Blauer Jie
Mitglied
Die Liebe einer Mutter
Thomas' Frau spielte mit ihren drei Kindern auf dem Boden. Sandra war sie nur noch selten, wenn überhaupt, dann allenfalls Sandra Stalter. Sandra Rechstein, das war sie nicht. Nur auf dem Papier, nur für Thomas. Es war einmal ihr sehnlichster Wunsch gewesen, Sandra Rechstein zu werden. Thomas' Frau. Es gab Tage, da konnte sie es kaum erwarten, herauszufinden, wer das sein würde. Wie würde sie ihren Tag beginnen? Welchen Beruf würde sie ausüben? Wie sähen die Abende und Nächte mit Thomas aus? Wer würden ihre Freunde sein? Wer ist Sandra Rechstein?
Sie strich Leon durch die Haare, der ihr voller Stolz sein mit Wachsmalstiften ins Leben gerufenes Kunstwerk präsentierte. Und sprach ihm ein paar lobende Worte zu, bis er sich, davon beflügelt, gleich dem nächsten, noch leeren, Blatt Papier widmete. Antonia saß zusammen mit Marie auf dem Sitzkissen in der Ecke des Zimmers. Marie zog an der Wollmütze, die Antonia ihr gerade aufgesetzt hatte, bis ein Auge fast verdeckt war und die Mütze völlig schief auf ihrem Haupt saß. Antonia begutachtete das Resultat eine Weile prüfend, bis schließlich beide loskicherten. Sandra entspannte sich, alle Kinder waren versorgt. Glücklich und beschäftigt. Sie streckte ihre Beine aus und lehnte sich nach hinten. Sie hob den Kopf und blickte durch das große Fenster hindurch in die Ferne.
Keine zehn Jahre war es her, als sie ihr ganzes Leben noch vor sich hatte. Auf einer Party an der Uni konnte sie ihr Glück damals kaum fassen, der schönste Mann im Raum, und er sprach ausgerechnet sie an. Sie kannte jetzt, mit einigen Jahren Abstand, die Antworten auf all die Fragen, die sich Sandra Stalter über die spätere Sandra Rechstein stellte. Keine davon fiel so aus, wie sie es sich damals erträumt hatte.
Zur ersten Frage. Sandra Rechstein begann ihren Tag damit, Frühstück zu machen. Um danach, immer mit Blick auf die Uhr - Leon war ein notorischer Trödler - Antonia und Leon Anweisungen zuzurufen, während sie selbst sich um Marie kümmerte, die mit wenig mehr als zwei Jahren noch ihre ganze Aufmerksamkeit benötigte. Leise oder entspannt waren diese Morgen selten, doch Sandra sah das nicht als Nachteil an. Im Gegenteil. Thomas mied Lärm und Hektik, wo er nur konnte. Hinzu kam, dass Thomas Sandra und die Kinder mied, wo er nur konnte. Beides zusammen führte dazu, dass Thomas auffällig oft ausgiebig Zeit im Bad verbrachte. Dadurch litt offenbar sein Appetit so sehr, dass er aufgrund von Zeitmangel und Appetitlosigkeit das gemeinsame Frühstück kurzerhand ausließ und mit schnellen Schritten durch den Flur eilte, um gerade noch ein "Bis heute Abend" loszuwerden, bevor die Haustür krachend ins Schloss fiel.
Das waren die guten Tage. Die Werktage, an denen Thomas arbeitete und keinen Appetit auf Frühstück hatte. Nach dem Frühstück lieferte Sandra erst Leon in der Grundschule, anschließend Antonia und Marie im Kindergarten ab. Danach hatte und war sie frei. So frei, wie man als unter dem Strich alleinerziehende Mutter dreier kleiner Kinder sein konnte. Soviel zur Frage, welchen Beruf Sandra Rechstein ausüben würde. Sie hatte gerade ihr Grundstudium abgeschlossen, als sie mit Leon schwanger wurde. Trotz anfänglicher Bedenken ließ sie sich von Thomas damals dazu überreden, die Uni aufzugeben. Damit sie voll und ganz in ihrer Rolle als Mutter aufgehen könne, wie Thomas es formulierte. Er selbst hatte gerade sein Maschinenbaustudium erfolgreich hinter sich gebracht und auf Anhieb einen lukrativen Job ergattert. Das reiche für sie beide, betonte er immer wieder. Als ob er es war, der das Opfer brachte.
