Die Liebe einer Mutter

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Blauer Jie

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Die Liebe einer Mutter


Thomas' Frau spielte mit ihren drei Kindern auf dem Boden. Sandra war sie nur noch selten, wenn überhaupt, dann allenfalls Sandra Stalter. Sandra Rechstein, das war sie nicht. Nur auf dem Papier, nur für Thomas. Es war einmal ihr sehnlichster Wunsch gewesen, Sandra Rechstein zu werden. Thomas' Frau. Es gab Tage, da konnte sie es kaum erwarten, herauszufinden, wer das sein würde. Wie würde sie ihren Tag beginnen? Welchen Beruf würde sie ausüben? Wie sähen die Abende und Nächte mit Thomas aus? Wer würden ihre Freunde sein? Wer ist Sandra Rechstein?

Sie strich Leon durch die Haare, der ihr voller Stolz sein mit Wachsmalstiften ins Leben gerufenes Kunstwerk präsentierte. Und sprach ihm ein paar lobende Worte zu, bis er sich, davon beflügelt, gleich dem nächsten, noch leeren, Blatt Papier widmete. Antonia saß zusammen mit Marie auf dem Sitzkissen in der Ecke des Zimmers. Marie zog an der Wollmütze, die Antonia ihr gerade aufgesetzt hatte, bis ein Auge fast verdeckt war und die Mütze völlig schief auf ihrem Haupt saß. Antonia begutachtete das Resultat eine Weile prüfend, bis schließlich beide loskicherten. Sandra entspannte sich, alle Kinder waren versorgt. Glücklich und beschäftigt. Sie streckte ihre Beine aus und lehnte sich nach hinten. Sie hob den Kopf und blickte durch das große Fenster hindurch in die Ferne.

Keine zehn Jahre war es her, als sie ihr ganzes Leben noch vor sich hatte. Auf einer Party an der Uni konnte sie ihr Glück damals kaum fassen, der schönste Mann im Raum, und er sprach ausgerechnet sie an. Sie kannte jetzt, mit einigen Jahren Abstand, die Antworten auf all die Fragen, die sich Sandra Stalter über die spätere Sandra Rechstein stellte. Keine davon fiel so aus, wie sie es sich damals erträumt hatte.

Zur ersten Frage. Sandra Rechstein begann ihren Tag damit, Frühstück zu machen. Um danach, immer mit Blick auf die Uhr - Leon war ein notorischer Trödler - Antonia und Leon Anweisungen zuzurufen, während sie selbst sich um Marie kümmerte, die mit wenig mehr als zwei Jahren noch ihre ganze Aufmerksamkeit benötigte. Leise oder entspannt waren diese Morgen selten, doch Sandra sah das nicht als Nachteil an. Im Gegenteil. Thomas mied Lärm und Hektik, wo er nur konnte. Hinzu kam, dass Thomas Sandra und die Kinder mied, wo er nur konnte. Beides zusammen führte dazu, dass Thomas auffällig oft ausgiebig Zeit im Bad verbrachte. Dadurch litt offenbar sein Appetit so sehr, dass er aufgrund von Zeitmangel und Appetitlosigkeit das gemeinsame Frühstück kurzerhand ausließ und mit schnellen Schritten durch den Flur eilte, um gerade noch ein "Bis heute Abend" loszuwerden, bevor die Haustür krachend ins Schloss fiel.

Das waren die guten Tage. Die Werktage, an denen Thomas arbeitete und keinen Appetit auf Frühstück hatte. Nach dem Frühstück lieferte Sandra erst Leon in der Grundschule, anschließend Antonia und Marie im Kindergarten ab. Danach hatte und war sie frei. So frei, wie man als unter dem Strich alleinerziehende Mutter dreier kleiner Kinder sein konnte. Soviel zur Frage, welchen Beruf Sandra Rechstein ausüben würde. Sie hatte gerade ihr Grundstudium abgeschlossen, als sie mit Leon schwanger wurde. Trotz anfänglicher Bedenken ließ sie sich von Thomas damals dazu überreden, die Uni aufzugeben. Damit sie voll und ganz in ihrer Rolle als Mutter aufgehen könne, wie Thomas es formulierte. Er selbst hatte gerade sein Maschinenbaustudium erfolgreich hinter sich gebracht und auf Anhieb einen lukrativen Job ergattert. Das reiche für sie beide, betonte er immer wieder. Als ob er es war, der das Opfer brachte.

