Die Liebeserklärung eines Mörders

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ArneSjoeberg

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Es war das Jahr 2030. Die Aprilsonne brannte vom Himmel, dass der schwarze Asphalt vor dem Terminal Blasen warf. Doch am Horizont zogen dunkle Wolkenbänke herauf, Blitze wetterleuchteten zwischen ihnen und es sah ganz danach aus, als würde sich bald ein Gewitter entladen.
Vor einigen Jahren hatte die Firma NordicSF den alten Feldflugplatz Schwerin-Parchim von den Chinesen gekauft, und ihn zu einem Cargoterminal ausgebaut. Neben den vielen Frachtflugzeugen der Firma landeten auch wenigstens ein oder zwei Passagiermaschinen täglich. Die Landung einer solchen stand bevor, einige Zollbeamte marschierten zu ihren Arbeitsplätzen, Empfangskomitees brachten ihre Namensschilder in Stellung und Lautsprecherdurchsagen in Deutsch, Englisch und Arabisch brandeten durch die große Halle. Die typische Geräuschkulisse eines Airports.
Hoch aufgerichtet, den Rücken durchgedrückt, mit Blicken um sich werfend, als gehörte ihm alles hier, schritt Andreas Mettler nahezu majestätisch durch die Abfertigungshalle des Flughafens. Sein Arbeitstag war zu Ende, doch er hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Jedem Entgegenkommenden blickte er so lange starr in die Augen, bis der ihm auswich und er weiterschreiten konnte, als sei der Weg zum Ausgang eine nur für ihn freigemachte Start- und Landebahn.
Am Revers seines maßgeschneiderten, in NordicSF-Blau gehaltenen Flanellanzugs prangte ein Abzeichen mit einem stilisierten Bundesadler, der eine Wahlurne in seinen Krallen hielt. Was jedem signalisierte, dass Mettler zu den elf Prozent der Deutschen gehörte, die im letzten Jahr zur Bundestagswahl gegangen waren, brav ihr Kreuzchen gemacht und eine dicke Prämie dafür eingestrichen hatten. Nicht, dass er das Geld wirklich gebraucht hätte. Sein Karrierepfad zielte in Richtung Ministerium und dafür war eine blitzsaubere Personalakte wichtiger als das Bankkonto. Es wusste, dass es sich da von ganz alleinefüllen würde, wenn er nur bewies, was er für ein treuer Staatsbürger war.
Er hätte ein schöner Mann sein können mit seiner breiten Brust und den blonden, in perfekten Locken bis in den Nacken fallenden Haaren, deren goldenem Glanz er so viel Pflege widmete, dass jede Frau hätte neidisch werden können. Aber die Natur hatte ihm auch gemein blickende eng beieinanderliegende Augen gegeben und sein protziger Bürostuhl, aus dem er seinen dicken Hintern nur selten hochbekam, hatte zu seinem Leidwesen für teigige Wangen darunter gesorgt. Das Leid war jedoch wiederum nicht groß genug, als dass es ihn hätte mehr als zu der notwendigsten Bewegung animieren können. Fitnessstudios, Laufen und überhaupt jede Art von nicht notwendiger körperlicher Bewegung waren ihm verhasst, ebenso wie diejenigen, die solchen Leibesertüchtigungen nachgingen. Die einzige Ausnahme, die er sich von dieser Gewohnheit gestattete, war die Bewegung, die ihm Lady Christine seit ein paar Monaten verordnete. Einmal in der Woche, kriechend, auf seinen Knien. Heute war dieser Tag.
Unweit der großen Türen für die Passagiere und ihr Gepäck und mitten auf Mettlers eingebildeter Landebahn lehnte ein Mann mit auffallend breiten Schultern an einem der Pfeiler aus Stahl und Titan, die das Deckengewölbe trugen. Sein Name war Svensson. Er hatte kurz geschnittene Haare, die wie das silbergraue Fell eines alten Grizzlybären in dem Licht schimmerten, das durch die Glaskuppel der Halle hereinfiel. Er hatte kein schönes, dafür ein um so männlicheres Gesicht und der harte Ausdruck darin war meilenweit entfernt von Mettlers aufgedunsener Blasiertheit. Svensson trug eine dunkelbraune Lederjacke, die aussah, als wäre sie schon vor dreißig Jahren abgetragen gewesen, eine schwarze Five-Pocket-Jeans, die schon an einigen Stellen hell wurde und braune Sneakers aus Wildleder mit flachen Sohlen. Er hatte die Arme vor der Brust gekreuzt, die Augen geschlossen und sein viereckiges Gesicht mit dem markanten Kinn wirkte, als schliefe er im Stehen.
