollte auf die Frau warten, die er von ganzem Herzen lieben könnte. Er konnte nicht ahnen, daß sich Evelyn bei dieser flüchtigen Gelegenheit unsterblich in ihn verliebt hatte . . .

5. Kapitel

Evelyn verließ fröhlich das Böro ihres Vaters. Es war ihr gelungen, ihn dazu zu übereden, den alten, inzwischen völlig verwilderten Stadtpark auf Firmenkosten umgestalten zu lassen. Sie hatte die Entwürfe mehrerer angesehener Umweltplaner in der Tasche. Ihr Vater hatte den nach seiner Meinung günstigsten abgesegnet. Evelyn hatte sich verpflichtet, den Fortgang der Arbeiten und die Verwendung der Gelder genauestens zu überwachen. Herr Dankwart kannte die Zuverlässigkeit seiner Tochter und wusste somit, dass die Stadt binnen kurzem eine neue Augenweide haben wird.
Beschwingt durch den Erfolg und die Aussicht auf eine ebenso freudvolle wie allgemeinnützige Arbeit durchmaß sie den Korridor, doch dann verlangsamte sie unwillkürlich ihren Schritt. Wer kam ihr da entgegen? Wer war dieser gutaussehende junge Mann? Natürlich kannte sie nicht sämtliche Mitarbeiter der Firma, aber zumindest doch diejenigen, die sich in der Chefetage tummelten. Sie starrte ihn unverwandt an und erkannte: Das ist ER! Das ist der Mann, für den sie in diese Welt hineingeboren worden war! Der Mann, der ihre Bestimmung ist! Sie erwiderte mechanisch seinen korrekten Gruß und ließ ihn vorübergehen, ganz benommen von der schicksalhaften Begegnung. Die viel gepriesene Liebe auf den ersten Blick. Wem begegnet sie schon? Und wieviele halten das, was sie empfinden, anfangs für dieses märchenhafte Gefühl, bis sie einem anderen Partner begegnen . . .
Für Bernhard war es eine Nichtigkeit, für sie aber war es der Wendepunkt ihres Lebens. Sie war inzwischen vierundzwanzig Jahre alt und emanzipiert genug, um durch einen Privatdetektiv alles in Erfahrung zu bringen, was es über die von Brockingens zu erfahren gab. Sie war voller Bewunderung für den strebsamen und gutaussehenden jungen Mann, der so tapfer und edel für sich und seinen Vater sorgte. Ihre Gedanken kreisten von nun an unablässig um ihn und seine Sorgen, aber sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie ihm unauffällig helfen könnte, sie war nun mal leider keine gute Fee, sondern nur ein Mensch aus Fleisch und Blut.

6. Kapitel

Eines Tages kam ein langgedienter Ingenieur zu Bernhard von Brockingen ins Büro und sagte: "Es ist leider so, dass ich nun aus gesundheitlichen Gründen aus dem Arbeitsprozess ausscheiden muß. Mein Arzt erlaubt es mir nicht länger, zu arbeiten. Ich habe meinen Schreibtisch bereits geräumt. Aber vor einiger Zeit hatte ich Ihrem Vorgänger eine Mappe gegeben mit der Beschreibung eines neuen Produktionsverfahrens. Da es hier nicht angewendet wird, bitte ich um die Rückgabe meines geistigen Eigentums. Vielleicht kann ich es anderweitig veräußern, um die knappe Invalidenrente ein wenig aufzubessern." Bernhard von Brockingen öffnete den Aktenschrank und fragte nach dem Aussehen der Mappe. Der Ingenieur beschrieb sie eingehend, doch sie war unauffindbar. Von Brockingen versprach, nach der Mappe zu forschen und sie unverzüglich zuzusenden. Damit gab sich der Ingenieur zufrieden und ging.
Nach Feierabend räumte von Brockingen den Schrank völlig aus, sortierte alles neu ein, wendete jedes Blatt und fand die Mappe nicht. Sein Vorgänger war ihm als leicht senil in Erinnerung, er traute ihm nicht zu, die Mappe veruntreut zu haben, er konnte sie nur vergessen haben, irgendwo abgelegt und vergessen. Er versuchte, sich in die Logik seines Vorgängers hineinzuversetzen: Wo bewahrt man etwas Wichtiges auf? Im Panzerschrank! Er öffnete den selten benutzten Safe und da lag die Mappe, schon leicht angestaubt, im untersten Fach.
Nun er soviel Mühe aufgewendet hatte, das Dokument zu finden, wollte er auch wissen, was es enthielt. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, las die Unterlagen gründlich durch und stellte fest, daß dieses neue Produktionsverfahren der Firma einen enormen Profit bringen würde bei geringstem Kostenaufwand, denn der Ingenieur hatte jede auch noch so kleine Veränderung bereits standortgenau durchgerechnet.
Diese Erkenntnis verschaffte von Brockingen eine unruhige Nacht. Er spielte mit dem Gedanken, sich selbst als Autor auszugeben und die Dividende für die hervorragende Verbesserung einzustecken. Am nächsten Morgen war er wie zerschlagen. Er ließ sich einen Termin bei Herrn Dankwart geben, legte die Mappe des Ingenieurs vor, erläuterte alle Einzelheiten und freute sich über die Flexibilität des alten Firmenchefs, der sofort alle Vorteile erkannte und das Verfahren lieber heute als morgen in seiner Firma angewendet sehen wollte. Als Herr Dankwart ihm zu dem Geistesblitz beglückwünschen wollte, blieb er bei der Wahrheit und nannte den alten Ingenieur als Autor. Herr Dankwart wunderte sich laut darüber, daß ihm dieser phantastische Verbesserungsvorschlag nicht schon bei seiner Einreichung bekannt gemacht wurde und in Gedanken über die Korrektheit und Loyalität des von Brockingen. Wieviele Leute hätten in dieser Situation ganz anders gehandelt, um zu Geld und Ansehen zu gelangen!
Am anderen Tag suchte Herr Dankwart selbstpersönlich den alten Ingenieur auf, um ihm für seine langjährige gute Mitarbeit zu danken und ihm seine Erfindung für eine Summe abzukaufen, die ihm eine ausreichende Altersversorgung sicherte.
Am Abend erzählte er dann in bester Laune bei einem Glase guten Weines seiner Tochter von diesem hervorragenden Mitarbeiter, der der Firma schon während seiner relativ kurzen Beschäftigungsdauer so viel Nutzen gebracht hat. "Ich weiss überhaupt gar nicht, wie ich dem Mann danken soll", sagte Herr Dankwart überschwenglich. "Lohnerhöhung hat er schon bekommen - du weißt, das bekommt jeder nach sechs Monaten, als Anreiz, länger zu bleiben in der Hoffnung, dass es alle halbe Jahr Lohnerhöhung gibt oder zumindest doch bei außergewöhnlichen Leistungen - , also, ich kann ihn doch wohl nicht auf Grund seiner absoluten Ehrlichkeit zum Teilhaber machen!"
Herr Dankwart hatte das als Scherz gesagt und kicherte, er wollte seine Tochter endlich einmal wieder lachen sehen. Sie erkannte seine Absicht und zeigte ein inniges, herzliches Lächeln, denn - außerdem - hatte der Mann, den sie liebte, nun auch noch ihren Vater erfreut! Verträumt sagte sie nach einer Weile: "Eigentlich bist du doch wie ein König in der Firma, und im Märchen bekommt der Held immer die Tochter des Königs zur Frau. Frag ihn doch einfach, ob er mich nicht heiraten möchte. Ich bin gewiss, er stimmt dem zu." Herr Dankwart setzte verdutzt sein Glas auf den Tisch. Er wusste nicht, ob er lachen oder schelten sollte. Was war das? Seine Tochter neigte doch sonst nicht zu Caprizen! Er fragte vorsichtig: "Meinst du das ehrlich, Kind?" Auch Evelyn stellte ihr Glas ab, sah ihrem Vater direkt in die Augen und sagte mit heiligem Ernst: "Ja, Vater!"
Sie war selbst erschrocken über ihren Mut, aber dies war die einzig reale Möglichkeit, den jungen Mann aus seinen finanziellen Schwierigkeiten zu erlösen und die schönste Gelegenheit für sie selbst, glücklich zu werden!
Herr Dankwart überlegte sich am anderen Tag sehr genau, in welche Worte er die Werbung seiner Tochter kleidete, dennoch bat von Brockingen sich Bedenkzeit aus, wofür der Vater volles Verständnis zeigte.
Am Abend jedoch machte der alte Graf seinem Sohn die Hölle heiß wie nie zuvor. Bernhard begriff mit Schrecken, daß sie in den nächsten Tagen sogar diese schäbige Mietwohnung verlieren würden, wenn nicht von irgendwoher Geld kommen würde, viel Geld!
Er verfluchte seinen Vater innerlich, aber es war sein Vater, und er bemitleidete ihn dafür, daß er es nicht verstanden hatte, zu leben wie ein gewöhnlicher Mensch. In dieser Zeit, wo ein Graf nicht mehr als alle anderen Bürger galt, war es beschämend, daß er nichts weiter konnte als spekulieren und Karten spielen. Nun war ihre Lage so prekär, daß es auch nichts mehr genützt hätte, wenn der alte Graf irgendwo irgendeine Arbeit gefunden hätte. Es kam jetzt nur auf eine große Summe Geldes an, um sie vor dem absoluten Abstieg zu erretten. Auf Fortuna zu hoffen, hatte nun selbst der alte Graf aufgegeben, denn die Glücksgöttin hatte ihn ja all die vielen Jahre stets ignoriert. Also vereinbarte Bernhard von Brockingen für den übernächsten Tag ein Rendezvous mit der Erbin der Dankwart-Werke, um die Ernsthaftigkeit des Antrags zu prüfen. Es war der letzte Strohhalm, den es zu ergreifen galt. Bernhard verabscheute sich selbst bei diesem Gedanken, aber wenn das Mädchen selbst es wollte - warum sollte er dann zögern? Wenn sie bereit war, ohne Liebe zu heiraten . . . Er konnte nicht anders, er wurde von den Umständen gezwungen. Er war in der größten Verlegenheit, was er mit dem Mädchen reden sollte, aber sie mußten einen Konsens finden. Er vertraute insgeheim auf sie, auf ihre Intelligenz, auf ihr Herz. Sie hatte die entscheidende Frage gestellt, sie sollte nun auch wissen, wie es weitergehen soll.