Ein gutes Jahr später, nachdem sie Leon abgestillt hatte, nutzte sie einen der seltenen Fernsehabende, an denen sie sich einmal nicht stritten, um Thomas vorzuschlagen, dass sie ja grundsätzlich ihr Studium fortsetzen könne. Jetzt, wo doch Leon aus dem Gröbsten raus sei. Thomas zuckte nur die Achseln. Einen Monat später, mit flauem Gefühl im Magen, machte ihr ein Gang zur Toilette endgültig einen blauen Strich durch ihre Rechnung. Nach Antonias Geburt stieg ihr Traum vom abgeschlossenen Studium wie ein heliumgefüllter Luftballon auf in den Himmel, wurde kleiner und kleiner, kaum noch sichtbar, bis er irgendwann lautlos als verschrumpeltes Häufchen Gummi ins Vergessen stürzte.
Stichwort Gummi. Während Sandra mit den Tagen einen stillen Frieden schloss, waren es die Nächte mit Thomas, die ihr Sorgen machten. Es waren nicht etwa schlechte Träume, die sie plagten, vielmehr war es Thomas, der sie regelmäßig heimsuchte. Er hatte eine klare Meinung zur Pille. Wer wisse schon, was das mit ihrem Körper anstelle? Also doch lieber Kondome? Damit fühle er nichts, mit Tüte könne er nicht kommen. In seinen Augen war das einziger Sinn und Zweck der ganzen Übung. Und schließlich sei er auch keine sechzehn mehr, er wisse schon, wann er den Stecker ziehen müsse. Ergo, Antonia.
Nach Antonia stellte Thomas seine nächtlichen Annäherungsversuche überraschend weitestgehend ein. Sandra hütete sich, dies zu kommentieren, eine gewisse Neugierde über seine Beweggründe verspürte sie aber dennoch. Am wahrscheinlichsten erschien ihr, dass er eine Affäre hatte. Sie wünschte es sich sogar, dass es so war. Dann würde er sicher noch weniger Zeit zu Hause verbringen. Soviel zu den Nächten mit Thomas. Blieb die Frage nach den Abenden. Der Mittelpunkt ihres sozialen Miteinanders verlagerte sich nach Antonias Geburt vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Nachdem die Kinder schliefen, saßen sie auf dem Sofa und schauten fern. Die einzige Abwechslung bestand darin, ob sie sich beim Fernsehen stritten oder sich anschwiegen. Sie arrangierten sich, indem fortan einer von beiden vorgab, müde zu sein. Nur um dann wenig später im Bett liegend vorgeben zu können, dass man bereits eingeschlafen sei, wenn der Andere sich schließlich auch schlafen legte.
Die Frage nach Sandra Rechsteins Freunden erübrigte sich mit nunmehr zwei kleinen Kindern in ihrer Obhut. Ihre Rolle als Mutter ließ ihren Freundeskreis beständig schrumpfen. Während ihre Uni-Clique auf Partys mit wechselnden Partnern und/oder Drogen experimentierte, bestand ihr größter Nervenkitzel darin, Leon und Antonia ausnahmsweise ohne Zähneputzen schlafen zu legen. Ihren Jugendfreunden, mit denen sie anfangs zu Uni-Zeiten immer noch regen Kontakt pflegte, schrieb sie immer häufiger Kurznachrichten anstatt sie anzurufen. Nach und nach versiegten die Kontakte ganz. Ihre Freunde zogen weg, machten später Karriere. Heiraten oder gar Kinder? Fehlanzeige. Sie schämte sich, wenn sie in den Gesprächen über ihre Erlebnisse als Ehefrau und Mutter befragt wurde. Einzig Marco und Anne waren verblieben. Sich zu treffen war schwierig - Thomas konnte Anne und Marco nicht ausstehen. Und für Treffen war er entweder viel zu beschäftigt oder zu müde, je nachdem, ob Wochentag oder Wochenende war. Er hatte leicht reden, schließlich hatte er keine Freunde.