Schlagartig verfinsterte sich Mettlers Miene. Er blieb stehen, blickte sich um und suchte sich dann einen Platz neben einem Stand für Reisebedarf, der ihm gestattete, Svensson zu beobachten, ohne, wie er glaubte, von dem gesehen zu werden. Mettler wusste nicht viel mehr über ihn, als das, was in seiner Personalakte stand, aber das Wenige reichte ihm, um Svensson nicht nur nicht zu mögen, sondern geradezu zu hassen. Nach der Akte hatte Svensson in den letzten zehn Jahren zwölf Jobs bei irgendwelchen Sicherheitsdiensten gehabt, jeden davon hatte er selbst gekündigt, was ihn für Mettler nicht gerade zu einem Ausbund von Zuverlässigkeit machte. Seit einem halben Jahr bezog Svensson sein Gehalt von NordicSF für das Herumstehen in Mettlers Flughafen und der Suche nach Taschendieben. Seine Erfolgsquote war noch mieser als die seiner Vorgänger und Mettler wusste ganz genau, warum: Svensson sah zwar aus, als würde er rostige Eisenstangen zum Frühstück essen, doch in Wirklichkeit war er ein versoffenes Weichei und machte mit diesen Kleinkriminellen gemeinsame Sache.

Svensson schlief nicht. Er dachte über die Zeit nach. Man sagte, sie heilte alle Wunden. Doch was, wenn die Wunde die Zeit selbst war? Die Vergangene, die Gegenwärtige und auch die Zukünftige? Vom Ursprung allen Seins bis zu dessen Ende rann sie dahin, Umkehr, ja selbst ein Innehalten war von der Natur nicht vorgesehen. Was in der Vergangenheit lag, war unwiederbringlich verloren, Wiedergutmachung unmöglich, Rache machte die Toten nicht wieder lebendig, von einer erloschenen Liebe blieb nur noch Asche und Vergebung existierte nur für die, die an einen Gott über sich glaubten oder sich selbst dafür hielten. Svensson glaubte nicht an Gott und an die Menschen schon lange nicht mehr.
Ein Mann in einer verblichenen Cordhose und einer schwarz-weiß karierten Schirmmütze hinkte durch die Drehtür. Sein Name war Schmidtke und die zerknautschte Form seiner Kopfbedeckung stammte von den vielen Behördengängen, während derer er sie als Bittsteller voller Unbehagen und Verlegenheit in seinen kraftlosen Händen gedreht hatte. Er war Invalide, verhungerte auf Raten und versuchte doch verzweifelt, zwei heranwachsende Töchter durchzubringen.
Die Schwingtüren an der Zoll- und Passkontrolle spuckten Passagiere mit Trolleys und Taschen aus. Der Mann hinkte in diese Richtung und wie von Geisterhand gelenkt, bewegte sich kurz darauf ein großer Koffer hinter einer Wasserstoffblondine, die heftig auf einen Mann einredete und ihrem Gepäck den Rücken zugedreht hatte. Es dauerte einen Moment, bis sie mitbekam, wie ihr Koffer in Richtung Ausgang rollte. Ihr Kreischen übertönte den Lärm in der Halle, der Mann neben ihr setzte einen Spurt an und der ungerufene Gepäckträger ließ den Koffer fahren. So schnell er konnte, hinkte er zum Ausgang.
Svensson fuhr seinen Arm aus, Schmidtke zappelte in seinem Griff wie ein Lachs in den Pranken eines Bären und der brummte: „Hör auf, dich abzustrampeln, sonst tust du dir noch weh.“ Er stellte seinen Fang auf den Boden. „Was sollte denn das werden?“
Schmidtke nahm die Schirmmütze ab und knetete sie mit den Händen. „Ich ... ich wollte ihnen nur bei ihrem großen Koffer helfen und mir ein Trinkgeld verdienen.“
„Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man seine Kunden erst fragt, bevor man mit ihrem Koffer abhaut. Hast du da gerade in der Gepäckträgerausbildung gefehlt? Schwirr ab, und wenn ich dich noch einmal hier sehe, wanderst du wirklich in den Bau. Letzte Warnung.“
„Du lässt mich gehen, Svensson?“ Schmidtkes Augen wurden groß wie Autoscheinwerfer. Er trampelte von einem Fuß auf den anderen und bearbeitete weiter seine Mütze mit feuchten Händen.
„Wenn du noch lange fragst, überleg ich es mir vielleicht anders!“
Svensson ließ ihn los, Schmidtke stolperte davon, blickte sich einmal zu viel um – vielleicht wollte er sicher sein, dass Svensson ihm nicht folgte – und rannte gegen einen Kofferwagen. Er rappelte sich wieder auf, ignorierte das Geschimpfe des Gepäckbesitzers und machte sich aus dem Staub.
Kopfschüttelnd schaute Svensson dem Invaliden nach. Vor Jahren hatte NordicSF begonnen, sich in Mecklenburg-Vorpommern breit zu machen, und pumpte seitdem zweistellige Millionensummen in die Entwicklung der Infrastruktur. Zuerst waren die Arbeitssuchenden in Massen hierher geströmt, dann waren andere große Firmen gekommen und zum Schluss die Banken. Kriminalität, Prostitution und Armut hatten nicht lange auf sich warten lassen. Das ganze Land schwamm in dem Geld, das NordicSF hier verdiente, und trotzdem fristeten viele solcher Leute wie Schmidtke nur mit Mühe ihr Dasein. Für Leute wie ihn hatte es früher ein soziales Netz gegeben, doch es war ausgeraubt worden von Beamten und Politikern. Leuten, die nie in ihrem Leben wirklich gearbeitet und so nie auch nur einen Cent hineingetan hatten. Man hatte es einfach so lange verharmlost und verheimlicht, bis es unrettbar zusammengebrochen war.