7. Kapitel

Die vereinbarte Stunde war nahe. Bernhard von Brockingen besaß nur den Anzug, den er täglich trug. Der einzige Luxus, den er sich hatte leisten können, war eine moderne Krawat-te. Er band sie um und dachte: "Hoffentlich hat sie nicht ausgerechnet heute so ein übertrieben luxuriöses Kleid an! Hoffentlich ist sie nicht mit Schmuck beladen wie ein Weihnachtsbaum! Hässliche Frauen versuchen doch auf diese Weise einen Ausgleich zu schaffen . . . Hoffentlich benimmt sie sich nicht wie eine Glucke, die ihr Kücken ausführt! Hoffentlich hat sie nicht wie fast alle reichen Dämchen nur Stroh im Kopf!" Mit gemischten Gefühlen ging er zu dem Treffpunkt, einen Strauß Rosen unterschiedlicher Färbung in der Hand.
Evelyn war den ganzen Tag über das reinste Wechselfieber. Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt verunsicherte sie das gesamte Personal. Am Abend vor dem Rendezvous nahm sie ein starkes Schlafmittel, weil sie fürchtete, unausgeruht dem Mann ihres Lebens gegenübertreten zu müssen. Es half nicht viel. Sie war vom frühen Morgen an hoch erregt, kleidete sich mehrfach um und entschied sich letztendlich für ein schlichtes, schwarzes, durchgeknöpftes Kleid mit Stehkragen. Dazu trug sie ihre üblichen schwarzen Strümpfe und flache schwarze Schuhe. Sie frisierte ihr glänzendes, kastanienbraunes Haar sorgfältig und ging klopfenden Herzens und mit weichen Knien zu diesem Date, das sie stets ersehnt, doch nie für möglich gehalten hatte.
Er begrüßte sie mit einem Handkuß und übergab ihr den Rosenstrauß. Sie bekam vor Aufregung kein Wort heraus. Es war so traumhaft schön, neben ihm zu gehen, ihm so nahe zu sein!, daß es ihr fast den Atem nahm. Sie schritt wie auf Wolken, in steter Versuchung, den Blick tief in seine Augen zu senken, die Arme um seinen Nacken zu schlingen und den geliebten Mann ihren bebenden Körper spüren zu lassen. Sie bezwang sich und ließ sich von ihm zu einem gemütlichen Gartenlokal führen, wo bei einem Glase Wein alles in Ruhe beredet werden konnte.
Bernhard von Brockingen schämte sich außerordentlich, aber es half ja alles nichts, diese Frau war seine einzige Rettung. Er spürte, daß sie ihn wahrhaft liebte, aber das machte die Sache durchaus nicht leichter. Er war nur froh, daß ihm niemand den Vorwurf der Verführung machen konnte. So fasste er sich endlich ein Herz und begann die Unterredung: "Gnädiges Fräulein, Ihr Herr Vater meinte, dass ich es wagen darf, um Ihre Hand anzuhalten. Das möchte ich natürlich nicht tun, ohne zuvor mit Ihnen darüber geredet zu haben. Ist es wirklich in Ihrem Sinne, meine Frau zu werden?" Evelyn errötete leicht und sprach: "Dieses Gespräch halte auch ich für sehr wichtig, denn ich möchte, dass wir in Harmonie miteinander leben. Wenn wir jetzt also feststellen, dass wir keine gemeinsamen Interessen haben, dann möchte ich wenigstens Ihre Interessen kennen, um Ihnen nicht ungewollt Kummer zu bereiten." Er betrachtete sie mit großem Ernst und fragte: "Sie sind also fest entschlossen, mich zu heiraten? Darf ich fragen, warum?" Sie lächelte und errrötete zutiefst, dann sagte sie leise: "Vielleicht ist es gar nicht so gut, wenn ich jetzt einfach ganz ehrlich sage, dass ich Sie liebe . . . aus tiefstem Herzen liebe!"
Er hatte seit wenigen Minuten diese Antwort befürchtet, jedoch nicht damit gerechnet, dass sie ihn derart treffen würde. Dieses Mädchen empfand bereits das, wonach er in seinem Herzen noch suchte. Er dachte an die Worte seiner alten Tante, dass Gewöhnung in der Ehe Liebe zeugen kann. Aber darauf würde Evelyn wohl lange warten müssen, denn vorerst empfand er nicht mehr als Mitleid mit diesem unansehnlichen Geschöpf, das ihn hier mit großen blanken Kinderaugen anhimmelte.
Der Ober kam mit dem Wein und enthob Bernhard so der Gegenrede. Als die Gläser vollgeschenkt waren, schlug er Evelyn vor, auf "Du" zu trinken. Sie nannten einander ihre Vornamen (den Konventionen folgend und nicht, weil es nötig gewesen wäre, jeder in der Firma wusste, dass die Tochter des Chefs Evelyn hieß, und Evelyn hatte, nachdem sie Bernhard zum erstenmal sah, nichts Eiligeres zu tun, als seinen Namen in Erfahrung zu bringen). Bernhard legte einen Arm um ihre schmalen Schultern. Sie schloss selig die Augen und empfing den ersten Kuss von einem Menschen, der nicht zu ihrer Familie gehörte, von einem Menschen, der erst durch sie zur Familie gehören wird.
Ein heißer Schauer überrieselte sie. Die ganze Welt versank um sie her, es gab nur noch diesen Mann, den sie jetzt Bernhard nennen durfte, der ihr Rosen geschenkt hatte, der sie geküsst hatte und den sie heiraten wird, sobald als möglich. Auch Bernhard war ein wenig verwirrt, so hatte sie Zeit, die Situation voll auszukosten. Dann redeten sie über alles mögliche, und Bernhard bemerkte dabei mit großer Befriedigung, dass ihr Horizont weit über den der gewöhnlichen Frauen hinausreichte. So konnte er hoffen, als Ehemann nicht mit sämtlichem häuslichen Kleinkram belästigt zu werden. Er konnte wohl in dieser Ehe ruhigen Gemüts in die Zukunft blicken.
Seine ehemaligen Teeny-Freundinnen hatten ihm stets zu erkennen gegeben, dass sie vor Stolz platzen würden, wenn sie eines Tages den stolzen Namen "von Brockingen" tragen dürften, Evelyn aber gab ihm das Gefühl, dass sie ihn auch dann heiraten würde, wenn sie dadurch den unmöglichsten Namen der Welt bekäme.

8. Kapitel

Sie trug ein traumhaft schönes, knöchellanges weißes Musselinkleid mit langem weißen Schleier, der auch ihr Gesicht verhüllte. Sie verzichtete auf jeglichen Schmuck und trug nur den Hochzeitsstrauß aus fünfundzwanzig glutroten Rosen. Sie war die glücklichste Braut, die je in der St. Nikolaus-Kirche kniete. Sie sprach die Hochzeitsformel mit klarer Stimme und empfing mit selig geschlossenen Augen den zarten Kuss des ernsten Mannes, den sie während der letzten vier Wochen völlig neu einkleiden ließ, ohne dabei seine Gefühle zu verletzen.
Heute trug er einen schwarzen Anzug aus gutem Stoff, denn einen Smoking wollte er nicht. Dieses Kleidungsstück repräsentierte in seinen Augen eine vergangene Epoche, die man im Sinne der Menschlichkeit besser nicht restaurieren sollte.
Auf der prunkvollen Hochzeitsfeier im Hause der Dankwarts tanzte er fast ausschließlich nur mit der Braut, die darüber sehr glücklich war.
Es war ein schönes, harmonisches Hochzeitsfest. Das junge Paar erhielt unzählige wertvolle Geschenke. Der alte Graf konnte sich kaum sattsehen an der Pracht und träumte davon, daß auch er in der riesigen Dankwart-Villa würde wohnen können.
Ganz aus dem Häuschen geriet er aber am nächsten Tag, als sein Sohn ihm eröffnete, daß er bereits über die Hälfte der Millionenmitgift verfügen durfte. Er hatte sie sogar als Bargeld bei sich. Sogleich teilte der Graf das Geld in viele kleine Häufchen und adressierte sie an seine Schuldner. Fassungslos konstatierte der Sohn, daß nur wenige Geldstücke übrig blieben. Er ging in sein Büro, der Vater aber trug seine Schulden aus.
Als er alle Wege erledigt hatte und endlich als schuldenfreier Ehrenmann in den Spiegel schauen konnte, war er so wacklig auf den Beinen und fühlte sich so schlapp, dass er beschloß, sich zu Bett zu begeben. All die Aufregungen waren zuviel gewesen, erst diese Hochzeit, an deren Zustandekommen er schon nicht mehr geglaubt hatte, da er die Einstellung seines Sohnes zur Genüge kannte, und das Hochzeitsmahl war so gut und reichhaltig gewesen, dass er sich den Wanst vollgeschlagen hatte wie nie zuvor, und nun auch noch das viele Geld, das ihn schuldenfrei machte und ihm womöglich noch ein sorgenfreies Auskommen sicherte! Er ließ sich zum Auskleiden in einen Sessel sinken und wunderte sich, dass ihn statt des erwarteten Glücksgefühls plötzlich Beklemmungen und Atemnot befielen. Früher hätte er in ähnlicher Situation nach dem Personal geklingelt, aber in dieser schäbigen Mietwohnung hatte er keines.
Er durchlebte noch einmal alle Situationen, wie er im Laufe des Tages - Zick! alle seine Gläubiger befriedigt hatte, alle diese üblen Gestalten, die schon nicht mehr daran geglaubt hatten, dass er jemals zahlen würde - oh, diese Gesichter auf Briefmarken, und die Post geht pleite! Statt des fröhlichen Lachens, das er an dieser Stelle gern angestimmt hätte, entrang sich seinem Hals nur ein qualvolles Krächzen.
Wieder rang er nach Atem. Und es war niemand da, der ihm half. Er versuchte mit allen Mitteln, das Übel zu bekämpfen, aber er konnte nicht einmal ein "Vaterunser" beenden, bevor sein Herz endgültig stillstand. So fand ihn am anderen Morgen die Haushaltshilfe.
Sie verständigte sofort den jungen Grafen, der über diesen Schicksalsschlag in gelinde Verzweiflung gestürzt wurde, denn er glaubte, einen gewissen Zusammenhang zwischen seiner Heirat und dem Tode seines Vaters zu erkennen. Zwischen dem Abwägen: "Wäre dieser Tod durch eine frühere Heirat zu verhindern gewesen" und "Hätte mein Vater bei einer früheren Heirat sein Lotterleben fortgesetzt?" wurde Bernhard noch arbeitssamer und stiller als je zuvor.
Er ließ nur wenige Möbelstücke in die Villa Dankwart überführen, in seinen "goldenen Käfig", wie er das nahezu fürstliche Anwesen in seinem Inneren sarkastisch titulierte. Die Ehe mit dieser ungeliebten Frau erfüllte ihn von Tag zu Tag mit tieferer dumpfer Verzweiflung. Er vergrub sich förmlich in seiner Arbeit und kam jeden Tag sehr spät nach Hause.
Am schlimmsten waren für ihn die Wochenenden. Er wusste schon früher nicht viel mit ihnen anzufangen, jetzt jedoch waren sie völlig unerträglich. Bis Evelyn vorschlug, sonntags dem Gottesdienst beizuwohnen und die Familiengräber zu besuchen. Da war sie dann zwar neben ihm, aber sie achtete sein Schweigen und machte sich so unauffällig wie möglich.