Ob Thomas sich genauso oft fragte wie sie, warum keiner den logischen Schritt ging und endlich die Scheidung einreichte? Ob er dann auch immer zum gleichen Schluss kam wie sie? Sie hatten unbemerkt längst den Punkt verpasst, an dem eine Trennung noch Sinn gemacht hätte. Dafür hatten sie ausdrücklich gesorgt. Eine Trennung setzt ein Maß an Energie und den Glauben an eine bessere Zukunft voraus, derer sie sich mit Nachdruck beraubt hatten. Ob nun am Ende Thomas die Kinder ihr aufdrückte, oder sie die Kinder ihm, es spielte keine Rolle mehr. Eine Trennung - und so dachten sie sicher beide darüber - wäre ein noch viel größeres Fiasko als der brüchige Frieden ihrer Koexistenz, mit der sie sich im Stillen schon lange abgefunden hatten.
Sandras Hauptproblem waren ein fehlender Abschluss und die finanzielle Sicherheit, um mit knapp dreißig noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Zwar hatte Thomas beides, aber soviel verdiente er nun auch wieder nicht, dass er einfach so die Unterhaltszahlungen seiner Frau und seiner drei Kinder hätte problemlos stemmen können. Obwohl, technisch war es sicher machbar, dachte Sandra. Der wahre Grund, warum Thomas die Trennung scheute, war, dass er nach einer Trennung von sich aus hätte Zeit mit den Kindern verbringen müssen.
Marie brachte Sandra eine Erdbeere. "Essen, Mama." Sandras Blick kehrte zurück ins Hier und Jetzt. Sie gehorchte und verspeiste die Erdbeere, begleitet von Maries freudigem Klatschen. Sandra würde sich nie sattsehen an dem leuchtenden Funkeln in Maries Augen. Sie war so froh, dass sie drei Jahre nach Leon und Antonia noch den Mut gehabt hatte, Marie zu bekommen. Sie hatte wissen wollen, wie das war, wenn man sich das Kind tatsächlich wünschte. Sie hatte es nicht bereut.
Sie schaute erst zu Leon, dann zu Antonia. Ob sie es wussten? Dass sie Marie mehr liebte als sie? Und vor allem, warum? Marie lief zu den anderen beiden und ließ sich juchzend in Leons Arme fallen. Er fing sie auf. Vom zusätzlichen Gewicht übermannt, kippte er mit Marie nach hinten und konnte gerade noch, sich mit einer Hand abstützend, Schlimmeres verhindern. Sie rollten sich zur Seite und lagen in gegenseitiger Umarmung am Boden. Antonia nutzte dies, um auf die beiden aufzuspringen und sie ihrerseits zu umarmen. Ein Kinderknäuel rollte lachend über den Boden. Sandras Mundwinkel zitterten. Ihre Sicht verschwamm, Feuchtigkeit sammelte sich in ihren Augen. Eine kleine Träne rollte ihre Wange hinab und zerfloss an ihrer Oberlippe. War es denn wirklich so? Konnte man das so einfach sagen? Die Wahrheit war kompliziert, sicher, aber sie konnte nicht bestreiten, was sie fühlte.
Marie war ihr Wunschkind, ihre eigene Entscheidung. Leon und Antonia waren einfach passiert. Sie konnte ihnen das nicht zum Vorwurf machen und tat es auch nicht. Es änderte dennoch nichts an der Tatsache, was sie für Marie empfand. Sie fuhr sich mit ihrer Zunge über die Lippen. "Leon, holst du Mama bitte ein Taschentuch aus der Küche?", fragte sie mit einem salzigen Geschmack im Mund. Sie wischte mit ihrem Zeigefinger unter den Rändern ihrer Augen, bevor Leon sich aus der Umarmung seiner Schwester befreite. "Wieso ich? Kann das nicht Antonia machen?" "Geh schon. Mama läuft die Nase, beeil dich!" Leon seufzte, zeigte sich aber einsichtig und lief freudig schreiend Richtung Küche, was seine Schwestern dazu anspornte, ebenfalls ihre Lautstärke hochzudrehen.