„Das war ja sehr aufschlussreich!“ Mettler baute sich vor Svensson auf, stützte die Hände in die Hüften und schnarrte: „Wenn alle meine Angestellten ihre Arbeit so machen würden wie ein gewisser Herr Svensson, wäre dieser Flughafen ein Hort der ausufernden Kleinkriminalität und die berechtigte Ursache für niemals endende Beschwerden und Klagen bestohlener Reisender.“
Svensson tat nicht einmal überrascht. „Haben Sie lange üben müssen an dem Satz?“
„Lange genug, um Ihnen den zusammen mit ihrem zweiten Verweis in den Rachen stopfen zu können. Zivilstreife heißt nicht, dass Sie sich auch wie der Pöbel benehmen sollen und vergessen, auf welcher Seite Sie stehen. Und den Satz musste ich lernen, als Sie bei mir angefangen haben.“
„Schmidtke kann von seiner Invalidenrente nicht leben. Was sollen seine Töchter tun, wenn er sich nicht mehr um sie kümmern kann?“
„Das ist nicht mein Problem. Es ist seines. Auf meinem Flughafen ist kein Platz für Verlierer.“
„Ihr Flughafen?“ Aus Svensson Stimme troff Spott.
„Jawohl! Mein Flughafen!“
Boshaftigkeit im Gesicht, griff Mettler zu seinem Handy. Als auf der Gegenseite abgenommen wurde, raunzte er: „Rauhut, machen Sie mir die Akte Schmidtke fertig. Eine Kopie der Videosequenz, wie er den Koffer stehlen wollte, kommt noch dazu. Dann geht das Ganze an die Staatsanwaltschaft in Schwerin. Er ist Wiederholungstäter und wird für eine Weile aus dem Verkehr gezogen. Und für Svensson einen Verweis in seine Akte wegen Nichterfüllung seiner Dienstpflichten.“
Er ließ das Handy wieder verschwinden, steckte die Hände in die Taschen seiner Anzughose und wippte auf den Fußsohlen hin und her. „Ihre Mitleidsanwandlungen - wenn es das war und nichts Schlimmeres, zum Beispiel Komplizenschaft – machen sie zu einem Dinosaurier in unserer optimierten Gesellschaft, zu einer Belastung unserer Solidargemeinschaft und ich hoffe, dass sie bald das tun wird, was ich nicht darf: Sie ausstoßen.“
Lauernd sah er Svensson an. Der reagierte nicht und Mettler stieß nach: „Tun Sie nicht so, als wüssten Sie nicht, was ich meine!“
„Den Schnee von letzte Weihnachten?“
Mettler hörte auf, zu wippen und machte mit vor Wut zitternden Wangen einen drohenden Schritt nach vorn. „Wer hält seine Hand über Sie? Die Firma hat allein hier in Schwerin mehr als zehntausend Angestellte, von denen Sie das kleinste Licht sind. Das Allerkleinste! Aber jedes Mal, wenn ich sie feuern will, stellt sich die Personalabteilung quer und wenn ich nachfrage, bekomme ich ausweichende Antworten. Bei wem haben Sie so weit oben einen Stein im Brett?“
Svensson kreuzte wieder die Arme vor der Brust, lehnte sich mit dem Rücken an den Pfeiler, und ließ seine Lider auf halb zwölf sinken. Ein paar Passagiere verfolgten den Auftritt und auch Mannwald und Hacker, zwei Gepäckarbeiter, hatten es sich auf ihrem Weg in den Feierabend nicht nehmen lassen, Mettlers Auftritt zu lauschen.
„Gucken Sie nicht so dämlich! Gehen Sie weiter!“, fauchte er die beiden Männer an, warf Svensson noch einen bitterbösen Blick zu und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang. Draußen krachte der erste Donner.

Das Gewitter war längst vorbei, als der Learjet mit Ryland Mikkelsen an Bord landete. Ein schwarzer SUV parkte vor dem Hangar. Als das Flugzeug ausrollte, stieg ein kräftiger Mann in einem sportlich geschnittenen schwarzen Anzug aus, öffnete die Tür des Fonds und postierte sich daneben, die auffallend beharrten Hände vor dem Körper gekreuzt.
Die Gangway entfaltete sich, zwei weitere Leibwächter erschienen nacheinander in der Luke, warfen einen prüfenden Blick in die Runde, dann gingen sie hinunter und stellten sich links und rechts der Gangway auf. Es dauerte ein paar Minuten, bis Ryland ihnen folgte. Auf der Treppe verhielt er.
„Marianna?“, rief er laut genug, dass es in der Pilotenkanzel zu hören war.
Die Copilotin Marianna Raikkaanen legte das Bordbuch zur Seite, stand auf und ging zur Luke. „Ja?“
„Soll ich Sie nach Hause fahren lassen?“
Sie warf einen Blick schräg nach oben auf die Fenster des ‚Krähennestes‘, dem Flughafenbistro, einhundert Meter weiter. Jemand saß da am Fenster und blickte hinaus.