9. Kapitel

Allmählich wurde Evelyn bewusst, dass sie sich mit dem geliebten Mann durchaus nicht auch das große Glück ins Haus geholt hatte. Nach ihrem ersten Rendezvous war sie durch das Haus getänzelt, fröhlich und ausgelassen wie in den glücklichsten Kindertagen. Und das war auch noch viele Tage nach der Hochzeit so. Aber jetzt tat es allmählich weh, daß er selten mit ihr redete, sie kaum ansah und ihr keinerlei Zärtlichkeit gab. Sie hatte zwar durchaus Verständnis dafür, aber nachdem er ihr in der Hochzeitsnacht gezeigt hatte, was Zärtlichkeit ist, sehnte sie sich nach seinen Händen, nach seinen Lippen, nach seiner Nähe! Dass er sich ihr entzog, verursachte ihr großen Schmerz.
Bei der Hochzeit hatte sie sich geschworen, ihn glücklich zu machen, ihm nie zur Last zu fallen, ihm den Alltag zu verschönen und seinen Kindern eine gute Mutter zu sein. Jetzt fürchtete sie, dass nichts davon in Erfüllung gehen würde. Er ließ sich nicht glücklich machen, sie spürte, dass ihre bloße Gegenwart schon eine Last für ihn war, sie hatte kaum Gelegenheit, ihm den Alltag zu verschönern und geschwängert hatte er sie auch nicht. Er achtete sie, und mehr konnte sie nicht erwarten.
Wenn er spätabends nach Hause kam, betrat er ihr gemeinsames Schlafzimmer auf Zehenspitzen, und wenn er frühmorgens aufstand, schlich er sich förmlich aus dem Haus. Sie hatte einen leichten Schlaf und sprang morgens sofort auf, um für sein Frühstück zu sorgen, doch er nahm sich die Muße nicht. Er ließ es einwickeln und nahm es mit ins Büro. Sie fühlte sich wie die Frau eines Trappers und kostete hohnlächelnd das "Abenteuer" aus.
Wenn er heimkehrte, war sie gewöhnlich noch wach und versuchte, ihm Zärtlichkeit zu geben, doch er wies sie stets ab mit dem Bemerken: "Es war ein schwerer Tag heute. Ich bin sehr müde. Lass mich bitte schlafen." Dann zog sie sich traurig und gehorsam auf ihre Seite des Ehebetts zurück und lauschte seinen allmählich ruhiger werdenden, gleichmäßigen Atemzügen.
Wenn er dann fest eingeschlafen war, stand sie häufig auf, um sein edles Gesicht im fahlen Schein des Mondes zu betrachten. In Gedanken bedeckte sie es mit heißen Küssen, und sie hielt ihre Hände hinter ihrem Rücken fest, damit sie nicht ihrer Sehnsucht gehorchten. Mit großer Wehmut betrachtete sie das männlich schöne Antlitz und träumte davon, mehr zu sehen, träumte davon, seinen Leib zu streicheln und mit Küssen zu bedecken . . .
Als er eines Abends wieder einmal sehr spät nach Hause kam, war sie gerade im Begriff, zu Bett zu gehen. Seit langem sah sie ihn mal wieder bei normalem Licht. Die Falten auf seiner Stirn waren tiefer geworden, die Wangen schmaler, die ehemals großen, schönen Augen schmale Schlitze. Der Anblick krampfte ihr Herz zusammen. Fast mechanisch streckte sie die Arme aus, um ihrem Mann beim Auskleiden behilflich zu sein. Bei der Jacke ließ er es noch geschehen, aber als sie ihm das Hemd abstreifen wollte, sagte er: "Das kann ich doch allein." Sie bettelte: "Lass mir doch die Freude, ich bin doch deine Frau . . ." und versuchte, ihm einen Kuss auf die Schulter zu drücken.
Er setzte sich müde auf die Bettkante und zog dann das Unterhemd über den Kopf, warf es den anderen Sachen nach. Als er seine Hose aufknöpfte, spürte er Evelyns zärtliche Hände auf seinem Rücken, was ihn gegen seinen Willen einen seligen Schauer verspüren ließ.
Er stand auf und löschte das Licht. Er meinte, somit signalisiert zu haben, dass er jetzt schlafen will und sich jegliche Störung verbittet. Aber das Licht zu löschen hat - hihi! - noch eine andere Bedeutung! Er zog die Hose aus und spürte sogleich Evelyns suchende Hände. Er sagte den üblichen Satz, der Evelyn sonst immer erfolgreich in die Schranken wies, doch heute war sie damit nicht zu bremsen. Sie bat: "Lass mich doch! Lass mich dich doch ein wenig streicheln! Ich liebe dich! Und wir sind verheiratet! Du bist so schön! Und so gut! Und ich lieb dich so sehr!" Bei diesen Worten war sie, um ihnen Nachdruck zu verleihen, bis an das Fußende der Bettstatt gerutscht, wo sie erschauernd seinen kalten Füßen begegnete. Und schon hatte sie eine neue charitative Idee: "Ich wärm dir deine kalten Füße, mein Liebling. Schlaf nur ruhig ein, schlaf ein, mein Liebling, schlaf! Du bist zu Hause, wo alles gut und schön und friedlich ist, schlaf!" Sie wärmte seine Füße an ihrem Leib und mit ihren Händen und Lippen, und er war zu müde, um sich der wohltätigen Fürsorge zu widersetzen. Als er eingeschlafen war, schmiegte sie sich heiß an seinen Rücken und lag eine Weile still neben ihm, bis sie seines Tiefschlafs gewiß war. Dann ging sie in ihr altes Zimmer, das sie eigentlich als zukünftiges Kinderzimmer geplant hatte, legte sich zu Bett und weinte sich leise in den Schlaf.
Am anderen Tag ordnete sie an, sein Schlafzimmer im anderen Teil des Hauses einzurichten, denn es konnte so nicht weitergehen. Sie hegte den Verdacht, dass er nur deshalb so spät nach Hause kam, um ihr aus dem Weg zu gehen. Aber auf diese Weise ruinierte er seine Gesundheit. Das wollte sie nicht. Wenn sie schon auf alles Schöne verzichten musste, dann sollte doch wenigstens er ausreichend Schlaf bekommen. Ihm gegenüber stellte sie die Sache ganz anders dar. Sie wusste, dass er nur ihr Geld geheiratet hatte und dass sie ihm nichts bedeutete. Sie war ihm dankbar dafür, dass er sie das nicht auch noch fühlen ließ. Er sollte sich nicht durch ihre Liebe und Fürsorge belästigt und geknechtet fühlen. Sie wollte sich nur an seinem Anblick freuen können, wenn sie ihn in ihrem gemeinsamen Wohnsitz sah. So spielte sie ihm also die zornige, einsame, vernachlässigte Ehefrau vor und endete die Tirade mit den berechnenden Worten: "Denke ja nicht, dass ich mich von dir scheiden lasse! Nur der Tod kann uns trennen!"
Bernhard war einigermaßen erstaunt über diesen Ausbruch, war aber froh, die Frau nicht mehr Nacht für Nacht neben sich zu wissen. Er dachte nicht länger darüber nach und kam jetzt tatsächlich früher nach Hause und schlief morgens länger, je nachdem, wie die Belange der Firma es zuließen. Zwei- bis dreimal in der Woche begegnete er seiner Frau am Frühstückstisch. Sie bediente ihn ebenso zuvorkommend wie unauffällig, sprach aber nur das Nötigste mit ihm. Mit Befriedigung stellte sie fest, daß seine Stirn sich allmählich glättete und die Wangen wieder voller wurden. An den Wochenenden zog sie sich in den nahe gelegenen Wald zurück (wenn er nicht eine Dienstreise anzutreten hatte) und fertigte Pastellzeichnungen nach der Natur, das beruhigte ihr Gemüt.
Evelyns Liebe lebte nur noch davon, Bernhard gelegentlich zu sehen. Oft zog sie ihr Tagebuch aus der Lade, um die Rosenblätter von seinem ersten Strauß zu betrachten, die sie gepreßt hatte und sorgfältig aufbewahrte, ebenso wie die Rosenblätter von ihrem Hochzeitsstrauß. Mit wehmütigem Blick streifte sie das große Hochzeitsfoto, auf dem er so ernst in die Kamera blickte, als befände er sich eher auf einer Trauerfeier. Oft und oft hatte sie kleinere und größere Portraits von ihm gezeichnet, die nie ein Lächeln zeigten. Sie hatte ihn noch nie lächeln sehen, geschweige denn lachen hören. Sie bedauerte zutiefst, daß sie ihm nicht mehr geben konnte, dass sie eben leider nicht die Frau war, die ihn glücklich machen könnte. Aber wenn sie daran dachte, dass er sie eines Tages verlassen könnte, daß sie ihn nicht mehr sehen dürfte, seine leise, aber sichere Stimme nicht mehr hören dürfte, traten ihr heiße Tränen in die Augen. Alles, alles wollte sie ertragen, wenn ihr nur seine Gegenwart bliebe.

10. Kapitel

Ihrem Vater gegnüber behauptete sie stets, glücklich zu sein, aber er hatte da so seine Zweifel. Ein glücklicher junger Mensch lief nämlich nicht wie ein Gespenst durch das Haus. Ein glückliches Paar verlebt die Wochenenden gemeinsam und nicht getrennt. Er freute sich nur über den unermüdlichen Arbeitseifer seines Compagnons. Dieser Eifer zeigte ihm, dass seine Tochter keinem Mitgiftjäger zum Opfer gefallen war, sondern sich in einen anständigen, ordentlichen Menschen verliebt hatte. Deshalb war er auch so diskret, niemals dem Verbleib der Mitgift nachzuforschen, zumal er auch bemerken konnte, dass der junge Mann so bescheiden blieb, wie er schon vor der Hochzeit war. Der Junge schien überhaupt keine Ansprüche zu haben und auch keinerlei Vergnügungen nachzugehen!
Herr Dankwart war sehr froh darüber, zu wissen, daß die Dankwart-Werke nach seinem Tode von einem würdigen Nachfolger geführt werden würden. Er dachte jetzt immer häufiger an den Tod, denn mit seiner Diabetes wurde es von Monat zu Monat schlimmer. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie ihn hinwegraffte. Doch zuvor hätte er so gern noch ein Enkelkind auf dem Arm gehabt . . .
Dazu konnte es nicht mehr kommen, denn eine ungenügend desinfizierte Insulinspritze brachte ihm den Tod. Evelyn konnte nicht lange um ihn trauern. Ihr Liebeskummer war größer. Sie war beinahe froh darüber, dass sie ihren Vater nun nicht mehr belügen mußte. Wenn sie aber mit Bernhard am Grabe ihrer Eltern stand, dann nahm sie seine Hand und drückte sie zärtlich. Bernhard wurde nicht aus ihr klug: Liebte sie ihn wie zuvor, trotz der getrennten Betten oder was spielte sie für ein Theater? Er fragte sie lieber nicht. Er war froh, dass sie sich nicht mehr bei ihm anschmiegte wie eine treue Hündin und dass sie ihn nicht mehr zu liebkosen suchte. Er wusste nicht, was es sie kostete, sich so zu beherrschen. Er sah nicht, wie dünn sie geworden war. Er wusste nicht, wie oft sie sich spät in der Nacht zu ihm ins Zimmer schlich, um ihn anzusehen. Nur einmal, als er bereits seit zehn Monaten in diesem nun allein seinem Schlafzimmer schlief, wurde er wach, als sie in seinem Zimmer war. Ihre heiße Sehnsucht hatte sie zu ihm getrieben. Ganz leise war sie eingetreten, ganz leise an sein Bett geschlichen, weil sie sah, daß er tief und fest schlief. Sie sah, daß seine Füße unter der Bettdecke hervorlugten. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und hauchte einen Kuss auf jeden Fuß. Dann bezwang sie sich, erhob sich und deckte seine Füße zu. Davon erwachte er. Sie entschuldigte sich verlegen: "Ich wollte nur sehen, ob du zu Hause bist!" und hoffte, dass er in dem fahlen Mondlicht ihr heftiges Erröten nicht sah. Er erwiderte ebenso schlaftrunken wie sarkastisch: "Wo soll ich denn anders hin?", kehrte ihr den Rücken zu und kämpfte mit der Bettdecke. Es war eine Standardausführung und für Bernhard fünf bis zehn Zentimeter zu kurz.
Am nächsten Tag ließ Evelyn eine neue Bettdecke für ihn anfertigen und tauschte sie gegen die alte aus, nicht ohne sie vorher fest an ihr Herz gedrückt zu haben, in der überspannten Vorstellung, daß er mit der neuen Bettdecke auch die Wärme ihrer Liebe verspüren würde. Seine alte Bettdecke legte sie - leicht zusammengerollt - in ihr Bett und umarmte sie des nachts. Sie bedeckte das Federkissen mit Küssen und netzte es mit ihren Tränen. Oft und immer wieder stellte sie sich vor, statt des Federbetts ihren geliebten Bernhard im Arm zu halten, sich bei ihm anzuschmiegen und seinen Hals, seinen Rücken und seine breiten Schultern mit heißen Küssen zu bedecken. Die Erinnerung an seine tadellose Figur und an seine zarte, gepflegte Haut machte ihren Herzschlag rasen, doch sie hatte nicht mehr den Mut, nächtens zu ihm zu schleichen, aus Angst, daß er sie harsch zurückweisen könnte. Sie wusste, dass er sittenstreng erzogen worden war und dass es daher sinnlos sein dürfte, ihm anzubieten, alles, alles von ihr zu fordern. Liebend gern würde sie auch dem abartigsten Verlangen stattgeben, wenn sie ihm dadurch auch nur den Schimmer eines Glücksgefühls geben könnte!