Sandra kniete sich auf den Teppich, richtete ihren Oberkörper auf und rieb sich mit dem Handrücken über die Nase. War sie zu streng mit Leon? Strafte sie ihn insgeheim dafür, dass sie Thomas' Züge in ihm erkannte? Es jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken, wenn andere Mütter ihn mit Komplimenten überhäuften. Der wird mal viele Herzen brechen. Dem laufen jetzt schon alle Mädels hinterher. Was ihr eigentlich Stolz und ein kleines bisschen Schamesröte ins Gesicht hätte treiben sollen, hinterließ nur einen eisigen Stich in ihrer Magengrube. Würde er werden wie sein Vater? Sie setzte alles daran, es zu verhindern.
Antonia spürte nun, dass etwas mit ihrer Mutter nicht stimmte. Sie stand auf, half Marie ebenfalls auf die Füße und beide betrachteten Sandra unsicher aus einigen Schritten Entfernung. Sandra schaute Antonia an. Tränen quollen abermals aus ihren Augen. Sie schämte sich. Dafür, dass sie nie für Antonia, immer nur für Marie Partei ergriff, wenn sich beide um ein Kuscheltier stritten. Dass sie immer etwas mehr Geld für Maries Kleider und Spielsachen ausgab als für Antonias oder Leons. Dass Antonia und Leon sie immerzu an ihren verpassten Abschluss erinnerten, an ihr Scheitern. An Thomas.
Marie hatte ihre Tränen bemerkt und wankte mit unsicheren Schritten auf sie zu, während Antonia zögernd stehenblieb. Marie patschte mit ihrem kleinen Händchen auf Sandras Schulter. "Mama, weint." Ihr Blick wurde dabei ernster, die aufmunternden Schulterpatscher wurden nachdrücklicher. "Weint, Mama", sagte sie, halb Feststellung, halb Frage. "Ja", die Tränen liefen nun frei, "ja, mein Schatz." Marie strich unbeholfen mit ihrer Hand über Sandras Stirn, immer noch mit dem gleichen ernsten Blick. "Lieb, Mama." Sandras Lacher endete in einem leisen Schluchzen und sie umarmte Marie, drückte sie fest an sich, Maries warmer kleiner Kopf eng an ihrem Hals.
Antonia trat ein paar Schritte vor. Sie umschlang Marie von hinten mit ihren Armen und legte ihre Hände um Sandras Hinterkopf. Dabei neigte sie ihren Kopf zur Seite und legte ihre Wange auf Sandras Haare. "Lieb, Mama", flüsterte sie. Sandra konnte ihren Atem auf ihrer Kopfhaut spüren. Leon, mittlerweile in der Küche fündig geworden, war zurückgekehrt und stand im Türrahmen, sie alle betrachtend. Seine Augen strahlten und er rannte hinter Sandra, umarmte ihre Taille und presste seinen Oberkörper und seine Wange an ihren Rücken. "Lieb, Mama", nuschelte er in ihren Pullover.
Leon und Antonia konnten es nicht wissen. Dass Marie einen entscheidenden Vorteil hatte. Dass sie bei ihr nie befürchten musste, etwas von Thomas wiederzuentdecken. Marie war eine bewusste Entscheidung. Was Sandra letztlich dazu bewegte, eine Affäre mit Marco einzugehen, sie konnte es nicht mehr genau sagen. Die Gründe waren vielfältig, verzweigt, aber stets auf Thomas zurückzuführen. Sie wusste noch nicht, ob sie Marco die Wahrheit gestehen würde. Oder Thomas.
"Es tut mir leid. Ich hab euch so lieb. Es tut mir so leid." Wer also war Sandra Rechstein? Sandra mochte vielleicht Thomas' Frau sein. Aber sie war auch die Mutter von Leon, Antonia und Marie. Nur das zählte. Der Rest würde sich ergeben.