Sie sagte: „Danke Ryland. Ich fahre mit dem Taxi.“
Die Zeitspanne zwischen Frage und Antwort mochte nur einen Wimpernschlag lang gewesen sein. Ryland war es trotzdem nicht entgangen und auch nicht ihr Blick. Er schaute ebenfalls zum Bistro und brummte: „Svensson, hm? Sie haben etwas Besseres verdient.“
Wortlos sah sie ihn an und die Frage in ihren Augen war überdeutlich. Er zuckte die Schultern. „Ich weiß gerne, mit wem mein Personal Umgang hat. Ganz besonders dann, wenn es weiblich und attraktiv ist. Ich bin nur um deine Sicherheit besorgt.“
„Um meine oder um deine?“
Er antworte nicht auf ihre Frage. Das tat Mikkelsen nie. Sie war unverheiratet und hatte keinen festen Freund. Jeden, der sich mit ihr anfreundete, sah er als potentielles Sicherheitsrisiko für sich und ließ ihn überprüfen. Immerhin vertraute er ihr über den Wolken sein Leben an.
Sie wartete, bis der Leibwächter hinter ihm die Tür des Wagens geschlossen hatte und achtete darauf, dass ihr Gesicht nichts weiter als kühle Sachlichkeit zeigte und nicht das Schmunzeln, dass sich gerne darauf breitgemacht hätte. Die Affären des kleinen großen Ryland Mikkelsen waren sprichwörtlich und es verging kein halbes Jahr, in dem nicht eine neue Skandalgeschichte von ihm und seinen Vorstellungen von sexuellem Stressabbau die Runde machte. Einiges davon hatte sie selbst mitbekommen, weil er auch nicht davor zurückscheute, jemanden zu einem Rundflug über Deutschland einzuladen. Er war nie verheiratet gewesen und hatte eine Vorliebe für Frauen, die ihn um mindestens zwei Köpfe überragten. Was die Welt über seine Exzesse dachte, interessierte ihn nicht. Musste es auch nicht, denn wenn er einmal nieste, stand die Schweriner Prominenz Schlange, um ihm ein Taschentuch zu reichen.
Sie warf noch einen Blick hinauf zu den Fenstern des Krähennests und ging wieder ins Cockpit.
Die Pilotin grinste sie an. „Irgendwann musst du mir mal erklären, wieso die rechte Hand Gottes dir anbietet, dich nach Hause fahren zu lassen, und keinen seiner berühmten Wutanfälle bekommt, wenn du ihn zu so etwas wie einer Entschuldigung zwingst, weil er dir nachgeschnüffelt hat. Und wenn wir schon dabei sind, warum du immer noch nur meine Copilotin bist, obwohl du bei jedem Test die maximale Punktzahl holst, und trotzdem nicht mal eine Fahrerlaubnis hast. Du schläfst doch nicht etwa mit ihm?“
Marianna ließ sich in ihren Sitz fallen. „Dreimal jede Nacht, Samstag fünfmal und Ostern spielen wir Eiersuchen. Möchtest du Details?“
Die Pilotin starrte sie mit offenem Mund an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus und Marianna machte sich über ihre Checklisten her.
In Ruhe brachte sie ihre Arbeit zu Ende und verabschiedete sich eine halbe Stunde später am Ausgang von der Pilotin. Sie hielt ihren RFID-Chip an den Scanner neben dem Aufzug zum Krähennest und seine Tür öffnete sich mit einem leisen Zischen. Sie trat ein und betrachte sich im Spiegel an der Rückwand. Die Frau darin war groß gewachsen, für Mariannas Geschmack ein wenig zu kräftig gebaut und mit ein paar Falten zu viel um die Augen. Der seidige Glanz ihres schwarzen Haares, das sie zu einem langen Pferdeschwanz geflochten hatte, gefiel ihr und das blaue Strahlen in ihren Augen ebenfalls. Es konnte gut sein, dass es in den letzten Minuten ein wenig intensiver geworden war.
Alles in allem sah sie für ihre fünfundvierzig Jahre und für das, was sie erlebt hatte, noch ganz passabel aus, fand sie. Kein Model für den Laufsteg mehr, auch keine wirkliche Schönheit, aber doch mit dem gewissen Hauch Attraktivität, der auf Lebenserfahrung beruht und wenigstens Interesse wecken konnte. Männer drehten sich auf der Straße gewöhnlich nicht nach ihr um und auf die, die es doch taten, konnte sie gut verzichten.
Mit einem geschickten Handgriff rückte sie das orangene Schiffchen auf ihrem Kopf zurecht, so dass es noch ein wenig kecker wirkte, und warf den Pferdeschwanz über ihre linke Schulter. Gerade rechtzeitig genug drehte sie sich wieder zur Tür, um nicht mit dem Rücken zu ihr zu stehen, als sie sich im Krähennest wieder öffnete.
Das Bistro war nicht allzugroß, bot gerade einmal zwanzig Sitzplätze und ein paar Stehplätze an einem kleinen Tresen. Es war direkt unter die Hallenkuppel gesetzt worden und bot aus seinen großen Fenstern sowohl einen Blick auf das Innere der Abfertigungshalle, als auch auf das von Blitzen erleuchtete Rollfeld, das gerade vom nächsten Wolkenbruch geflutet wurde.