11. Kapitel

Wieder war es Sommer geworden. Evelyn fuhr in die Stadt, um ein paar Einkäufe zu tätigen. Der Tag war so sonnig und herrlich, dass selbst Evelyn vergnügt aus dem Busfenster schaute. (Sie ließ sich nur dann chauffieren, wenn es wirklich nötig war. Sie liebte es, das pralle Leben zu spüren. Sie hatte schon sehr früh erkannt, dass die Leute wegschauten, wenn sie genug gesehen hatten, und trug ihre das Gesicht verhüllende Maskerade erhobenen Hauptes. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten, sie verhielt sich still und unauffällig wie ein Mensch unter vielen.) Sie konstatierte: Wie herrlich da drüben im Park die jungen Rosensträucher in voller Blüte leuchten! Wie geschickt hatte man dort eine wahre Farbsymphonie komponiert aus Blüten über weiß und rosa bis hin zum kräftigsten rot! Aber was war das? Gab es in dieser Stadt einen Menschen, der ihrem Bernhard derart ähnlich sah? Es konnte nicht Bernhard sein. Er würde nicht um diese Zeit mit einer hübschen jungen Frau am Arm im Park spazieren gehen. Und die beiden waren echt fröhlich miteinander!
An der nächsten Station unterbrach Evelyn die Busfahrt, noch ganz geschockt von dem Gesehenen. Sie rannte förmlich in den Park, um Gewissheit zu bekommen: War es Bernhard oder war er es nicht? Ihr Unterbewusstsein signalisierte: Er war es! Doch sie wollte es genau wissen. Sie kannte diesen Park - sie hatte ja seinen Werdegang beaufsichtigt - , und wusste, wie seine Wege verliefen. Sie hatte gesehen, auf welchem Wege er mit der jungen Dame gegangen war. Sie erreichte in eilender Hast einen Querweg, hockte sich dort rasch hinter einen Rosenbusch und erblickte unmittelbar darauf das verliebte Paar. Es war Bernhards Anzug, es waren seine Schuhe, es war sein freizügiger Gang, den sie immer so an ihm bewundert hatte; doch er trug Kopf und Schultern anders als sonst, und diesen heiteren Plauderton hatte sie auch noch nie bei ihm vernommen. Als die beiden an ihr vorüber waren, blieb sie wie betäubt hocken. Nur sehr langsam kam sie wieder zu sich. Sie hatte ja gewusst, dass es eines Tages so kommen würde, aber sie hatte nicht geglaubt, dass es ihr so unendlich weh tun würde.
Sie vergaß all ihre Einkaufsabsichten und ging nach Hause. Auf dem langen Weg bei klarer Luft hatte sie Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. Sie bemühte den selben Detektiv, der ihr seinerzeit alles über die von Brockingens berichtet hatte, damit er ihr diesmal Informationen über diese junge Frau an Bernhards Arm erbrachte.
Nach einer - für sie qualvollen, für den Privatschnüffler jedoch eher lästigen Woche - erfuhr sie dann, dass es sich in diesem Fall um eine gewisse Anne Döring handelte, Vollwaise, beschäftigt als Verkäuferin in einem kleinen Schuhladen, älteste von sechs Geschwistern, die sie seit vielen Jahren betreute und erzog. Diese Auskünfte genügten ihr nicht. Sie wollte auch wissen, wie Bernhard und Anne einander kennengelernt hatten, und wie Anne darüber dachte, mit einem verheirateten Mann Arm in Arm im Park spazieren zu gehen.
Auf die Antwort mußte sie vierzehn Tage lang warten, vierzehn quälende Tage, die sie voller Nervosität verlebte. Endlich berichtete der Detektiv: "Die beiden haben sich im letzten Winter kennen gelernt, weil Anne auf einer zugefrorenen Pfütze ausrutschte und Ihrem Ehemann direkt vor die Füße fiel. Er hatte ihr selbstverständlich aufgeholfen und ihr auch den Schnee abgeklopft, und damit wäre die Sache eigentlich erledigt gewesen, wenn Anne nicht bei dieser Gelegenheit ihr Portemonnaie verloren hätte. Bernhard erblickte es erst, als sie schon in den Bus gestiegen und weit fortgefahren war. Aber die Adresse war in einem Seitenfach eingeschrieben. So fuhr er am nächsten Tag dorthin, um das fremde Eigentum zurückzugeben."
Der Verlust des Geldes traf Anne sehr empfindlich, hatte sie doch noch immer für drei Geschwister zu sorgen, die anderen waren schon selbständig. Ihre Dankbarkeit rührte Bernhard zutiefst. Seit seiner Heirat hatte er es sich versagt, eine Frau auch nur eines Blickes zu würdigen. Er hielt fest an dem Sakrament der Ehe und hätte niemals von sich aus die Nähe einer anderen Frau gesucht. Und nun stand ihm ein derart bezauberndes Wesen gegenüber! Ein fleischgewordener Engel! Entgegen seinem Gewissen verabredete er sich mit ihr zum nächsten Wochende zum Essen. Sie war in einem zu ihm passenden Alter, hübsch, charmant und feinsinnig. Bernhard fühlte sich in ihrer Gegenwart so wohl wie nie zuvor. Sie redeten über alles mögliche, harmlose Belanglosigkeiten über Gott und die Welt, nur nicht über Persön-liches. Anne wußte also nicht, dass sie mit einem verheirateten Mann spazieren ging. Sie fragte sich jedoch: Ist er nicht vielleicht doch verheiratet? Ein Mann mit derart vielen Vorzügen konnte doch nicht ledig geblieben sein! Aber die wenigen Stunden ihres Beisammenseins machten sie so überaus glücklich, daß sie alles andere verdrängte. Und sie taten ja auch schließlich nichts Böses. Er lud sie zum Essen ein oder ins Theater, selten zu einem Spaziergang, er hatte sie nie in seinen Arm genommen oder etwa geküßt, sie redeten miteinander, das genügte beiden. Aber wie lange wohl noch?
Evelyn hatte dank der exakten Recherchen des Detektivs genau prüfen können, daß es Liebe war, was die beiden verband, daß es die echte, große Liebe war, das einmalige Erlebnis ohne "wenn" und "aber". Die wahre Liebe, die einem Menschen - wenn überhaupt - nur einmal im Leben begegnete. Sie entlohnte den Detektiv und betrachtete das Foto, welches er ihr als Beweis für die Untreue ihres Mannes hinterlassen hatte, ein Foto, auf welchem die beiden sich gerade von einander verabschiedeten. Es war eine gestochen scharfe Nahaufnahme, und so sah sie recht deutlich auf Bernhards Gesicht Sehnsucht und Trennungsschmerz, auf Annes Gesicht jedoch eine geradezu kindliche Zuneigung, den Ausdruck von Treue und inniger Ergebenheit, eben genau das, was sie selbst für Bernhard empfand. Sie drückte das Foto an ihre Lippen und seufzte: "Bernhard! Mein über alles geliebter Bernhard! Ich verlange doch nicht, dass du mir treu sein musst! Du hast mich doch nie geliebt! Und du hast es nicht einmal vorgetäuscht; du bist dir und deinen natürlichen Gefühlen treu geblieben! Ich liebe dich so sehr, ich liebe dich genauso, wie du bist, ich will keinen anderen, nie und nimmer! Aber du lebst doch nicht in einem Kloster, du kannst dich doch in jeder Beziehung frei bewegen! Bernhard, Geliebter! Es genügt doch wohl, dass ich unglücklich bin, warum denn du? Oh du mein Lieber! . . . Mein über alles Geliebter! . . . " stammelte sie und drückte ihre Lippen auf das Foto.
Seit sie wusste, daß sie Bernhard so gar nichts, so absolut gar nichts geben konnte, hatte sie häufig an Selbstmord gedacht. Dann wäre er frei, um wahrhaft glücklich zu werden. Doch Selbstmord ist Sünde, und außerdem würde die Polizei Nachforschungen anstellen. Sie würde wie seit altersher forschen: Wem nützt es? Und würde dann möglicherweise glauben, dass es kein Selbstmord war, sondern dass ihr geliebter Bernhard sie in selbsüchtiger Weise getötet hätte, des vielen Geldes wegen. Oh nein, das sollte um keinen Preis geschehen! Sie musste es tun, wenn er weit weg war, damit man ihn nicht verdächtigen konnte.
Sie fuhr zu einem Reisebüro und buchte für Oktober eine Südseereise für zwei Personen. Dann ließ sie ihre alten Verbindungen spielen und sorgte somit dafür, daß Bernhard zu jenem Zeitpunkt auf genau dieser Südseeinsel von einem relevanten Geschäftspartner erwartet wird, die Reise also unumgänglich ist. Am Abend berichtete sie ihm schwärmerisch von dem Plan, endlich einmal in die Südsee zu reisen. Er zeigte sich nicht sehr erbaut davon. Er lag die halbe Nacht wach und überlegte, wie er dem entgehen könnte. Eine Südseereise, geschäftlich, mit Ehefrau und allem Brimborium und Klimbim, also mit allem, was er verabscheute! Denn Evelyn war ihm noch immer eine Fremde, nicht das, was er als seine Ehefrau erwünschte. Doch es galt, gemeinsame Interessen zu wahren. So stimmte er der Reise schweren Herzens zu. Er fürchtete, auf der langen Fahrt immer wieder den treusorgenden Ehemann spielen zu müssen. Wofür eigentlich? Sein Vater war tot, seine Schulden beglichen! Wozu noch das ganze Theater? Er war unendlich mutlos, hatte sein Leben ziemlich satt. Aber er hatte Anne kennen gelernt. Dieses süße, nahezu überirdische Geschöpf. Er empfand große Zuneigung zu ihr, konnte diesem Gefühl jedoch nicht nachgeben, da er in konventioneller Gebundenheit verharrte.
Vier Tage vor Reiseantritt wurde Evelyn mit Magengeschwüren ins Krankenhaus eingeliefert. Das kam ihr sehr gelegen, denn sie hatte solange nicht gewusst, mit welcher unauffälligen Lüge sie sonst Bernhard allein auf die Reise schicken sollte. Als er sie pflichtgemäß im Krankenhaus besuchte, sagte sie zu dem Thema Südseereise übermütig: "Nimm doch deine Sekretärin mit, es wäre doch zu schade, die zweite Karte verfallen zu lassen!"
Diese Worte krallten sich in ihm fest. Anne würde nie in ihrem Leben die Gelegenheit zu solch einer exklusiven Südseereise haben. Und er konnte sie leicht als seine Sekretärin ausgeben. Warum sollten sie beide nicht wenigstens ein paar Tage in ihrem Leben glücklich sein? Er entschloss sich, Anne mitzunehmen, praktisch als Abschiedsgeschenk. Auf der Reise hätte er genügend Zeit und Gelegenheit, sie über seine Verhältnisse aufzuklären. Er wollte nicht länger mit der Lüge leben. Seine gute Erziehung erlaubte ihm nicht, ein ehebrecherisches Verhältnis zu haben, aber er konnte auch Annes Reizen nicht länger widerstehen, und er konnte nicht von ihr erwarten, dass seine Geliebte bleiben möchte.

12. Kapitel

Anne war hocherfreut über die Gelegenheit, eine Südseereise zu machen, obendrein in Begleitung des Mannes, den sie liebte. Sie ging gern auf das Spiel ein, seine Sekretärin zu sein, hoffte aber inbrünstig, dass sie endlich ein intimes, klärendes Gespräch führen würden. Es wurde Zeit, dass sie endlich erfuhr, wie er lebte, ob sich etwa ihr geheimer Verdacht bestätigte, daß er verheiratet war. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er keinesfalls glücklich verheiratet sein konnte. Sie spürte, dass er sie ebenso heiß liebte, wie sie ihn, daß aber irgendetwas ihn daran hinderte, mit ihr zu leben. Sie ordnete ihre häuslichen Verhältnisse so, dass ihre Geschwister während ihrer Abwesenheit nichts entbehren mussten, packte ihr Köfferchen und fuhr tatsächlich mit Bernhard von Brockingen in die Südsee.
Es war herrlich. Sie waren fröhlich und unbeschwert wie Kinder, es verging kein Tag, wo Bernhard ihr nicht wenigstens ein Geschenk machte, seien es nun Blumen oder Schmuckstücke oder andere Nettigkeiten, die ein Mann einer Frau als Liebesbeweise überbringt. Das klärende Gespräch allerdings stand bis auf den letzten Tag aus, aber es musste sein. Bernhard nahm allen Mut zusammen und beichtete, dass Anne die erste wirkliche Frau in seinem Leben ist, dass er Evelyn nur geheiratet hatte, um seinen Vater vor der Schande zu bewahren und dass sie ihm nie irgendetwas bedeutet hatte, dass sie ihn aber - Gott weiß, warum - liebte und nie in eine Scheidung einwilligen würde. Und dass er nicht imstande ist, mit Anne ein Leben in Sünde zu führen, sosehr er sie auch liebte. Sie hatte Verständnis für seine Haltung und versuchte sogar, ihn zu trösten; dabei standen ihr selber Tränen in den Augen. Bei ihren gegenseitigen Tröstungsversuchen ergab es sich ganz natürlich und wie von selbst, dass sie diese letzte Nacht der Reise im selben Bett verbrachten.