Thomas' Frau spielte mit ihren drei Kindern auf dem Boden. Sandra war sie nur noch selten, wenn überhaupt, dann allenfalls Sandra Stalter. Sandra Rechstein, das war sie nicht. Nur auf dem Papier, nur für Thomas. Es war einmal ihr sehnlichster Wunsch gewesen, Sandra Rechstein zu werden. Thomas' Frau. Es gab Tage, da konnte sie es kaum erwarten, herauszufinden, wer das sein würde. Wie würde sie ihren Tag beginnen? Welchen Beruf würde sie ausüben? Wie sähen die Abende und Nächte mit Thomas aus? Wer würden ihre Freunde sein? Wer ist Sandra Rechstein?
Sie strich Leon durch die Haare, der ihr voller Stolz sein mit Wachsmalstiften ins Leben gerufenes Kunstwerk präsentierte. Und sprach ihm ein paar lobende Worte zu, bis er sich, davon beflügelt, gleich dem nächsten, noch leeren, Blatt Papier widmete. Antonia saß zusammen mit Marie auf dem Sitzkissen in der Ecke des Zimmers. Marie zog an der Wollmütze, die Antonia ihr gerade aufgesetzt hatte, bis ein Auge fast verdeckt war und die Mütze völlig schief auf ihrem Haupt saß. Antonia begutachtete das Resultat eine Weile prüfend, bis schließlich beide loskicherten. Sandra entspannte sich, alle Kinder waren versorgt. Glücklich und beschäftigt. Sie streckte ihre Beine aus und lehnte sich nach hinten. Sie hob den Kopf und blickte durch das große Fenster hindurch in die Ferne.
Keine zehn Jahre war es her, als sie ihr ganzes Leben noch vor sich hatte. Auf einer Party an der Uni konnte sie ihr Glück damals kaum fassen, der schönste Mann im Raum, und er sprach ausgerechnet sie an. Sie kannte jetzt, mit einigen Jahren Abstand, die Antworten auf all die Fragen, die sich Sandra Stalter über die spätere Sandra Rechstein stellte. Keine davon fiel so aus, wie sie es sich damals erträumt hatte.
Zur ersten Frage. Sandra Rechstein begann ihren Tag damit, Frühstück zu machen. Um danach, immer mit Blick auf die Uhr - Leon war ein notorischer Trödler - Antonia und Leon Anweisungen zuzurufen, während sie selbst sich um Marie kümmerte, die mit wenig mehr als zwei Jahren noch ihre ganze Aufmerksamkeit benötigte. Leise oder entspannt waren diese Morgen selten, doch Sandra sah das nicht als Nachteil an. Im Gegenteil. Thomas mied Lärm und Hektik, wo er nur konnte. Hinzu kam, dass Thomas Sandra und die Kinder mied, wo er nur konnte. Beides zusammen führte dazu, dass Thomas auffällig oft ausgiebig Zeit im Bad verbrachte. Dadurch litt offenbar sein Appetit so sehr, dass er aufgrund von Zeitmangel und Appetitlosigkeit das gemeinsame Frühstück kurzerhand ausließ und mit schnellen Schritten durch den Flur eilte, um gerade noch ein "Bis heute Abend" loszuwerden, bevor die Haustür krachend ins Schloss fiel.
Das waren die guten Tage. Die Werktage, an denen Thomas arbeitete und keinen Appetit auf Frühstück hatte. Nach dem Frühstück lieferte Sandra erst Leon in der Grundschule, anschließend Antonia und Marie im Kindergarten ab. Danach hatte und war sie frei. So frei, wie man als unter dem Strich alleinerziehende Mutter dreier kleiner Kinder sein konnte. Soviel zur Frage, welchen Beruf Sandra Rechstein ausüben würde. Sie hatte gerade ihr Grundstudium abgeschlossen, als sie mit Leon schwanger wurde. Trotz anfänglicher Bedenken ließ sie sich von Thomas damals dazu überreden, die Uni aufzugeben. Damit sie voll und ganz in ihrer Rolle als Mutter aufgehen könne, wie Thomas es formulierte. Er selbst hatte gerade sein Maschinenbaustudium erfolgreich hinter sich gebracht und auf Anhieb einen lukrativen Job ergattert. Das reiche für sie beide, betonte er immer wieder. Als ob er es war, der das Opfer brachte.