Svensson war der einzige Gast. Er saß an seinem Lieblingsplatz, den Tresen rechts von ihm, mit der Wand im Rücken und links das Fenster. Von hier aus hatte er einen Überblick über den Flugplatz und das ganze Bistro. Gleichmütig beobachtete er das Toben der Naturgewalten draußen. Sein Dienst endete gewöhnlich, wenn der letzte Passagier des Tages das Flughafengelände verlassen hatte. Das war heute gegen sieben der Fall gewesen. Jetzt war es kurz nach zehn am Abend. Es war das dritte Mal, dass sie sich zu ihm an den Tisch setzte und er war nie wirklich unfreundlich zu ihr gewesen, auch wenn er auf jeden anderen mehr als zugeknöpft, ja sogar abweisend wirkte. Sie wusste, dass er einfach so war, und dass er sich am wohlsten fühlte, wenn er alleine mit seinen Gedanken war. Die sie gerade störte. Wieder einmal. Die Schöne und das Biest, dachte sie.
Sie überflog mit einem Blick die kleine Buchungsanzeige an der elektronischen Kasse, ließ sich zwei Flaschen Bier geben, und ging zu ihm herüber.
Höflich stand er auf, als sie an seinen Tisch trat. „Guten Abend.“
Nicht einmal Interesse glomm in seinen Augen auf. Es waren zwei dunkle Teiche, die ihr nichts verrieten.
„Hattest du jemand anderen erwartet?“, fragte sie.
„Ich erwarte nie jemand.“
Es war nicht Antwort, die sie gerne gehört hätte, nur die, die sie erwartet hatte. Scheinbar leichthin sagte sie: „Dann kannst du auch nicht enttäuscht werden. Vielleicht sollte ich mir das auch mal angewöhnen. Darf ich?“
„Natürlich.“
Er wartete, bis sie Platz genommen hatte, dann setzte er sich ebenfalls. Sie schob ihm das Bier hinüber – es war sein zehntes, sie hatte es an der Anzeige an der Bar gesehen - öffnete ihres, sagte „Prost“, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund.
So schnell wie einer der Blitze draußen war ein winziges Zucken um seine Mundwinkel, dann verkniff er sie wieder. Doch er sagte nichts und sie pikste ihn ein wenig: „Hattest du ein langstieliges Glas mit perlendem Champagner in meinen nicht sonderlich zarten Händen erwartet? Ich habe einen Zwölfstundenflug hinter mir. Irgendwo am Ende meiner Beine habe ich zwei gefühllose Betonklötze und ich bin hundemüde. Da ist ein Bier das Zweitbeste, was mir jetzt passieren kann.“
Er fragte nicht, was das Beste war, von dem sie glaubte, dass es ihr passieren konnte. Er fragte nie. Vor drei Wochen hatte sie sich zum ersten Mal nach ihrer Landung zu ihm an den Tisch gesetzt und daraus war so etwas wie eine Routine geworden. Jedes Mal, wenn sie nach einem Flug gelandet war, hatte sie ihn hier aufgesucht. Er hätte blind und gefühllos sein müssen, um nicht zu ahnen, warum sie ihn hier immer wieder besuchte. Sie wusste, dass er es nicht war.
„Du siehst aus, als könntest du eine Seelenmassage gebrauchen. Oder hast du dich wieder einmal mit Mettler angelegt“, fragte sie.
Bedächtig antwortete er: „Wir funktionieren nur im Rahmen unserer genetischen Parameter, Blut, Muskeln, Knochen, Sehnen. Selbst das Herz ist nichts weiter als ein besonders leistungsfähiger Muskel. Die Seele gehört nicht dazu. Ich denke nicht einmal, dass es sie gibt.“
„Und der Mond ist aus grünem Käse.“
Er griff nach seinem Bier und trank es in einem Zug aus. Es war etwas Hastiges, fast Wütendes in seiner Bewegung. Dann sah er sie an, lange, prüfend, als suchte er etwas in ihrem Gesicht.