Ein gutes Jahr später, nachdem sie Leon abgestillt hatte, nutzte sie einen der seltenen Fernsehabende, an denen sie sich einmal nicht stritten, um Thomas vorzuschlagen, dass sie ja grundsätzlich ihr Studium fortsetzen könne. Jetzt, wo doch Leon aus dem Gröbsten raus sei. Thomas zuckte nur die Achseln. Einen Monat später, mit flauem Gefühl im Magen, machte ihr ein Gang zur Toilette endgültig einen blauen Strich durch ihre Rechnung. Nach Antonias Geburt stieg ihr Traum vom abgeschlossenen Studium wie ein heliumgefüllter Luftballon auf in den Himmel, wurde kleiner und kleiner, kaum noch sichtbar, bis er irgendwann lautlos als verschrumpeltes Häufchen Gummi ins Vergessen stürzte.

Stichwort Gummi. Während Sandra mit den Tagen einen stillen Frieden schloss, waren es die Nächte mit Thomas, die ihr Sorgen machten. Es waren nicht etwa schlechte Träume, die sie plagten, vielmehr war es Thomas, der sie regelmäßig heimsuchte. Er hatte eine klare Meinung zur Pille. Wer wisse schon, was das mit ihrem Körper anstelle? Also doch lieber Kondome? Damit fühle er nichts, mit Tüte könne er nicht kommen. In seinen Augen war das einziger Sinn und Zweck der ganzen Übung. Und schließlich sei er auch keine sechzehn mehr, er wisse schon, wann er den Stecker ziehen müsse. Ergo, Antonia.

Nach Antonia stellte Thomas seine nächtlichen Annäherungsversuche überraschend weitestgehend ein. Sandra hütete sich, dies zu kommentieren, eine gewisse Neugierde über seine Beweggründe verspürte sie aber dennoch. Am wahrscheinlichsten erschien ihr, dass er eine Affäre hatte. Sie wünschte es sich sogar, dass es so war. Dann würde er sicher noch weniger Zeit zu Hause verbringen. Soviel zu den Nächten mit Thomas. Blieb die Frage nach den Abenden. Der Mittelpunkt ihres sozialen Miteinanders verlagerte sich nach Antonias Geburt vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Nachdem die Kinder schliefen, saßen sie auf dem Sofa und schauten fern. Die einzige Abwechslung bestand darin, ob sie sich beim Fernsehen stritten oder sich anschwiegen. Sie arrangierten sich, indem fortan einer von beiden vorgab, müde zu sein. Nur um dann wenig später im Bett liegend vorgeben zu können, dass man bereits eingeschlafen sei, wenn der Andere sich schließlich auch schlafen legte.

Die Frage nach Sandra Rechsteins Freunden erübrigte sich mit nunmehr zwei kleinen Kindern in ihrer Obhut. Ihre Rolle als Mutter ließ ihren Freundeskreis beständig schrumpfen. Während ihre Uni-Clique auf Partys mit wechselnden Partnern und/oder Drogen experimentierte, bestand ihr größter Nervenkitzel darin, Leon und Antonia ausnahmsweise ohne Zähneputzen schlafen zu legen. Ihren Jugendfreunden, mit denen sie anfangs zu Uni-Zeiten immer noch regen Kontakt pflegte, schrieb sie immer häufiger Kurznachrichten anstatt sie anzurufen. Nach und nach versiegten die Kontakte ganz. Ihre Freunde zogen weg, machten später Karriere. Heiraten oder gar Kinder? Fehlanzeige. Sie schämte sich, wenn sie in den Gesprächen über ihre Erlebnisse als Ehefrau und Mutter befragt wurde. Einzig Marco und Anne waren verblieben. Sich zu treffen war schwierig - Thomas konnte Anne und Marco nicht ausstehen. Und für Treffen war er entweder viel zu beschäftigt oder zu müde, je nachdem, ob Wochentag oder Wochenende war. Er hatte leicht reden, schließlich hatte er keine Freunde.