13. Kapitel

Bernhard von Brockingen saß an seinem Schreibtisch und hatte den Kopf in beide Hände gestützt. Er war in den letzten Wochen um Jahre gealtert. Sein altes Allheilmitel, die Arbeit, half nicht mehr. Er musste unablässig an Anne denken, die ihm stets wie ein reiner Engel erschienen war. Wieviel Verständnis sie gezeigt hatte, als er ihr seine Situation schilderte! Wie unendlich süß jene einzige Liebesnacht ihres Lebens war . . . Wie schwer war ihm jeder Schritt auf ihrem letzten gemeinsamen Heimweg gefallen! Der Abschied hatte ihnen beiden fast das Herz gebrochen, aber er musste sein. Anne wollte und sollte ihr Glück nicht auf dem Unglück einer Anderen aufbauen, doch so wie Bernhards Herzschlag "Anne!" hämmerte, so tönte der ihre "Bernhard". Und zwischen ihnen stand die Ehefrau, nur sie allein hatte nach dem Gesetz ein Recht auf Bernhard. Ein schwerer Seufzer entrang sich Bernhards Brust bei diesem Gedanken, und er hätte liebend gern die Zeit zurückgedreht und gewartet, bis er die rechte Braut zum Traualter hätte führen können, koste es, was es wolle. Nun aber konnte er nichts anderes tun, als seine geliebte Anne in sein tägliches Gebet einzubeziehen.
Evelyn entging die Veränderung ihres Mannes nicht. Sie beobachtete mit wachsender Verzweiflung die Verwandlung eines strahlenden Helden in ein klägliches Häufchen Unglück mit hängenden Schultern und schleppendem Gang. War ihre Idee, die beiden Liebenden in die Südsee zu schicken, doch nicht so gut gewesen? Was, um alles in der Welt, war nur geschehen? Sie beschloss, es herauszufinden. Sie schminkte sich bis zur Unkenntlichkeit, zog ihre überdrehtesten Sachen an und besuchte den kleinen Schuhsalon, in welchem Anne arbeitete. Sie tat so, als wählte sie überaus sorgfältig ein paar hochelegante Schuhe aus und beobachtete Anne dabei aus den Augenwinkeln ebenso unauffällig wie genau. Und ihr fiel auf, dass Anne von einem sonderbaren Ernst war, der sie viel älter erscheinen ließ. Sie machte einen absolut tragischen Eindruck. Obendrein stimmte irgendetwas mit ihrer Figur nicht.
Evelyn kaufte dem übereifrigen Ladenbesitzer zwei Paar sündhaft teure Schuhe ab. Als sie beim Verpacken derselben einen kleinen Moment warten mußte, wurde ihr schlagartig bewusst, was mit Annes Figur nicht stimmte: Sie wurde rundlich, weil sie schwanger war!
Wie in Trance ging Evelyn nach Hause. Ihr Hirn hämmerte: "Warum? Warum sind die beiden so unglücklich? Weiß Bernhard überhaupt, dass er Vater wird? Und wie ist ihnen in dieser Situation zu helfen?" Während sie so herumgrübelte, kam sie an einer Gruppe Jugendlicher vorüber, die aus einem Radiorekorder eine Witzkassette in voller Lautstärke abhörte. Sie hörte ungewollt den Gag: "Du sollst nicht eher brechen, ehe der Eimer da ist." So war der Sinn, aber der Komiker hatte es ausgesprochen: "Du sollst nicht ehebrechen". Sie ging unwillkürlich noch langsamer. Du sollst nicht ehebrechen! Du sollst nicht ehebrechen! Das war es! Die beiden guten Katholiken Anne und Bernhard haben sich trotz ihrer großen Liebe von einander getrennt, und das auch noch ihretwegen! Und Anne war schwanger! Ihr gegenwärtiger Gemütszustand konnte sich negativ auf das Ungeborene auswirken . . .
Evelyn war höchst verzweifelt. Sie ließ die Schuhkartons zu Hause achtlos in eine Ecke fallen und setzte sich erschöpft in einen Sessel. Sie zergrübelte sich das Hirn, wie sie mit Bernhard über die anstehenden Probleme reden könnte, ohne sich dabei zu verraten, und vor allem, ohne ihn zu verlieren. Müde schminkte sie sich ab und zog sich aus, um zu baden. Mitunter hat man ja bei einem erfrischenden Bad auch eine zündende Idee . . . Doch leider klappt so etwas nicht auf Bestellung. Als das Wasser nicht mehr die erfrischende Temperatur hatte, stieg sie seufzend aus dem Bade und begann, sich abzutrocknen. Plötzlich stutzte sie: Was war denn das für eine große rosa Wolke dort im Spiegel? Erschrocken trat sie näher. Sie, die sonst ihr Spiegelbild mied wie die Pest, stand mit offenem Munde da und betrachtete sich! Sie konnte nicht fassen, was sie sah. Sie erblickte im Spiegel einen makellos reinen Frauenkörper, schlank und zart wie der einer Fee. Wo waren all die vielen kleinen, unendlich häßlichen schwarzen Warzen geblieben? Sie waren spurlos verschwunden, so, als hätte es sie nie gegeben! Sie richtete den dreiteiligen Spiegel so aus, dass sie sich rundherum betrachten konnte und erblickte nicht eine einzige Warze mehr. Aufschluchzend ließ sie sich auf den Hocker sinken und erinnerte sich an die freundlichen Worte des alten Professors: "Operieren wird gar nicht nötig sein, liebes Fräulein Evelyn, solche nervösen Erscheinungen heilt gewöhnlich die Zeit!" Es war alles umsonst gewesen, die Operation, die Ängste und all der andere Kummer . . . Aber die Wucherungen an den Händen und im Gesicht, die hatte sie noch! Wie bösartig hatte sich alles gegen sie gewendet! Doch es ist sinnlos, mit dem Schicksal zu hadern.
Während sie sich in den Bademantel hüllte, hörte sie Bernhard nach Hause kommen. Endlich fiel ihr nun ein, auf welche Weise sie ihn unauffällig auf Annes Zustand hinweisen konnte. Leise ein Liedlein summend zog sie ihr verführerischstes Negligee an und ging in sein Zimmer. Sie ging ganz langsam, um sich unterwegs genauestens einzuprägen, was sie zu ihm sagen wird und wie sie es sagen wird. Bernhard war eher erstaunt denn erfreut, sie zu sehen. Es hatte schon seit einiger Zeit keine Begegnung zwischen ihnen mehr stattgefunden, so, als gingen sie einander tunlichst aus dem Weg. Sie begrüßte ihn mit einem entwaffnenden Lächeln, fragte ihn nach Neuigkeiten aus der Firma und zeigte ihm dann mit hochrotem Kopf ihre erstaunliche Neuigkeit. Er war ihr Mann und hatte gefälligst Freud und Leid mit ihr zu teilen! Sie führte seine Hand über ihren Leib, damit er auch spüren konnte, dass die scheußlichen Warzen wirklich weg sind. Sie hatte gehofft, dass sie ihn auf diese Weise zu einer Liebesnacht verführen könnte, und ihre Rechnung ging auf. Bernhard zog sie in seine Arme, ließ sich von ihr entkleiden und sie vollzogen zum zweitenmal die Hochzeitsnacht. Sie wusste nicht, wie sehr ihr Körper jetzt Annes glich und dass sein Verlangen nur der Erinnerung an Anne entsprang. Und wenn sie es gewusst hätte, wäre es ihr auch egal gewesen.
Danach lagen sie noch eine Weile nebeneinander. Bernhard überlegte, wie er die ungeliebte Frau nun - ohne unhöflich zu sein - wieder aus seinem Bett bekäme, und der glückstaumeligen Evelyn zog der Gedanke durch den Kopf, dass sie jetzt möglicherweise doch schwanger werden konnte! So fiel ihr auch endlich wieder der eigentliche Grund ihres Besuches ein, Bernhard zu Anne zu schicken, damit sein Kind nicht seelischen Schaden nimmt durch den beklagenswerten Zustand der Schwangeren. Es kostete sie einige Gehirnakrobatik, sich der Sätze zu erinnern, die sie sich auf dem Herweg eingeprägt hatte und nun leichthin zu plaudern: "Erinnerst du dich an deine Südseereise? Wenn du dasselbe damals mit deiner Sekretärin gemacht hättest, wäre sie jetzt im fünften Schwangerschaftsmonat. Da spürt man es schon, wenn sich das Baby bewegt. Das muss ein unerhört tolles Gefühl sein, das neue Leben zu spüren, bevor es auf der Welt ist!" Sie machte eine kleine Kunstpause und plauderte weiter: "Du bist nun sicher sehr müde, mein Geliebter. Da werde ich jetzt also rasch hinüber in mein Bettchen gehen, damit wir beide in Ruhe schlafen können." Sie drückte einen flüchtigen Kuss auf seine Schulter, wünschte ihm eine gute Nacht und ging. Bernhard brummte etwas, das mit etwas gutem Willen wie "Gute Nacht" klang und lag dann die halbe Nacht wach und dachte an Anne und daß sie jetzt womöglich in der Schwangerschaft auf sich allein gestellt sein könnte. Als er endlich seinen Schlaf fand, wurde er von einem schrecklichen Albtraum geplagt. Am nächsten Tag konnte er kaum die Stunde erwarten, wo der kleine Schuhsalon öffnen würde. Er mußte Anne unbedingt sprechen und sich Gewißheit verschaffen.