„Was ist?“ Sie blickte ihn fragend an. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“
„Nein.“ Er stand auf und holte sich ein neues Bier. „Der Mond ist aus hartem, tödlich kaltem Stein und jeder, der etwas anderes behauptet, ist ein hoffnungsloser Romantiker. Trifft auch auf die Seele zu.“
„Das ist sie bestimmt nicht. Hart und kalt meine ich. Meine ...“ Schmunzelnd drohte sie ihm mit dem Zeigefinger. „Wenigstens gestehst du mir eine zu. Dankeschön. Was wäre, wenn die Psychodoktoren recht hätten? Wenn sie das wäre, was uns ausmacht? Alles, was wir je erlebt haben, jeden Gedanken, den wir jemals gedacht haben, jede Entscheidung, die wir getroffen haben, einfach jede Erinnerung? Als elektrische Impulse im Gehirn, gespeichert auf einer biologischen Festplatte. Stell dir vor, man könnte sie kopieren. Dann könnte man sie speichern und dann auch wieder jemandem übertragen und schon wäre er der, dessen Erinnerungen er bekommen hat.“
„Dein Flug muss ziemlich anstrengend gewesen sein.“ Er trommelte leise mit den Fingern auf die Tischplatte. „Aber ich tu mal so, als würde ich das ernst nehmen. Dann stellt sich allerdings die Frage, wie du diesen elektrischen Strom massieren willst.“
Sie gab ihrer Stimme einen rauchigen Klang: „Meinst du, da fiele mir nichts ein?“
„Du bist eine Frau. Frauen fallen viele Dinge ein.“
„Wohl war. Indem ich dir Aufmerksamkeit schenke und dir zuhöre? Dir zeige, dass du wichtig bist? Dich ernst nehme? Natürlich brauchst du das alles nicht, du bist ein großer, starker Mann und funktionierst nur im Rahmen deiner genetischen Parameter.“ Sie feixte mit kleinen, perlweißen Zähnen. „Warum, hattest du gesagt, bist du fast jeden Abend hier und fährst nicht nach der Arbeit gleich nach Hause? Du hast doch nicht etwa Angst vor der Einsamkeit, oder?“
„Eigentlich wollte ich in Ruhe ein Feierabendbier trinken und keine Sitzung bei einer Psychotherapeutin.“
Sie beugte sich näher zu ihm. „Nein, wolltest du nicht. Das hättest du nämlich auch zu Hause tun können, ungestört von mir. Sag mir, dass ich Unrecht habe.“
„Hast du.“
„Dann erklär es mir.“
„Vielleicht später. Gibt es etwas Neues bei den Herren des Flugplatzes?“
Sie hatte nicht nur Brüste, hinter denen ein großes Herz schlug, sondern auch einen Kopf zum Denken mit einem scharfen Verstand. Sie lachte. „Das heißt dann wohl: nie. Stattdessen Small Talk? Du? Entweder hast du Angst, dass ich dir zu nahe kommen könnte oder du bist mal wieder mit Mettler zusammengeprallt. Lebt er noch?“
Er erwiderte nichts und es war auch eine Antwort. Sie seufzte. „Schon verstanden. Aber auch wenn ich wie das geschwätzige Blondchen mit schwarzen Haaren aussehe ...“ Sie strich sich mit beiden Händen über ihren Zopf und klimperte mit den Wimpern, „muss ich mich doch an die Regeln halten. Also keine Betriebsgeheimnisse. Aber dass Mikkelsen die Basisstation in der Antarktis erweitern lässt, kann ich dir sagen.“
„Ich habe nur mitbekommen, dass sie jede Menge Ersatzteile und Ausrüstung für ihre Hubschrauber nach Kapstadt geflogen haben.“
Sie nickte. „Ja, und von da in die Antarktis. Man munkelt, dass sie eine unbekannte Strahlung aufgefangen haben. Sein Bruder ist auch da. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass Stephan Mikkelsen den Nordic-Tower in Oslo verlassen hat.“
„Da muss noch mehr sein. Die Sicherheitsleute von NordicSF sind auf einmal wie zugeknöpft und benehmen sich, als wären wir normalen Angestellten Verbrecher. Die ganze Bande von Mettler scheint eine miese Kindheit gehabt zu haben. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht irgendwann in meinem Leben auch mal einen ganz normalen Menschen treffen kann.“
„Jeden Tag stehst du unten in der Halle. Jeden Abend sitzt du hier und schaust auf die landenden und startenden Maschinen. Ich weiß nicht, warum du das tust, aber ich weiß, dass nicht nur einer von den vielen tausend Menschen, denen du in den letzten Monaten in die Augen geblickt hast, ‚normal‘ gewesen ist.“
„Aber ...“ Sie holte deutlich sichtbar Luft. „Wir sehen immer nur das, was wir sehen wollen.“ Sie legte ihm ihre Hand auf den Arm. „Und ich frage mich so langsam, ob du ihn überhaupt erkennen würdest, wenn er dir gegenübersitzt.“
Seine Kiefermuskeln spielten unter der Haut seiner Wangen, und seine braunen Augen glitzerten hart. Er schaute auf ihre Hand auf seinem Arm. Die Ränder der schmalen Nägel waren perfekte weiße Halbkreise und die Hitze ihrer Haut strahlte durch den Stoff seines Hemds hindurch.
Zögernd nahm sie die Hand weg. Dumpf sagte er: „Ich tue niemandem gut, Marianna.“
„Woher willst du das wissen?“
„Erfahrung. Und ich werde nicht zulassen, dass du sie wiederholen musst. Kein Vertun.“
Liebe, Vertrautheit, Geselligkeit, Freundschaft – er konnte nicht wissen, was es war, dass sie an seinen Tisch getrieben hatte und trotzdem versperrte er ihr die Tür, hängte ein Schloss davor und sagte ihr, dass er ihr nicht den Schlüssel geben würde.