Ob Thomas sich genauso oft fragte wie sie, warum keiner den logischen Schritt ging und endlich die Scheidung einreichte? Ob er dann auch immer zum gleichen Schluss kam wie sie? Sie hatten unbemerkt längst den Punkt verpasst, an dem eine Trennung noch Sinn gemacht hätte. Dafür hatten sie ausdrücklich gesorgt. Eine Trennung setzt ein Maß an Energie und den Glauben an eine bessere Zukunft voraus, derer sie sich mit Nachdruck beraubt hatten. Ob nun am Ende Thomas die Kinder ihr aufdrückte, oder sie die Kinder ihm, es spielte keine Rolle mehr. Eine Trennung - und so dachten sie sicher beide darüber - wäre ein noch viel größeres Fiasko als der brüchige Frieden ihrer Koexistenz, mit der sie sich im Stillen schon lange abgefunden hatten.

Sandras Hauptproblem waren ein fehlender Abschluss und die finanzielle Sicherheit, um mit knapp dreißig noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Zwar hatte Thomas beides, aber soviel verdiente er nun auch wieder nicht, dass er einfach so die Unterhaltszahlungen seiner Frau und seiner drei Kinder hätte problemlos stemmen können. Obwohl, technisch war es sicher machbar, dachte Sandra. Der wahre Grund, warum Thomas die Trennung scheute, war, dass er nach einer Trennung von sich aus hätte Zeit mit den Kindern verbringen müssen.

Marie brachte Sandra eine Erdbeere. "Essen, Mama." Sandras Blick kehrte zurück ins Hier und Jetzt. Sie gehorchte und verspeiste die Erdbeere, begleitet von Maries freudigem Klatschen. Sandra würde sich nie sattsehen an dem leuchtenden Funkeln in Maries Augen. Sie war so froh, dass sie drei Jahre nach Leon und Antonia noch den Mut gehabt hatte, Marie zu bekommen. Sie hatte wissen wollen, wie das war, wenn man sich das Kind tatsächlich wünschte. Sie hatte es nicht bereut.

Sie schaute erst zu Leon, dann zu Antonia. Ob sie es wussten? Dass sie Marie mehr liebte als sie? Und vor allem, warum? Marie lief zu den anderen beiden und ließ sich juchzend in Leons Arme fallen. Er fing sie auf. Vom zusätzlichen Gewicht übermannt, kippte er mit Marie nach hinten und konnte gerade noch, sich mit einer Hand abstützend, Schlimmeres verhindern. Sie rollten sich zur Seite und lagen in gegenseitiger Umarmung am Boden. Antonia nutzte dies, um auf die beiden aufzuspringen und sie ihrerseits zu umarmen. Ein Kinderknäuel rollte lachend über den Boden. Sandras Mundwinkel zitterten. Ihre Sicht verschwamm, Feuchtigkeit sammelte sich in ihren Augen. Eine kleine Träne rollte ihre Wange hinab und zerfloss an ihrer Oberlippe. War es denn wirklich so? Konnte man das so einfach sagen? Die Wahrheit war kompliziert, sicher, aber sie konnte nicht bestreiten, was sie fühlte.

Marie war ihr Wunschkind, ihre eigene Entscheidung. Leon und Antonia waren einfach passiert. Sie konnte ihnen das nicht zum Vorwurf machen und tat es auch nicht. Es änderte dennoch nichts an der Tatsache, was sie für Marie empfand. Sie fuhr sich mit ihrer Zunge über die Lippen. "Leon, holst du Mama bitte ein Taschentuch aus der Küche?", fragte sie mit einem salzigen Geschmack im Mund. Sie wischte mit ihrem Zeigefinger unter den Rändern ihrer Augen, bevor Leon sich aus der Umarmung seiner Schwester befreite. "Wieso ich? Kann das nicht Antonia machen?" "Geh schon. Mama läuft die Nase, beeil dich!" Leon seufzte, zeigte sich aber einsichtig und lief freudig schreiend Richtung Küche, was seine Schwestern dazu anspornte, ebenfalls ihre Lautstärke hochzudrehen.