Ein gutes Jahr später, nachdem sie Leon abgestillt hatte, nutzte sie einen der seltenen Fernsehabende, an denen sie sich einmal nicht stritten, um Thomas vorzuschlagen, dass sie ja grundsätzlich ihr Studium fortsetzen könne. Jetzt, wo doch Leon aus dem Gröbsten raus sei. Thomas zuckte nur die Achseln. Einen Monat später, mit flauem Gefühl im Magen, machte ihr ein Gang zur Toilette endgültig einen blauen Strich durch ihre Rechnung. Nach Antonias Geburt stieg ihr Traum vom abgeschlossenen Studium wie ein heliumgefüllter Luftballon auf in den Himmel, wurde kleiner und kleiner, kaum noch sichtbar, bis er irgendwann lautlos als verschrumpeltes Häufchen Gummi ins Vergessen stürzte.
Stichwort Gummi. Während Sandra mit den Tagen einen stillen Frieden schloss, waren es die Nächte mit Thomas, die ihr Sorgen machten. Es waren nicht etwa schlechte Träume, die sie plagten, vielmehr war es Thomas, der sie regelmäßig heimsuchte. Er hatte eine klare Meinung zur Pille. Wer wisse schon, was das mit ihrem Körper anstelle? Also doch lieber Kondome? Damit fühle er nichts, mit Tüte könne er nicht kommen. In seinen Augen war das einziger Sinn und Zweck der ganzen Übung. Und schließlich sei er auch keine sechzehn mehr, er wisse schon, wann er den Stecker ziehen müsse. Ergo, Antonia.
Nach Antonia stellte Thomas seine nächtlichen Annäherungsversuche überraschend weitestgehend ein. Sandra hütete sich, dies zu kommentieren, eine gewisse Neugierde über seine Beweggründe verspürte sie aber dennoch. Am wahrscheinlichsten erschien ihr, dass er eine Affäre hatte. Sie wünschte es sich sogar, dass es so war. Dann würde er sicher noch weniger Zeit zu Hause verbringen. Soviel zu den Nächten mit Thomas. Blieb die Frage nach den Abenden. Der Mittelpunkt ihres sozialen Miteinanders verlagerte sich nach Antonias Geburt vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Nachdem die Kinder schliefen, saßen sie auf dem Sofa und schauten fern. Die einzige Abwechslung bestand darin, ob sie sich beim Fernsehen stritten oder sich anschwiegen. Sie arrangierten sich, indem fortan einer von beiden vorgab, müde zu sein. Nur um dann wenig später im Bett liegend vorgeben zu können, dass man bereits eingeschlafen sei, wenn der Andere sich schließlich auch schlafen legte.
Die Frage nach Sandra Rechsteins Freunden erübrigte sich mit nunmehr zwei kleinen Kindern in ihrer Obhut. Ihre Rolle als Mutter ließ ihren Freundeskreis beständig schrumpfen. Während ihre Uni-Clique auf Partys mit wechselnden Partnern und/oder Drogen experimentierte, bestand ihr größter Nervenkitzel darin, Leon und Antonia ausnahmsweise ohne Zähneputzen schlafen zu legen. Ihren Jugendfreunden, mit denen sie anfangs zu Uni-Zeiten immer noch regen Kontakt pflegte, schrieb sie immer häufiger Kurznachrichten anstatt sie anzurufen. Nach und nach versiegten die Kontakte ganz. Ihre Freunde zogen weg, machten später Karriere. Heiraten oder gar Kinder? Fehlanzeige. Sie schämte sich, wenn sie in den Gesprächen über ihre Erlebnisse als Ehefrau und Mutter befragt wurde. Einzig Marco und Anne waren verblieben. Sich zu treffen war schwierig - Thomas konnte Anne und Marco nicht ausstehen. Und für Treffen war er entweder viel zu beschäftigt oder zu müde, je nachdem, ob Wochentag oder Wochenende war. Er hatte leicht reden, schließlich hatte er keine Freunde.