„Tja dann ...“ Sie griff nach der Bierflasche, ließ sie wieder los, spielte mit ihrem Zopf und warf ihn sich über die rechte Schulter. Als sie schließlich antwortete, war nichts weiter als kühle Selbstbeherrschung in ihrem Gesicht. „Dann werde ich mich wohl besser auf den Weg nach Hause machen.“ Sie stand auf. „Ich bin nicht gut in Schlusssätzen. Also einfach gute Nacht.“
Er erhob sich ebenfalls. „Ich muss ohnehin bis zur Hegelstraße mit dem Taxi fahren. Von da nehme ich dann die Straßenbahn. Zusammen?“
Sie hatte schon die Hand ausgestreckt, um sich zu verabschieden. Jetzt schüttelte sie den Kopf, sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Hast du überhaupt verstanden, warum ich zu dir gekommen bin? Was ich dir sagen wollte? Was du mir eben gesagt hast?“
„Ist das ein Nein?“
„Du ... du ...“ Sie suchte nach Worten. „Du kaltschnäuziger, verbohrter ... du ... du Betonwand!“
„Also ja.“ Er griff nach seiner Lederjacke und warf sie sich über die Schulter. „Gehen wir.“

An der Hegelstraße ließ er das Taxi halten. Hier war der Dreesch, ein Stadtteil, der im Schweriner Volksmund „Klein Moskau“ genannt wurde. Der Name stammte noch aus der Zeit vor der Wende, in der die Offiziere der sowjetischen Garnison hier gewohnt hatten. In ihrer Muttersprache hatten sie sechs verschiedene Möglichkeiten, das deutsche „s“ auszusprechen und sie maßen den Wodka nicht in Zentilitern, sondern in „Sto Gramm“ - wobei sich das nicht wirklich gut miteinander vertrug: Ihre Art, Wodka zu trinken und das Sprechen. Viele von ihnen waren geblieben, weil es ihnen die Stadt angetan hatte. Schwerin war ein Kleinod und die Menschen, die hier lebten, etwas Besonderes mit ihrer unaufdringlichen Freundlichkeit. Wer auch nur einen Tag in der alten Innenstadt verbrachte, verfiel ihrem Zauber, und das lag nicht nur an dem Schloss inmitten des Schweriner Sees oder dem wirklich einmaligen Schlosspark. Wenn alles Leben aus dem Wasser stammte, dann musste seine Wiege irgendwo in einem der sieben Seen in und um Schwerin gewesen sein.
Sie hätte auch mit dem Taxi weiter nach Hause fahren können. Aber als er sie gefragt hatte, hatte sie nur stumm den Kopf geschüttelt.
Die gelb-blaue Straßenbahn rollte in die Haltestelle. Sie nahmen den hinteren Waggon und suchten sich im mittleren Bereich einen Platz mit gegenüberliegenden Sitzen. Die Bahn fuhr an und das nächtliche Schwerin schien an den Fenstern vorbeizufliegen. Malerische Alleen wechselten sich ab mit kleinen Seen; renovierten Plattenbauten mit Fassadenmalereien inmitten von erleuchteten Grünanlagen und liebevoll restaurierten Häusern, die mehr als dreihundert Jahre auf ihren bemoosten Dächern schleppten.
Er blickte hinaus und in seinem Gesicht war eine seltsame Mischung aus Faszination und Träumerei. Sie fragte: „Was fasziniert dich da draußen?“
„Ein Mann muss wissen, wo er hingehört. Er muss festen Boden unter den Füßen haben. Das hier ist meine Heimat. S‘ hat lange gedauert, bis ich das verstanden habe.“ Er lächelte, tatsächlich tat er das und auch wenn er sofort wieder seinen gleichmütigen Gesichtsausdruck auflegte, war es für sie wie ein Sonnenstrahl am Abend nach einem viel zu langen Regen gewesen.
Am Marienplatz stiegen zwei Männer und ein junges Mädchen zu. Ihr achtzehnter Geburtstag lag noch ein ganzes Stück in der Zukunft, die Männer waren um die Zwanzig. Sie trugen löchrige Jeans und Turnschuhe, das Mädchen Hot-Pants, eine anthrazitfarbene Strumpfhose mit Laufmaschen und ein rotes Blouson aus Fallschirmseide um die schmalen Schultern. Sie setzten sich auf den Viererplatz neben Svensson und Marianna auf der anderen Seite des Ganges.
Einer der Männer grinste anzüglich und betatschte die kleinen Brüste des Mädchens neben sich. „Eh! Du brauchst doch deine Titten nicht vor uns verstecken.“
„Lass das Alex!“ Sie drückte seine Hände weg und zog den Reißverschluss ihres Blousons nach oben.
Er griff in seine Jackentasche, holte eine Flasche hervor, schraubte den Deckel ab, nahm selbst einen Schluck und hielt sie dann dem Mädchen hin.
„Hier, trink nen Schluck. Macht dich locker, weißt?“
„Lass mich in Ruhe!“, wiederholte sie, doch es klang, als meinte sie das Gegenteil. Sie spielte ein Spiel, für das sie noch nicht alt genug war und er grapschte nach ihrem Knie. Auch da schob sie seine Hand weg.
Sie fing sich eine Kopfnuss ein. „Hab‘ dich nicht so zickig!“
„Schlag mich noch mal und ich sag es Kevin!“
„Na und? Bloß weil du meinen kleinen Bruder rangelassen hast, wird er sich deinetwegen nicht mit mir anlegen. Trink!“
„Ich will nicht.“
Mit der flachen Hand schlug er ihr ins Gesicht. Nicht hart, nicht so, dass es wirklich weh getan hatte. Es war nur eine freundliche Ermahnung gewesen, gefälligst nett zu ihm zu sein.