Sandra kniete sich auf den Teppich, richtete ihren Oberkörper auf und rieb sich mit dem Handrücken über die Nase. War sie zu streng mit Leon? Strafte sie ihn insgeheim dafür, dass sie Thomas' Züge in ihm erkannte? Es jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken, wenn andere Mütter ihn mit Komplimenten überhäuften. Der wird mal viele Herzen brechen. Dem laufen jetzt schon alle Mädels hinterher. Was ihr eigentlich Stolz und ein kleines bisschen Schamesröte ins Gesicht hätte treiben sollen, hinterließ nur einen eisigen Stich in ihrer Magengrube. Würde er werden wie sein Vater? Sie setzte alles daran, es zu verhindern.

Antonia spürte nun, dass etwas mit ihrer Mutter nicht stimmte. Sie stand auf, half Marie ebenfalls auf die Füße und beide betrachteten Sandra unsicher aus einigen Schritten Entfernung. Sandra schaute Antonia an. Tränen quollen abermals aus ihren Augen. Sie schämte sich. Dafür, dass sie nie für Antonia, immer nur für Marie Partei ergriff, wenn sich beide um ein Kuscheltier stritten. Dass sie immer etwas mehr Geld für Maries Kleider und Spielsachen ausgab als für Antonias oder Leons. Dass Antonia und Leon sie immerzu an ihren verpassten Abschluss erinnerten, an ihr Scheitern. An Thomas.

Marie hatte ihre Tränen bemerkt und wankte mit unsicheren Schritten auf sie zu, während Antonia zögernd stehenblieb. Marie patschte mit ihrem kleinen Händchen auf Sandras Schulter. "Mama, weint." Ihr Blick wurde dabei ernster, die aufmunternden Schulterpatscher wurden nachdrücklicher. "Weint, Mama", sagte sie, halb Feststellung, halb Frage. "Ja", die Tränen liefen nun frei, "ja, mein Schatz." Marie strich unbeholfen mit ihrer Hand über Sandras Stirn, immer noch mit dem gleichen ernsten Blick. "Lieb, Mama." Sandras Lacher endete in einem leisen Schluchzen und sie umarmte Marie, drückte sie fest an sich, Maries warmer kleiner Kopf eng an ihrem Hals.

Antonia trat ein paar Schritte vor. Sie umschlang Marie von hinten mit ihren Armen und legte ihre Hände um Sandras Hinterkopf. Dabei neigte sie ihren Kopf zur Seite und legte ihre Wange auf Sandras Haare. "Lieb, Mama", flüsterte sie. Sandra konnte ihren Atem auf ihrer Kopfhaut spüren. Leon, mittlerweile in der Küche fündig geworden, war zurückgekehrt und stand im Türrahmen, sie alle betrachtend. Seine Augen strahlten und er rannte hinter Sandra, umarmte ihre Taille und presste seinen Oberkörper und seine Wange an ihren Rücken. "Lieb, Mama", nuschelte er in ihren Pullover.

Leon und Antonia konnten es nicht wissen. Dass Marie einen entscheidenden Vorteil hatte. Dass sie bei ihr nie befürchten musste, etwas von Thomas wiederzuentdecken. Marie war eine bewusste Entscheidung. Was Sandra letztlich dazu bewegte, eine Affäre mit Marco einzugehen, sie konnte es nicht mehr genau sagen. Die Gründe waren vielfältig, verzweigt, aber stets auf Thomas zurückzuführen. Sie wusste noch nicht, ob sie Marco die Wahrheit gestehen würde. Oder Thomas.

"Es tut mir leid. Ich hab euch so lieb. Es tut mir so leid." Wer also war Sandra Rechstein? Sandra mochte vielleicht Thomas' Frau sein. Aber sie war auch die Mutter von Leon, Antonia und Marie. Nur das zählte. Der Rest würde sich ergeben.
 
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Blumenberg

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Hallo Blauer Jie,

zuerst einmal willkommen im Forum. Ich habe mir deinen Text mal durchgelesen und muss gestehen, ich bin ein bisschen hin und her gerissen. Die Grundidee passt und du hast dir auch Gedanken für einen Twist am Ende gemacht. Allerdings plätschert der Text für meinen Geschmack viel zu sehr dahin und ist in einigen Passagen recht umständlich formuliert, was es schwer macht dranzubleiben. Das liegt glaube ich mit daran, dass du einzelne Passagen sehr ausführlich schilderst, wie beispielsweise der Abschnitt mit dem Frühstück. hier wird in aller Ausfürhlichkeit geschildert, wie Thomas das Frühstück umgeht usw. Was dabei viel zu kurz kommt, ist der in meinen Augen wesentliche Punkt dieser Passage: er meidet sie und die Kinder. Das wäre in meinen Augen der Punkt an dem sich ein Weitererzählen lohnte, war das immer so, hat sich da etwas geändert, was vermutet die Protagonistin, wie geht es ihr damit, usw...