14. Kapitel

"Fräulein Anne, Sie werden am Telefon verlangt!", sagte der Chef. Anne erschrak. War irgendetwas mit ihren Geschwistern? Sie fragte mit halb erstickter Stimme: "Von wem?" - "Der Herr hat seinen Namen nicht genannt", erwiderte der Chef über die Schulter hinweg. Anne ging mit weichen Knien zum Apparat und nahm den Hörer auf. Sie meldete sich, der Stimme einen festen Klang gebend: "Ja, bitte, mit wem habe ich die Ehre?" Sie konnte es kaum fassen, als sie darauf Bernhards zärtliche Stimme hörte, die sich nach ihrem Befinden erkundigte. Sie hatte nicht damit gerechnet, jemals wieder etwas von ihm zu hören. Mit Tränen in den Augen konnte sie nur stammeln: "Bernhard . . . Bernhard . . ."
Er legte konfus den Hörer auf, sagte zu seiner Sekretärin, dass er dringend etwas zu erledigen habe und dass sie bitte alle Verbindlichkeiten in seinem Namen vertagen solle, er könne im Moment nicht sagen, wann er zurückkommen wird. Die Sekretärin war sehr erstaunt. So etwas hatte sie in diesem Hause noch nicht erlebt!
Bernhard stieg eiligst in sein Auto und war bei dem Schuhgeschäft angelangt, noch ehe Anne ihre Fassung vollends wiedergefunden hatte. Sie sanken einander in die Arme, ohne sich um die erstaunten Blicke des Chefs und der Kundschaft zu kümmern. "Da werde ich Ihnen mal bis zum Mittag freigeben, wenn Sie so lieben Besuch haben!" sagte der Chef jovial. Anne wischte die Tränen fort, ergriff flugs ihre Handtasche und stieg zu Bernhard ins Auto. Er fuhr in irgendeine kleine Seitenstraße, wo sie in Ruhe über alles reden konnten. Er bat Anne in rührender Weise um Verzeihung für alles, küsste und streichelte sie und wusste doch noch immer nicht, wie er gleichzeitig eine Liebe und eine Ehe aufrecht erhalten könnte. Anne weinte vor Glück, und Bernhard begann vor Hilflosigkeit ebenfalls zu weinen. Das einzige, was er in dieser Lage tun konnte, war Anne mit Geld zu versorgen, damit sie und das Kind alles Nötige haben würden und ihr zu versprechen, daß er sie jeden Tag anrufen wird. Schweren Herzens sagte er: "Es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Ich liebe dich, Anne, und ich werde niemals eine andere lieben, aber ich bin verheiratet, und solange diese Frau lebt, bin ich an sie gebunden . . ." Erneute Tränen schnitten ihm die Worte im Hals ab. Anne erkannte seine Seelenqual und erzählte ihm nichts von den fremdgehenden Ehemännern, die es in ihrer Nachbarschaft zur Genüge gab. Zärtlich ergriff sie seine Hand und sagte: "Es ist wahrscheinlich auch nicht gut, wenn du jeden Tag anrufst, das würde nur meinen Chef stutzig machen und zu Sticheleien Anlaß geben. Es genügt, wenn du einmal in der Woche anrufst. Dann kann ich dir alles Wissenswerte erzählen und die Versuchung wird so auch geringer gehalten. Übrigens weiß ich noch keinen Namen für unser Kind. Fällt dir nicht vielleicht etwas Hübsches ein?" Ihm stand absolut nicht der Sinn danach, sich jetzt schon einen Namen auszudenken, wo man noch gar nicht wissen konnte, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, daher sagte er leichthin: "Ach, die Namensfindung will ich gern dir überlassen, auf diesem Gebiet bin ich nicht sehr bewandert." Sie lachten beide wie über einen guten Scherz und kuschelten sich aneinander. Dann fuhr Bernhard mit Anne zu einem netten kleinen Lokal, um sie zum Essen einzuladen. Sie waren glücklich und unbeschwert und genossen jede Minute ihres Beisammenseins. Von nun an erkundigte sich Bernhard jede Woche einmal nach Annes Wohlergehen und er hatte ihr auch - für den Notfall - die Telefonnummer seines Büros gegeben.

15. Kapitel

Bernhards Miene hatte sich wieder aufgehellt. Annes Schwangerschaft und auch die Geburt verliefen problemlos. Sie gebar eine gesunde, achteinhalb Pfund schwere Tochter, die sie Bernarda taufen ließ. Der glückliche Vater hätte die kleine Familie gern finanziell völlig sichergestellt, doch seine Gelder waren gebunden, und er konnte nicht wagen, vom Firmengeld zu nehmen; darüber wachten die Augen der Aktiengesellschaft. Evelyn und einige andere Hauptaktionäre konnten jederzeit die Konten einsehen. So musste Anne sich letztendlich nach einem Babysitter umsehen und wieder arbeiten gehen. Da sie eine sehr gute Verkäuferin war, war ihr der Job bei dem Schuhsalon erhalten geblieben. Ihre unmündigen Geschwister besuchten noch ihre Schulen, daher konnte sie keinem von ihnen ihr kleines Töchterlein anvertrauen. Aber in der Nachbarschaft gab es eine junge Kunststudentin, die gegen ein geringes Entgeld gern bereit war, auf das Baby aufzupassen.
Evelyn hatte die Entwicklung des Geschehens bis ins Detail verfolgt, abermals die Hilfe jenes Privatdetektives in Anspruch nehmend. Sie kontaktierte die Kunststudentin und bot ihr den doppelten Preis, wenn sie die kleine Bernarda jeden Tag zu ihr bringen würde, unter Versicherung, dass sie wie eine leibliche Mutter für das Baby sorgen würde. Nach langem Gewissenskonflikt ging die Kunststudentin auf den Deal ein. Und sie brauchte diesen Schritt nicht zu bereuen, denn Evelyn war die liebevollste und umsichtigste Ersatzmutti. Hatte sie sich doch selbst sehnsüchtigst ein Kind gewünscht! Ein Kind von Bernhard! Es entzückte sie, dass die Kleine Bernarda hieß. Sie herzte und küsste das Kind, als wäre es ihr eigenes, brachte ihm alles bei, was sein Auffassungsvermögen hielt und freute sich riesig an den Fortschritten. Wenn sie die Kleine der Kunststudentin abends übergab, teilte sie ihr alles getreulich mit, damit sie der Mutter darüber berichten konnte. Es war ihr daran gelegen, daß die Studentin als zuverlässige, versierte Kraft angesehen wird, damit Anne ihr nicht das Vertrauen entzog.
Sie selbst wollte Bernhards Tochter so lange als irgend möglich betreuen, da es ihr verwehrt blieb, ein Kind von ihm zu empfangen. Auch der zweite Versuch war leider fehlgeschlagen, wie sie nach einigen Wochen traurig zur Kenntnis nehmen musste. So war die kleine Bernarda ihr schönster Zeitverteib, die Sonne ihres Lebens. Sie sah an dem Kind Bernhards Gesichtszüge, die sie so liebte, und das war ihr ein weiterer Grund, auch das Kind zu lieben.
Die junge Kunststudentin war auf das Geld angewiesen und zerbiss sich eher die Zunge, als dass sie verraten hätte, wo sich Bernarda in Wirklichkeit befand. Und sie hatte genügend Menschenkenntnis, um sicher zu sein, daß die kleine Bernarda sich tatsächlich in den besten Händen befand. Evelyn hatte ihr eigenes Schlafzimmer (welches Bernhard nie betrat), das von ihr von vornherein als Kinderzimmer geplant war, nun auch als solches hergerichtet. Hier war alles vorhanden, was ein Baby benötigte. Evelyn hatte sogar einen Kinderwagen angeschafft, damit eventuelle Bekannte von Anne ihr nicht berichten konnten, ihren Wagen in der Hand einer Fremden gesehen zu haben.
Evelyn war direkt verliebt in das Baby. Es machte sie sehr glücklich, die Kleine zu verwöhnen, mit allem, was möglich war. Und sie wurde nicht müde, das Kind zu portraitieren. Es sah teils dem Vater, teils der Mutter ähnlich, wie es gewöhnlich bei Menschenkindern eben so ist. Evelyn sah nur Bernhards klare blauen Augen, Bernhards hohe, edle Stirn und Bernhards wohlgeformten Mund. Alle Liebe, alle Zärtlichkeit, die sie ihrem Mann nicht geben konnte, ergoss sie verschwenderisch über das Kind.

16. Kapitel

Das Personal war angewiesen, dem Hausherrn gegenüber Stillschweigen zu bewahren, sodass von Brockingen die tägliche Anwesenheit seiner Tochter in seinem Hause verborgen blieb. Es ging lange Zeit gut. Doch bald lernte die kleine Bernarda Laufen und plapperte die ersten Worte. Als sie zum erstenmal "Mama" sagte, wurde es Evelyn im Innersten so heiß, dass es ihr fast das Herz abdrückte. Sie schloss das Kind ganz fest in ihre Arme und hatte nicht den Mut, die Kleine zu korrigieren. Sie wollte die Zeit, die ihr auf Erden noch vergönnt war, glücklich sein. Im übertragenen Sinne war sie ja tatsächlich die Mutter dieses Kindes.
Evelyns Magengeschwüre verschlimmerten sich immer mehr, denn sie handelte bewusst gegen die Anweisungen des Arztes. Sie wusste, dass man unter Umständen an Magengeschwüren sterben konnte; so würde sie eines natürlichen Todes sterben und Bernhard wäre frei, niemand könnte ihn irgendeiner Schuld bezichtigen! Sie machte sich auch keine Sorgen darüber, dass Bernarda sich eventuell mit der Bezeichnung "Tante Evi" verplappern könnte, denn die Studentin, die Bernarda täglich zu ihr brachte, hieß mit bürgerlichem Namen Eva Hausmann! Also käme Anne wohl kaum auf den Gedanken, dass ihre heißgeliebte Tochter irgendwo anders als bei dem von ihr bezahlten Babysitter war.
Die Zeit fügte es, daß Bernhard ab und zu, und später immer öfter, Anne und seine Tochter besuchte. Es tat ihm so unendlich leid, dass das Kind den Vater entbehren musste. Er spielte sogar mit dem Gedanken, Anne - als irgend was auch immer - in Stellung zu nehmen, um das herzige kleine Geschöpf, das seine Tochter war, öfter in den Arm nehmen zu können. Aber Bernarda nannte ihn bereits "Papa", und das wäre dem übrigen Personal aufgefallen. Sein Gewissen war einer harten Zerreißprobe ausgesetzt. Er begann, seinen "goldenen Käfig" mit aller Inbrunst zu hassen. Annes kleines Zimmer jedoch schien ihm das Paradies zu sein. Er wusste keinen anderen Ausweg, als sich in seine Arbeit zu vergraben, um dem Wahnsinn zu entgehen. Aber immer wieder zog es ihn zu Anne und wenigstens einmal in der Woche gab er seiner Sehnsucht nach. Jede Nacht gab er sich in die Gnade des Herrn und betete um die Beendigung seiner Qual. Er ahnte nicht, wie bald sein Wunsch - und auf welche Weise! - erfüllt wird.
Die Schmerzen, die Evelyns Magengeschwüre ihr verursachten, verbarg sie hinter der Maske eines nichtssagenden Lächelns. Je heftiger die Schmerzen wurden, desto mehr schwelgte sie in süßer Todessehnsucht. Sie erbrach immer häufiger Blut, was sie tunlichst vor dem Personal verbarg. Als die Schmerzen ihren Leib zusammenkrampften und sie gerade die kleine Bernarda auf dem Arm hatte, sprach sie verhalten zu dem Kinde: "Mein süßer, kleiner Engel, bald wirst du jeden Tag bei deiner Mama sein können, sie wird nicht mehr arbeiten müssen, denn dein Papa wird deine Mama heiraten, dann braucht sie nicht mehr in das Schuhgeschäft zu gehen, sondern sie wird hier wohnen, mit dir und deinem Papa, den wir alle so lieb haben, und er wird endlich das große Glück erleben, das er verdient."