„Lass die Finger von ihr“, knurrte Svensson hinüber.
Alex blaffte: „Was willst du denn, Opa? Bist geil auf meine Kleine, oder was? Lass ma lieber, kriegst bloß auf die Fresse, weißt?“ Er stieß seinen Kumpel an. „Die Nutte frisst ihn die ganze Zeit mit den Augen auf und er kriegt es nicht mit. Ich wette, die is quaddernass da unten, weißt?“
Beide brüllten los vor Lachen. Alex griff wieder nach der Flasche und drückte sie dem Mädchen an den Mund. „Trink!“
Sie nahm einen winzigen Schluck, dann drehte sie den Kopf zur Seite. Pure Bosheit in den Augen, stellte Alex die Flasche auf den Boden, packte das Mädchen mit einer Hand im Nacken, und zog er ihr mit der anderen Hand den Reißverschluss ihres Blousons auf.
Svenssons Nackenwirbel knackten, als er den Kopf von links nach rechts bewegte. Laut genug, dass es die beiden Männer auf den gegenüberliegenden Sitzen in der fast lautlos dahingleitenden Straßenbahn hörten.
„Bleib mal entspannt, Alter. Sie mag das.“ Alex steckte eine Hand in die Tasche.
„Kann sein“, brummte Christian. „Aber ich nicht.“
Alex fuhr vom Sitz hoch. In seiner rechten Hand blitzte ein Messer auf. Er zischte: „Willst wirklich Ärger, Alter?“
„Will er nicht.“ Hart stellte Marianna ihren Schuhabsatz auf Svenssons Fuß. „Deswegen habe ich eben die Notrufnummer gewählt. Wenn ich du wäre, würde ich an der nächsten Station verschwinden, falls du nicht willst, dass man das Zeug, nachdem du so süßlich riechst, bei dir findet.“
„Was bist du denn für eine Drecksnutte?“ Alex starrte sie mit offenem Mund an, dann schaute er zu seinen Kumpel hinüber. „Lass ihn“, meinte der. „Die Oma hat nich alle Latten am Zaun. Lass uns verschwinden.“
„Wir sehen uns wieder. Wichser!“ Alex fuchtelte vor Svenssons Augen mit dem Messer herum. Dann ging er mit den anderen zur nächsten Tür. „Arschloch“ zischte das Mädchen im Vorbeigehen Svensson ins Gesicht, dann kuschelte sie sich an Alex.
Als sich die Türen mit leisem Zischen wieder schlossen und sie alleine im Wagen waren, stellte Marianna fest: „Du hattest einen schlechten Tag.“
„Ich hatte schon Schlechtere“, erwiderte er.
„Und dann kletterst du auf den Nordic-Tower und trommelst dir auf die Brust?“
„Ich bin nicht King Kong.“
„Nein. Das wohl nicht. Nur sein Zorn lebt in dir weiter.“
„Es gab keinen Grund, dass du dich einmischst.“
„Diese Diskussion mit dir würde ich mir gerne sparen wollen.“ Marianna steckte ihr Handy wieder in die Tasche. „Du hattest einen schlechten Tag, ich einen Abend, den ich mir anders vorgestellt hatte und ich werde mich ganz bestimmt nicht noch mit dir darüber streiten, wie sehr ich von dir beschützt werden muss.“
Die nächsten drei Stationen sprach sie kein Wort mehr. Die letzte Station vor der Endhaltestelle wurde angekündigt und sie erhob sich. „Danke für den Abend. Bleib ruhig sitzen. Ich habe nur eine Minute bis nach Hause. Du bist meinetwegen schon drei Stationen zu weit gefahren. Und mach dir keine Gedanken. Ich wusste vorher, wie es ausgehen würde. Aber ich musste es wenigstens versuchen.“ Sie beugte sich herab und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Im Ausstieg schaute sie ihn noch einmal an. Er sagte: „Hätte Gott das Angesicht der Menschen nach dem geformt, was du Seele nennst, wäre die Erde ein Tummelplatz von Engeln, aber auch von viel mehr Monstern, als du glaubst, Marianna. Komm gut nach Hause.“
Sie wandte sich ab. Es lagen nur zwei Meter zwischen ihnen, doch ihr war, als wäre es die halbe Erde.

Dann ging sie und er hörte ihre Absätze auf den Steinen des Gehwegs trommeln, bis die Türen sich wieder schlossen.
Er blickte aus dem regennassen Fenster, und die Schwärze der Nacht dahinter zeigte sein Spiegelbild, einen desillusionierten Mittfünfziger, mit einem Dreitagebart, der nur schlecht die letzte kosmetische Gesichtsoperation verbarg und mit viel Müdigkeit in den Augen. Einer Müdigkeit, die nicht von zu wenig Schlaf herrührte.
Wasser glänzte auf im Schein von Straßenlaternen, die Bahn fuhr am Ufer des Lankower Sees entlang, und er erinnerte sich, dass er zumindest eine Geliebte hatte, für die er nicht gefährlich war. Sie hatte Augen wie Marianna, blau mit ein wenig Grün darin, kristallklar und tief und das gleich siebenfach.
Ihr Name war „Schwerin“.
 
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