Daneben bleiben die Gedanken deiner Protagonistin seltsam oberflächlich und ziemlich passiv. Sie hat ihr Studium aufgegeben, das schilderst du uns, lediglich mit der Schwangerschaft und Thomas Wunsch, aber worauf es ankommt bleibt unerwähnt. Was macht das mit der Protagonistin? Was fühlt sie dabei? Ist sie enttäuscht, will sie denn überhaupt ihr Studium beenden. Ich habe bei dem Text den Eindruck du kratzt da immer nur an der Oberfläsche, ohne tiefer in das Innenleben deiner Protagonistin einzutauchen. Das ist sehr schade, denn dadurch bleibt deine Hauptperson ziemlich blass und, ohne das böse zu meinen, ziemlich altbacken und einseitig. Wir haben es nicht mit einer Frau zu tun, sondern mit einem Heimchen am Herd, die sich einfach in diese Rolle fügt. Ihr Aufbegehren gegen das paternalistische Verhalten von Thomas ist nicht etwas der Versuch einer Selbstermächtigung und Befreiung, sondern sie bekommt, ohne Thomas wissen, ein drittes Kind mit dem Mann einer Freundin. Also selbes Verhalten, nur ein anderer Mann. Das ist doch kein spannendender Konflikt, sondern du weist deiner Protagonoistin eine Rolle zu und die behält sie einfach bei, ohne, dass es zu einem Bruch oder ähnlichem kommt.... Hier verschenkst du eine ganze Menge Potenzial, das in der Geschichte steckt. Bei Thomas ist das übrigens ähnlich, über den erfährt man als Leser auch ziemlich wenig, außer, dass er ein Arschloch mit einer Familienvorstellung von vor 50 Jahren ist. Aber warum er das ist, was ihn antreibt, bleibt ebenfalls im Dunklen, so ist er letztlich nur eine Ansammlung negativer Eigenschaften und das macht ihn nicht gerade spannend. Figuren leben von Brüchen und Widersprüchen, versuch doch mal, dass bei deinen Charakteren einzubauen. Ich bin mir sicher, dass die Geschichte dadurch gewinnen würde.

Ein weiterer Punkt (nur eine Kleinigkeit) sind die Studienpassagen, da hatte ich ein paar Probleme mit der zeitlichen Abfolge. Sie beendet ihr Grundstudium (drei Jahre), bekommt ein Kind und ein zweites und dann ziehen ihre Jugendfreunde zum Studieren weg?

Ich hoffe sehr, dass dich meine eher negative Reaktion auf den Text nicht vor den Kopf stößt und sie hört sich auch schlimmer an, als sie gemeint ist. Aus dem text kann man durchaus etwas machen.

Liebe Grüße und eine schöne Weihnachtszeit

Blumenberg
 

Blauer Jie

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Hallo Blumenberg,

vielen lieben Dank für die Kritik. So negativ fand ich das gar nicht, keine Angst :)

Dass die Figuren nur an der Oberfläche angekratzt wurden, war Absicht, weil ich es bewusst offenhalten wollte, wie Sandra dazu steht. Mit Thomas hat sie sowieso abgeschlossen, daher darf er zur Strafe auch nur indirekt reden. Meine Intention war, ein Beispiel dafür zu geben, dass Affären nicht immer automatisch das Böse sind. So wie sich die Affäre ergeben hat, hat sich der Ehealltag auch als Summe schlechter Entscheidungen ergeben, ohne großes Zutun. Mittlerweile hat sie sich mit allem arrangiert, was das mit ihr macht, ist offen.

Und trotz aller Trostlosigkeit hat sie die Kinder, aus denen sie Kraft schöpft. Sie wirft sich vor, Marie mehr zu lieben. aber die Schlussszene soll unterstreichen, dass die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern sich wenig um die äußeren Umstände und Vorzeichen kümmert, sie ist absolut.