17. Kapitel

Dann kam der Tag, an dem Evelyn das Bett nicht mehr verlassen konnte. Sie nahm keine Nahrung mehr zu sich, wollte auf diese Weise ihr Ende beschleunigen. Alles Zureden seitens des Personals und geschulter Hospitalkräfte halfen nichts. Und sie ließ sich auch nicht füttern. Von niemandem. Doch jede Woche hat auch ihr Wochenende. Bernhard wurde von dem besorgten Personal über den Zustand seiner Frau aufgeklärt. Er ging unwillig in ihr Zimmer, aus dem sie vorsorglich bei Beginn ihrer Bettlägerigkeit rasch jede Erinnerung an Bernardas Aufenthalt hatte tilgen lassen. Zusätzlich verschloss sie die Lippen der Angestellten mit hohen Geldbeträgen. Er setzte sich zu ihr und erkundigte sich nach ihrem Befinden, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, daß er es nur aus Anstand tat. Sie zauberte ein Lächeln auf ihr eingefallenes Gesicht und sagte zu ihm: "Mach dir keine Sorgen, mein Geliebter, es geht bald vorbei." Er erwiderte in echter Besorgnis: "Man sagte mir, du isst nichts?" - "Ich hab nur keinen Appetit", suchte sie ihn zu beruhigen. "Magst du nicht einmal eine Tasse Tee?", lockte er heiter. "Tee kann nie schaden." - "Gut", lächelte sie zustimmend.
Jäh wurde von Brockingen bewusst, dass er so gar nichts von dieser Frau wusste, ihre Neigungen nicht kannte. Er kannte ihre Lieblingsspeisen nicht, fand jedoch stets die seinigen vor. Er sah sie nie irgendein Getränk bevorzugen; aber er wusste schließlich, dass man kranken Menschen Tee verabreichte. Die Wirtschafterin sagte barmend: "Damit haben wir es auch schon versucht. Bleiben Sie um Gotteswillen bei ihr, vielleicht nimmt sie ja dann den Tee von Ihnen! Sie hat uns alle abgewiesen, auch den Herrn Doktor. Der Doktor befürchtet übrigens, dass sie bald sterben wird. Es ist wahrscheinlich das beste, wenn Sie die nächsten Tage zu Hause bleiben." Von Brockingen machte ein erstauntes Gesicht. So schlimm stand es? Er hatte nicht diesen Eindruck. Er hatte sich von ihrem Lächeln täuschen lassen. Er hatte nicht bedacht, wie sehr Liebe die Augen leuchten lässt, selbst, wenn es eine hoffnungslose Liebe ist.
Nachdenklich ging er zurück in Evelyns Zimmer, und wieder empfing sie ihn mit diesem glückseligen Lächeln. Sie bat ihn, sich auf die Bettkante zu setzen und nahm seine Hand. Sie flüsterte zärtlich: "Ich liebe dich, und ich werde dich glücklich machen!" Ihre Augen glänzten feucht, ihr Blick war ungewöhnlich tiefgründig. Bernhard wurde die Situation unheimlich. Er wusste weder aus noch ein. Er hätte ihr gern seine Hand entzogen, wagte es aber nicht, weil er spürte, dass er Evelyn dadurch zu Tode verletzt hätte. Er duldete also, daß Evelyn seine Hand streichelte, sie an ihre Wange zog und letztendlich ihre heißen, bebenden Lippen darauf drückte. Ihm war keineswegs wohl in seiner Haut, und er war froh, als die Haushälterin endlich mit dem Tee kam. Er half Evelyn, sich aufzurichten und reichte ihr die Tasse. Doch Evelyn war bereits zu schwach, um selbständig zu trinken. Er mußte ihren Kopf stützen und die Tasse an ihre Lippen führen. Gehorsam trank sie die Tasse in kleinen Schlucken leer. Aber es hatte sie so angestrengt, daß sie danach sofort einschlief. Als sie erwachte, hoffte sie inbrünstig, dass Bernhard wieder zu ihr kommen würde. Ihr blieb nur zu hoffen, denn rufen konnte sie nicht und nach ihm klingeln! - wollte sie nicht.
Endlich kam die Haushälterin, um nach ihr zu sehen. Sie hatte ein leckeres Dessert mitgebracht, in der Hoffnung, dass Evelyn jetzt wieder etwas essen würde, nachdem ihr der Tee so gut bekommen war. Doch sie mochte nichts essen, das einzige, wonach es sie verlangte, war Bernhard. Achselzuckend ging die Haushälterin, den Hausherrn zu holen.
Bernhard war die letzten Stunden ratlos in seinem Zimmer auf und ab gegangen, mit einem unbeschreiblichen Wirrwar von Gedanken im Kopf, die stets ihren Höhepunkt darin fanden, dass Evelyn jetzt eventuell tatsächlich stirbt. Es machte ihn schaudern, dass dieser traurige Fakt wahrscheinlich der Grundstein seines Glückes sein wird. Mit gemischten Gefühlen trat er an das Krankenlager. Die zierliche Gestalt war unter der Bettdecke kaum wahrnehmbar. Er setzte sich fast ängstlich zu ihr und vernahm ihr fiebriges Stammeln: "Ich habe dich so sehr geliebt, Bernhard, so sehr geliebt . . ." Er sah, dass sie kraftlos nach seiner Hand tastete und reichte sie ihr. Sie drückte die Hand des geliebten Mannes fest an ihr Herz und schloss die Augen. Sie lag ganz still, und Bernhard verhielt sich ebenfalls ganz leise, denn er hoffte, dass Evelyn in einen wohltätigen Schlummer gefallen war. Nach einer Weile wurde ihm jedoch bewusst, dass er bei einer Toten saß.

18. Kapitel

Evelyns Beerdigung zog eine große Menschenmenge an. Sie war allerorts als Wohltäterin bekannt. Manch einer dachte an das Sprichwort, dass die besten Menschen zu früh sterben.
Bernhard ging tagelang mit gesenktem Kopf einher. So hatte er es nicht gemeint, wenn er den Herrgott um Erlösung gebeten hatte! Doch nun war es nicht zu ändern. Er fühlte sich völlig schuldlos. Sie hatten friedlich nebeneinander her gelebt, es gab keinen Zank und Streit. Er hatte nicht einmal das Gefühl, seine Frau vernachlässigt zu haben, denn wenn sie einander begegneten, war sie stets ruhig und freundlich. Über der Arbeit vergaß er mit der Zeit die dunklen Gedanken. Er wartete das Trauerjahr ab und heiratete seine geliebte Anne. Niemand nahm daran Anstoß, sie konnten ungestört glücklich sein.

19. Kapitel

Evelyns Zimmer blieb unberührt. Anne hatte eine gewisse Scheu, das Reich ihrer Vorgängerin zu betreten. Sie wußte nicht viel über Evelyn und wollte auch nichts wissen. So blieb das Zimmer lange Zeit so, wie es zu Evelyns Lebzeiten war. Doch dann bat einer von Annes Brüdern, vorübergehend bei ihr wohnen zu dürfen. Er konnte mit seiner Frau nicht mehr leben, weil sie sich sehr zu ihrem Nachteil verändert hatte. Die jungen Leute hatten in wilder Romantik übereilt geheiratet, kurze Zeit später neue intime Bekanntschaften geschlossen und ihre Eheschließung heftigst bereut. Sie machten einander das Leben zur Hölle, sodass Annes Bruder schon bereit war, evangelisch zu werden, weil es für Katholiken keine Scheidung gibt. Er stand also eines Abends plötzlich mit Sack und Pack vor Annes Tür und bat um Obdach. Natürlich nahm sie ihn auf. Er hielt mit Bernhards Erlaubnis Einzug in Evelyns Zimmer.
Anne half ihrem Bruder am anderen Tag in seiner Abwesenheit, seine Sachen in Evelyns Schränken unterzubringen. Dazu mussten diese erst einmal ausgeräumt werden. Anne wunderte sich nicht darüber, dass ihr da Spielzeug und Kleidungsstücke für ein kleines Mädchen in die Hände kam, als Ehefrau hat man schließlich auch das Recht, auf Kindersegen zu hoffen. Aber als sie die Mappe mit den Zeichnungen fand, auf denen Bernarda abgebildet war, stockte ihr der Atem. Aus diesem Fund ging hervor, dass Evelyn von ihr und Bernhard alles gewusst hatte! Sie war verblüfft über die liebevollen Arbeiten, die ihre Tochter in den entzückendsten Situationen zeigten. Sie konnte sich kaum sattsehen an den Zeichnungen, die Evelyns großes Talent offenbarten.
Nachdem sie auch noch Evelyns Tagebuch gefunden und gelesen hatte und die erste Fassungslosigkeit über die Vorkommnisse in diesem Hause - betreffs der hier vollzogenen Ehe und des Aufenthalts ihrer Tochter - überwunden hatte, richtete sie wie im Traum mehr oder weniger pflichtbewusst das Zimmer für ihren Bruder her und zeigte dann am Abend Bernhard die Zeichnungen mit gespielter Heiterkeit: "Rate mal, wo ich sie herhabe!" Bernhard betrachtete die Blätter eingehend und vermutete dann: "Diese Tante Evi, also die Kunststudentin, die du als Babysitter engagiert hattest, hat diese wunderschönen Zeichnungen angefertigt und du hast sie ihr für einen angemessenen Preis abgekauft. Aber warum erst jetzt?" - "Weil sie nicht von Tante Eva, sondern von Tante Evelyn sind. Schau, hier sind noch andere!" Und nun legte sie ihm Evelyns Versuche, ihn zu portraitieren, vor. "Du wirst dir doch wohl nicht einbilden wollen, dass das Fräulein Eva Hausmann dich so oft und so liebevoll abgebildet hat? Und dass deine Frau ihr die Blätter abgekauft hat? Mitsamt allen Stiften und Pinseln und der Staffelei? Nein, deine Frau war eine große Künstlerin, Malerin und Schauspielerin, denn - du warst doch sooo überzeugt davon, dass sie nichts von unserer Liebe wusste!?"
Nachdenklich strich sich Bernhard übers Haar. Er war tatsächlich überzeugt davon, dass Evelyn nichts von Anne gewusst haben konnte. Woher denn auch? Er hatte sich nach bestem Wissen und Gewissen untadelig benommen. Er betrachtete nicht einmal die Liebesnacht in der Südsee als Untreue, sondern nur als eine Schicksalsfügung.
Anne schmiegte sich an ihn und flüsterte mit verhaltener Stimme: "Sie muss dich wirklich sehr geliebt haben. Sie war eine bewundernswerte Frau, wir wollen ihr Andenken in Ehren halten." Bernhard nickte stumm und ein wenig verwirrt. Da hatte er jahrelang etwas ganz Großes erlebt und hatte es nicht bemerkt!
Als wenige Monate später seine zweite Tochter geboren wurde, einigten sie sich ohne Zögern auf den Namen Evelyn. So versuchte Bernhard, das Versäumte nachzuholen. Und wenn es stimmt, dass die Verstorbenen vom Himmel aus das Geschehen auf Erden verfolgen können, so hoffte er, dass Evelyn zufrieden sein würde mit dieser Entwicklung der Dinge . . .
 
H

Henry Lehmann

Gast
Fürs Internet viel zu lang

Ich nehme mir demnächst mal ein paar Tage Urlaub, um diesen Text zu lesen.

LG Henry
 
Sehr berührend, hat mir gut gefallen. Habe dabei auch bewusst alle (durch Simone de Beauvoir geschärften) feministischen Gedanken abgelegt.

BTW: eine Kleinigkeit: ein kleiner Schreibfehler: Böro (irgendwo im Text)

Mario
 

Inu

Mitglied
Liebe Flammarion

Das ist ein echter kleiner Trivialroman. Wie man an der begeisterten Reaktion von Martin schon sieht, gibt es bestimmt viele Liebhaber solcher Literatur. Am Anfang habe ich die Geschichte sehr ernst genommen, da sie gut und gekonnt geschrieben ist.

Danach kam immer mehr der Staun- und Grinseffekt bei mir dazu, aber über eine lange Strecke las ich dennoch fasziniert weiter. Nachher wurde die Story voraussehbar, obwohl ich immer noch auf einen Umschwung, einen Clou wartete, der das ganze Herz-Schmerz-und Edelmenschen-Brimborium ( vor allem der Evelyne und Anne ) ad absurdum führen würde.

Eines muss ich sagen: es fiel mir nicht schwer, die Geschichte auf einen Rutsch durchzulesen ohne mich zu langweilen ( gegen Ende höchstens ein wenig! ;)

Verwirrt hat mich die Art, wie Du manchmal die Zeiten benutzt. Beispiel:

Die Gräfin, die den einzigen Familiensproß streng katholisch erzogen hatte, war vor drei Jahren gestorben aus Gram und Verzweiflung über den Lebenswandel ihres Gatten, der sein Erbe so wenig für den Sohn zu bewahren wußte. Deshalb hatte sie darauf gedrungen, daß der Junge [blue]studiert[/blue], damit er später selbst für seinen Unterhalt sorgen konnte. Doch nun mußte er auch noch für seinen Vater und dessen Schulden aufkommen.