Ob Thomas sich genauso oft fragte wie sie, warum keiner den logischen Schritt ging und endlich die Scheidung einreichte? Ob er dann auch immer zum gleichen Schluss kam wie sie? Sie hatten unbemerkt längst den Punkt verpasst, an dem eine Trennung noch Sinn gemacht hätte. Dafür hatten sie ausdrücklich gesorgt. Eine Trennung setzt ein Maß an Energie und den Glauben an eine bessere Zukunft voraus, derer sie sich mit Nachdruck beraubt hatten. Ob nun am Ende Thomas die Kinder ihr aufdrückte, oder sie die Kinder ihm, es spielte keine Rolle mehr. Eine Trennung - und so dachten sie sicher beide darüber - wäre ein noch viel größeres Fiasko als der brüchige Frieden ihrer Koexistenz, mit der sie sich im Stillen schon lange abgefunden hatten.
Sandras Hauptproblem waren ein fehlender Abschluss und die finanzielle Sicherheit, um mit knapp dreißig noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Zwar hatte Thomas beides, aber soviel verdiente er nun auch wieder nicht, dass er einfach so die Unterhaltszahlungen seiner Frau und seiner drei Kinder hätte problemlos stemmen können. Obwohl, technisch war es sicher machbar, dachte Sandra. Der wahre Grund, warum Thomas die Trennung scheute, war, dass er nach einer Trennung von sich aus hätte Zeit mit den Kindern verbringen müssen.
Marie brachte Sandra eine Erdbeere. "Essen, Mama." Sandras Blick kehrte zurück ins Hier und Jetzt. Sie gehorchte und verspeiste die Erdbeere, begleitet von Maries freudigem Klatschen. Sandra würde sich nie sattsehen an dem leuchtenden Funkeln in Maries Augen. Sie war so froh, dass sie drei Jahre nach Leon und Antonia noch den Mut gehabt hatte, Marie zu bekommen. Sie hatte wissen wollen, wie das war, wenn man sich das Kind tatsächlich wünschte. Sie hatte es nicht bereut.
Sie schaute erst zu Leon, dann zu Antonia. Ob sie es wussten? Dass sie Marie mehr liebte als sie? Und vor allem, warum? Marie lief zu den anderen beiden und ließ sich juchzend in Leons Arme fallen. Er fing sie auf. Vom zusätzlichen Gewicht übermannt, kippte er mit Marie nach hinten und konnte gerade noch, sich mit einer Hand abstützend, Schlimmeres verhindern. Sie rollten sich zur Seite und lagen in gegenseitiger Umarmung am Boden. Antonia nutzte dies, um auf die beiden aufzuspringen und sie ihrerseits zu umarmen. Ein Kinderknäuel rollte lachend über den Boden. Sandras Mundwinkel zitterten. Ihre Sicht verschwamm, Feuchtigkeit sammelte sich in ihren Augen. Eine kleine Träne rollte ihre Wange hinab und zerfloss an ihrer Oberlippe. War es denn wirklich so? Konnte man das so einfach sagen? Die Wahrheit war kompliziert, sicher, aber sie konnte nicht bestreiten, was sie fühlte.
Marie war ihr Wunschkind, ihre eigene Entscheidung. Leon und Antonia waren einfach passiert. Sie konnte ihnen das nicht zum Vorwurf machen und tat es auch nicht. Es änderte dennoch nichts an der Tatsache, was sie für Marie empfand. Sie fuhr sich mit ihrer Zunge über die Lippen. "Leon, holst du Mama bitte ein Taschentuch aus der Küche?", fragte sie mit einem salzigen Geschmack im Mund. Sie wischte mit ihrem Zeigefinger unter den Rändern ihrer Augen, bevor Leon sich aus der Umarmung seiner Schwester befreite. "Wieso ich? Kann das nicht Antonia machen?" "Geh schon. Mama läuft die Nase, beeil dich!" Leon seufzte, zeigte sich aber einsichtig und lief freudig schreiend Richtung Küche, was seine Schwestern dazu anspornte, ebenfalls ihre Lautstärke hochzudrehen.