Danke für den Hinweis mit der Studienpassage, habe ich verbessert.

Viele Grüße und einen guten Rutsch!
 

John Wein

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Hallo Blauer Jie,

Szenen einer Ehe möchte man sagen, aber es ist eigentlich viel mehr die Studie über eine Mutter, Haus und Ehefrau, Studentin oder Freundin.

Zunächst: Bei dem Titel kam ich nicht wirklich auf die Idee, was die Handlung hinter der Geschichte sein könnte. Er erschien mir negativ, ein bisschen abgegriffen. Aber ich wollte einfach mal sehen, was da wohl für ein Text drunter auftauchen würde.

Ich war überrascht! Schon der erste einführende Abschnitt hat mich gleich in die Geschichte geführt und aufmerksam gemacht. Auch den weiteren Verlauf (Reihenfolge) finde ich überzeugend und anschaulich weitergeführt und geschildert. Ich lese wohl hier deine geäderte Version.

Ein Stimmungsbild das zwischen den alltäglichen Situationen Ehe, Erziehung und Selbstreflektion hin- und herspringt Balance hält und nicht nur oberflächlich bleibt, sondern zuweilen auch in die Tiefe geht. Bei 3 Kindern bleibt ihr einfach die Rolle „Heimchen am Herd“, Glück und Drama zugleich. Es geht vielen so, früher war es die nicht hinterfragbare Regel.

Im dramatischen Schlussakkord wird das ganze Seelenleben der Protagonistin noch einmal ins Licht gerückt.

Dass du dir viel Mühe beim korrekten Abfassen gemacht hast kann man erkennen, wenn man selbst diesen Maßstab an sich legt.

Mich hat die Kurzgeschichte überzeugt

Gruß, John
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Diese Geschichte will zu viel unterbringen und das ist ihre große Schwäche!

Es wäre besser gewesen, sich auf das Thema "Mutter hat mehrere Kinder und eines davon ist ihr Lieblingskind" zu konzentrieren. Denn ab hier ist die Geschichte m.E. gut und schlüssig geschrieben. Der Leser kann sich gut in Sandra hineinversetzen. Und in ihre Liebe zu allen ihren Kindern, die sie (natürlich) hat, ohne dass es ihr immer bewusst ist.

Gerne gelesen!

Gruß DS
 

Blauer Jie

Mitglied
Hallo John, hallo Doc,

danke für das Feedback, es freut mich, dass euch die Geschichte unterhalten hat. Das liest man gerne! Und danke auch, dass ihr der Geschichte trotz des zugegeben abgegriffenen Titels eine Chance gegeben habt. Ich konnte nicht widerstehen, in der Hoffnung, dass er hier ausnahmsweise einmal passen würde.
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Blauer Jie,

Die Geschichte ist dir gelungen. Sie ist detailreich, anschaulich, sensibel erzählt, ist emotional, ohne schwülstig zu werden, hat einen eigentlich erwartbaren und doch überraschenden Schluss, der poetische Gerechtigkeit herstellt. Hier Anmerkungen zu Einzelheiten des Textes (meistens geht es um Komma- und - wenige - Rechtschreibfehler):

Statt >Thomas Frau< besser: >Thomas´ Frau<

Statt > bis er sich davon beflügelt gleich< besser: `bis er sich, davon beflügelt, gleich´

> Leise oder entspannt waren diese Morgen selten, doch Sandra sah das nicht als Nachteil an. Im Gegenteil. Thomas mied Lärm und Hektik, wo er nur konnte. < Der Übergang holpert ein wenig, der Zusammenhang könnte deutlicher formuliert werden, z.B. so: > Leise oder entspannt waren diese Morgen selten, doch Sandra sah das nicht als Nachteil an. Im Gegensatz zu ihr mied Thomas Lärm und Hektik, wo er nur konnte.