Evelyn hatte sich verpflichtet, den Fortgang der Arbeiten und die Verwendung der Gelder genauestens zu überwachen. Herr Dankwart kannte die Zuverlässigkeit seiner Tochter und wußte somit, daß die Stadt binnen kurzem eine neue Augenweide [blue]haben wird.[/blue]

Er konnte nicht anders, er wurde von den Umständen gezwungen. Er war in der größten Verlegenheit, was er mit dem Mädchen reden sollte, aber sie mußten einen Konsens finden. Er vertraute insgeheim auf sie, auf ihre Intelligenz, auf ihr Herz. Sie hatte die entscheidende Frage gestellt, sie sollte nun auch wissen, wie es weitergehen [blue]soll.[/blue]
Ich lese diese Verquickung der Zeiten häufig und nicht nur bei Dir, aber mir geht das gegen mein Stilbewusstsein, wenn man plötzlich auf diese Art von der Vergangenheit in die Gegenwart springt, obwohl mir klar ist, dass es vom Sinn her richtig sein könnte.
Ich wollte schon lange einmal gerade dieses letztere Problem zur Diskussion stellen.

Ich grüß Dich ganz lieb
Inu
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
vielen

dank für die reaktionen.
das Böro ist mir durch die lappen gegangen. der text ist alt, hatte ihn damals mit dem system 3,11 geschrieben und mein jetziges rechtschreibprogramm weiß, was ein Böro ist, wir wissen es nicht.
das mit den zeitwechseln ist mein schlimmster fehler. beim ersten beispiel sehe ich, was falsch ist, bei den beiden anderen nicht. kannste mir bitte sagen, wie s richtig heißen muss?
ganz lieb grüßt
 

Inu

Mitglied
Hallo Flammarion

das mit den zeitwechseln ist mein schlimmster fehler. beim ersten beispiel sehe ich, was falsch ist, bei den beiden anderen nicht. kannste mir bitte sagen, wie s richtig heißen muss?
Nein, ich weiß es auch nicht wirklich, d.h. ich kenne die Regeln nicht. Mache es nach Gefühl.

Evelyn hatte sich verpflichtet, den Fortgang der Arbeiten und die Verwendung der Gelder genauestens zu überwachen. Herr Dankwart kannte die Zuverlässigkeit seiner Tochter und wußte somit, daß die Stadt binnen kurzem eine neue Augenweide haben [strike]wird[/strike]würde. ??

Er konnte nicht anders, er wurde von den Umständen gezwungen. Er war in der größten Verlegenheit, was er mit dem Mädchen reden sollte, aber sie mußten einen Konsens finden. Er vertraute insgeheim auf sie, auf ihre Intelligenz, auf ihr Herz. Sie hatte die entscheidende Frage gestellt, sie sollte nun auch wissen, wie es weitergehen [strike]soll. [/strike]sollte ( oder würde)??


Wie gesagt, ich lese diese Deine Version häufig in letzter Zeit, auch bei ganz jungen Menschen, sodass ich schon auf die Frage kam, ob das inzwischen Teil der neuen Rechtschreibregeln ist.
LG
Inu
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nee,

kann ich mir nich vorstellen, dass zeitfehler zur neuen rechtschreibung gehören. danke für die hilfestellung. hoffentlich kann ich es mir merken . . .
lg
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Flammarion, du kennst meine Abneigung gegen lange Texte im Internet. Deshalb wirst du sicher verzeihen, dass ich den Text nicht bis zum Schluss gelesen habe. Vielleicht auch ahnst du meine Abneigung gegen Kitsch. Was nicht heißt, dass Kitsch schreiben nicht auch durchaus Spaß machen kann. Dir hat der Text Spaß gemacht, das lese ich heraus.

Das ist schön triviales Zeugs. Aber ich habe Einwände: Mir ist es nicht trivial genug, ja, stellenweise habe ich den Eindruck, du machst dich über deinen eigenen Text lustig. So aber soll es nicht sein, Triviales ist tiefernst gemeint, es soll die Seele aufrütteln, zu Tränen rühren. Der Text ist mir schlicht nicht sentimental genug. Sieh dir den Text daraufhin noch mal an. Was ich nicht verstehe: Warum du die Operationsszene an den Anfang gestellt hast, warum nicht chronologisch erzählen, das ist bei Trivialem überlebenswichtig. Und dann vermisse ich die wohlproportionierten kitschigen Adjektive, die jedes Substantiv so schön aufmotzen. Noch ein Hinweis auf die Figur: Wenn eine Figur im Trivialem ein schlechter Mensch ist, so ist sie es nicht nur immer, sondern von Geburt an und auf allen Gebieten. Und da frage ich mich, wenn der Vater des Helden ursprünglich ein erfolgreicher Geschäftsmann war - wie kam er dann zum Spielen, zu seinem Lotterleben? Ein Geschäftsmann arbeitet im Trivialen grundsätzlich hart, ist edel und schlicht und sogar noch auf dem Klo humanistisch gesinnt. Eine Figur, die als erfolgreicher Geschäftsmann auftaucht, bleibt es nun mal bis zum Schluss. Viel schöner und zu Herze gehender wäre es doch, wenn der Held das Edle, Männliche und Erhabene von seiner Mutter geerbt hat, die sich wegen des Lottervaters ums Leben gebracht hat usw. Soviel zur Vaterfigur. Und das durch alle Figuren.

Du siehst, Flammarion, nichts ist so trivial, als dass man es nicht noch trivialer machen könnte. Aber ich kann zu dem vorliegenden Text nicht allzuviel sagen, denn ich habe ihn, wie oben gesagt, leider nicht ganz gelesen, nur noch den Schluss. Und dieser Schluss, Flammarion, dieser Schluss muss ein Paukenschlag sein, einer, der den Helden von den Schuhsohlen bis ins edle Herz umkrempelt, auf dass er noch edler werde als bisher, einer, der dem Leser ans Herz rührt, jetzt endlich müssen Tränen fließen, falls sie es bisher noch nicht getan haben sollten. Dass er sein zweites Töchterlein auf den Namen der Ungeliebten taufen lässt - Herrgott, das ist mir einfach zu schwach. Bereuen muss er, sich von Anne trennen, von nun an ein einsamer, verbitterter Wolf werden, der sich durchs graue Leben schleicht, oder ins Kloster gehen - dann erst sind so anspruchsvolle Leserinnen wie ich zufrieden mit der Geschichte. Die Tragödie muss eben vollkommen tragisch werden, darauf kommt es an. Ja, das musste mal gesagt werden.

Augenzwinkernd
Hanna
 

Doska

Mitglied
Hallo Hanna!
Fühle dich jetzt bitte nicht auf den Schlips getreten, aber ich finde, dass durch deine witzigen Ratschläge, dieser wunderschöne kleine Trivialroman zu einem Komik verkommen würde.
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Doska, ich schreibe nichts vor, ich mache Vorschläge. Ob der Autor sie annimmt, das liegt doch an ihm, nicht wahr? Aber es ist tatsächlich so, dass auch der Trivialroman einige durchaus einsehbare Regeln kennt, und einige habe ich Flammarion genannt. Regel Nr. 1: Perfekter Plot. Deshalb habe ich auch auf das chronologische Erzählen hingewiesen. Das ist überhaupt nicht komisch, was ich vorschlage, sondern ernst gemeint. Ich selbst sitze an einem Trivialroman schon seit längerem und habe mich mit dieser Thematik aus diesem Grunde befassen müssen (es ist gar nicht so leicht, Triviales zu schreiben, habe ich festgestellt). Flammarions Text ist demnach im Grunde kein Trivialroman, sondern ein Unterhaltungsroman mit einem Stich ins Triviale. Das ist schon ein Unterschied. Aber ich sag mir: Wennschon, dennschon. Wobei mir Flammarions Text dennoch ausgezeichnet gefällt.

Liebe Grüße
Hanna
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Flammarion, bei dir geht es nicht um die Zeiten, sondern um den berüchtigten Konjunktiv.
Es gibt Konjunktiv I und Konjunktiv II. Faustregel: Wenn ein Vorgang noch nicht abgeschlossen ist und in die Gegenwart hineinreicht = Konjunktiv I. Zum Beispiel das Hilfsverb sollen: Konjunktiv I = solle.
Die von Inu genannte Stelle müsste also heißen:
weiterginge (Konjunktiv I) oder weitergehen würde (mit Hilfsverb). Wobei dieses "würde" nur dann gebraucht werden sollte, wenn das Verb im Konjunktiv ein bisschen umständlich daherkommt, wenn man also den Eindruck hat, man spricht mit frisierter Schnauze.

Noch etwas ist beim Konjunktiv zu beachten, nämlich bei der indirekten Rede: Hier muss man nicht in jedem Fall den Konjunktiv benutzen, sondern wenn man eine Tatsache nicht anzweifelt, kann man auch den Indikativ benutzen.

Lass dir keine grauen Haare drüber wachsen, der Konjunktiv ist ein kleiner gemeiner Teufel, und es gibt wenige Leute, die ihn wirklich beherrschen. Wie Inu schon sagt: nach Gefühl.

Liebe Grüße
Hanna
 

Haarkranz

Mitglied
Hi Flammarion,

habe gelesen, grins, grins. Werde den Text einer sehr alten Dame, die ich betreue vorlesen. Deren Urgroßmutter hatte die Gartenlaube abonniert. Frau Wilhelm Kaiser, so heißt sie, sehnt sich nach der "Guten alten Zeit" mit Bart. Wird sich diebisch freuen, und sicher so etwas sagen wie: "Siehste, so war dat damals." Viel Vergnügen bei der Fortsetzung, gibt es doch hoffentlich. Haarkranz.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
boah,

so viele kommentare auf den alten schinken!
liebe hanna, es soll ein unterhaltungsroman mit einem stich ins triviale sein.
was n konjunktiv is, weiß ich nich. wir lernten das mit gegenwart, vergangenheit, zukunft. zukunft hieß futur 1 und futur 2. meine erziehungsberechtigte hatte noch veraltetere begriffe dafür, sodass ich immer zwischen dem in der schule gelernten und dem von der tante eingebleuten hin und her schwamm und völlig konfus wurde. daher bin ich für jeden konkreten hinweis sehr dankbar.
die geschichte soll nicht nur zum weinen, sondern auch zum lachen anregen und vor allen dingen halbwegs realistisch wirken, so als könne sowas heute noch passieren. daher auch der von mir gewählte schluss. und kitschig soll sie sein.
haarkranz, wenn du das der alten dame vorliest, dann freut mich das sehr. hoffentlich stößt sie sich sich nicht an den sexszenen . . .
danke, doska, fürs lesen, kommentieren und bewerten!
lg
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

üprinx - liebe hanna, die leute, die mit drogen und pornos handeln, nennen sich auch geschäftsmänner . . .
und haarkranz: ne fortsetzung jibbet janz bestimmt NICHT!!!!
lg
 
Liebe flammarion,

da ich ungern lange Texte lese, überflog ich die ersten Zeilen dieser Erzählung. Stell dir bitte vor, ich habe die ganze Geschichte in einem Rutsch durchgelesen, weil sie so anrührend und spannend war, dass ich nicht aufhören konnte.

Ich werde sie für meine alte, kranke Freundin mitnehmen und ihr vorlesen. Die wird sich riesig freuen!

Lieben Gruß,
Estrella
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
vielen

dank, liebe estrella.
ich finde es ganz toll, dass du meine geschichte weiterreichen willst.
ganz lieb grüßt
 
S

suzah

Gast
hallo flammarion,
die unerträgliche hitze ließ mich noch nicht schlafen, daher las ich deinen versuch eines trivialromans bis zum ende.
eigentlich gehört das wohl in "lange texte"?

da die bewertungen ziemlich gut sind, lohnt vielleicht eine anmeldung bei vg wort?
obwohl so eine geschichte eigentlich nicht meinem geschmack entspricht, überlege ich mir echt, ob ich mich auch mal mit ähnlichem befassen sollte.

übrigens konjunktiv gabs schon immer, ist nur etwas "aus der mode gekommen" und kaum einer beherrscht ihn noch. ich hab auch oft probleme damit und muss in einer grammatik nachlesen.

so jetzt gehe ich doch ins bett, obwohl nach dem fußballspiel immer noch geballert wird.

liebe grüße suzah
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
vielen

dank für s lesen und kommentieren, liebe suzah.
dieses tolle werk gibbet inzwischen auch illustriert, natürlich nur privat an gute freunde.
lg
 



 
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