Sandra kniete sich auf den Teppich, richtete ihren Oberkörper auf und rieb sich mit dem Handrücken über die Nase. War sie zu streng mit Leon? Strafte sie ihn insgeheim dafür, dass sie Thomas' Züge in ihm erkannte? Es jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken, wenn andere Mütter ihn mit Komplimenten überhäuften. Der wird mal viele Herzen brechen. Dem laufen jetzt schon alle Mädels hinterher. Was ihr eigentlich Stolz und ein kleines bisschen Schamesröte ins Gesicht hätte treiben sollen, hinterließ nur einen eisigen Stich in ihrer Magengrube. Würde er werden wie sein Vater? Sie setzte alles daran, es zu verhindern.
Antonia spürte nun, dass etwas mit ihrer Mutter nicht stimmte. Sie stand auf, half Marie ebenfalls auf die Füße und beide betrachteten Sandra unsicher aus einigen Schritten Entfernung. Sandra schaute Antonia an. Tränen quollen abermals aus ihren Augen. Sie schämte sich. Dafür, dass sie nie für Antonia, immer nur für Marie Partei ergriff, wenn sich beide um ein Kuscheltier stritten. Dass sie immer etwas mehr Geld für Maries Kleider und Spielsachen ausgab als für Antonias oder Leons. Dass Antonia und Leon sie immerzu an ihren verpassten Abschluss erinnerten, an ihr Scheitern. An Thomas.
Marie hatte ihre Tränen bemerkt und wankte mit unsicheren Schritten auf sie zu, während Antonia zögernd stehenblieb. Marie patschte mit ihrem kleinen Händchen auf Sandras Schulter. "Mama, weint." Ihr Blick wurde dabei ernster, die aufmunternden Schulterpatscher wurden nachdrücklicher. "Weint, Mama", sagte sie, halb Feststellung, halb Frage. "Ja", die Tränen liefen nun frei, "ja, mein Schatz." Marie strich unbeholfen mit ihrer Hand über Sandras Stirn, immer noch mit dem gleichen ernsten Blick. "Lieb, Mama." Sandras Lacher endete in einem leisen Schluchzen und sie umarmte Marie, drückte sie fest an sich, Maries warmer kleiner Kopf eng an ihrem Hals.
Antonia trat ein paar Schritte vor. Sie umschlang Marie von hinten mit ihren Armen und legte ihre Hände um Sandras Hinterkopf. Dabei neigte sie ihren Kopf zur Seite und legte ihre Wange auf Sandras Haare. "Lieb, Mama", flüsterte sie. Sandra konnte ihren Atem auf ihrer Kopfhaut spüren. Leon, mittlerweile in der Küche fündig geworden, war zurückgekehrt und stand im Türrahmen, sie alle betrachtend. Seine Augen strahlten und er rannte hinter Sandra, umarmte ihre Taille und presste seinen Oberkörper und seine Wange an ihren Rücken. "Lieb, Mama", nuschelte er in ihren Pullover.
Leon und Antonia konnten es nicht wissen. Dass Marie einen entscheidenden Vorteil hatte. Dass sie bei ihr nie befürchten musste, etwas von Thomas wiederzuentdecken. Marie war eine bewusste Entscheidung. Was Sandra letztlich dazu bewegte, eine Affäre mit Marco einzugehen, sie konnte es nicht mehr genau sagen. Die Gründe waren vielfältig, verzweigt, aber stets auf Thomas zurückzuführen. Sie wusste noch nicht, ob sie Marco die Wahrheit gestehen würde. Oder Thomas.
"Es tut mir leid. Ich hab euch so lieb. Es tut mir so leid." Wer also war Sandra Rechstein? Sandra mochte vielleicht Thomas' Frau sein. Aber sie war auch die Mutter von Leon, Antonia und Marie. Nur das zählte. Der Rest würde sich ergeben.
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