> mit schnellen Schritten durch den Flur stapfte < Die schnellen Schritte und "stapfen" passen nicht zusammen. Man stapft beispielsweise durch den Schnee, jedenfalls ist das keine schnelle Gangart. Besser wäre: > mit schnellen Schritten durch den Flur hastete/eilte/rannte/stolperte<

> Sie hatte gerade ihr Grundstudium abgeschlossen, als sie mit Leon schwanger wurde. Trotz anfänglicher Bedenken ließ sie sich von Thomas damals dazu überreden, ihr Studium aufzugeben. < Hier würde ich angeben, was sie studierte (z.B. hatte gerade ihr Germanistik-Grundstudium abgeschlossen) und statt der Wiederholung von "Studium" lieber schreiben: >dazu überreden, die Uni/Hochschule aufzugeben<

Statt > Thomas zuckte nur mit den Achseln. < genügt > Thomas zuckte nur die Achseln. < Der Ausdruck mit den Achseln zucken ist eine verbreitete sprachliche Unsitte. Man sagt achselzuckend und nicht mit den Achseln zuckend. Ebenso unschön ist Er nickte mit dem Kopf. Ja womit denn sonst? In diesem Fall reicht Er nickte.

Statt > mit flauem Gefühl in ihrem Magen< besser >mit flauem Gefühl im Magen< Du musst nicht extra erwähnen, dass es ihr Magen ist und nicht der von jemand anderem; das versteht sich von selbst.

> machte ihr ein Gang zur Toilette endgültig einen blauen Strich durch ihre Rechnung< Verstehe ich nicht. Stellt sie auf der Toilette fest, dass sie blaues Blut hat und meint, dass sie als Adlige nicht studieren sollte? Oder stößt sie sich am Waschbecken und hat jetzt einen hässlichen blauen Fleck, mit dem sie sich nicht ins Unisekretariat traut? Zum Beispiel, weil das nach einem prügelnden Ehemann aussieht? Du könntest hier ruhig etwas deutlicher werden. Die Ballon-Metapher finde ich übrigens schön.

Statt >Ergo, Antonia< besser: >Ergo Antonia<

Statt >Die einzige Abwechslung bestand dabei darin,< besser: > Die einzige Abwechslung bestand darin,<

> Die Frage nach Sandra Rechsteins Freunden erübrigte sich mit nunmehr zwei kleinen Kindern in ihrer Obhut. Ihre Rolle als Mutter ließ ihren Freundeskreis beständig schrumpfen.<

Das mag bei ihr so sein, erstaunt mich allerdings: Ich kenne viele Frauen, die gerade während der Schwangerschaft und danach ihren Freundeskreis verdoppelten und verdreifachten, indem sie Freundschaften mit anderen als jungen Müttern schlossen.

Statt >Während ihre Uni-Clique auf Partys mit wechselnden Partnern und/oder Drogen experimentierten< besser: >Während ihre Uni-Clique auf Partys mit wechselnden Partnern und/oder Drogen experimentierte< oder >Während die Leute von ihrer Uni-Clique auf Partys mit wechselnden Partnern und/oder Drogen experimentierten<

Statt > Thomas konnte Anne und Marco nicht ausstehen. Und für Treffen entweder viel zu beschäftigt oder zu müde < besser: >Thomas konnte Anne und Marco nicht ausstehen. Und für Treffen war er entweder viel zu beschäftigt oder zu müde <

Statt > Zukunft voraus, deren sie sich< besser >Zukunft voraus, derer sie sich<

Statt >Ob nun am Ende Thomas die Kinder ihr aufgedrückt hatte< besser >Ob nun am Ende Thomas die Kinder ihr aufgedrückt hätte< oder >Ob nun am Ende Thomas die Kinder ihr aufdrückte<

Statt >aber soviel verdiente er nun mal auch nicht< besser: >aber so viel verdiente er nun auch wieder nicht<

Statt >Er fing sie auf, vom zusätzlichen Gewicht übermannt kippte er< besser >>Er fing sie auf. Vom zusätzlichen Gewicht übermannt, kippte er<

Statt >Thomas Züge< und >Thomas Frau< besser: >Thomas´ Züge< und >Thomas´ Frau <

Statt >Mama, weint< besser: >Mama weint<

Statt >Maries warmer, kleiner Kopf < besser: >Maries warmer kleiner Kopf<

Gruß,
Ofterdingen
 

Blauer Jie

Mitglied
Hallo Ofterdingen,

es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt. Und vielen Dank für deine Mühen, die Korrekturen und Vorschläge habe ich eingearbeitet.
 



 
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